Ein vergessener, genialischer Wurf

Jens Rehns "Nichts in Sicht" in einer verdienstvollen Neuausgabe

Von Gunther NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunther Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer der ersten Titel, die der 1954 gegründete Luchterhand Literaturverlag herausbrachte, war Jens Rehns Roman "Nichts in Sicht". Obwohl das Buch ausgezeichnete Kritiken erhielt und unter anderem von Siegfried Lenz und Martin Walser in höchsten Tönen gepriesen wurde, hat der Autor sich nie richtig durchsetzen können. Als er 1983 starb, eröffnete Marcel Reich-Ranicki seinen Nachruf zu Recht mit der Frage: "Wer war Jens Rehn?" Liest man dessen Erstling jetzt, fast fünfzig Jahren nach seinem Erscheinen, wieder, erscheint dieses Schicksal ausgesprochen ungerecht. Dieser alte Text wirkt nämlich nicht im geringsten verstaubt, sondern lässt viele Ergüsse hochgehandelter Jungautoren vergleichsweise blass und farblos erscheinen.

"Nichts in Sicht" handelt vom Schicksal eines deutschen U-Boot-Matrosen und eines amerikanischen Piloten, die am Ende des Zweiten Weltkrieges in einem Schlauchboot im Atlantik treiben. Der Amerikaner stirbt am dritten Tag an einer Blutvergiftung nach einer selbst durchgeführten Armamputation, der Deutsche verdurstet eine Woche später. Kein schönes Sujet, zugegeben. Aber in einer Zeit, in der kaum ein Tag vergeht, in der in den Nachrichten nicht von Kriegen, Kriegsfolgen oder Attentaten die Rede ist, scheint es doch geboten, sich das konkrete Leiden von Opfern menschlichen Gewalttätigkeit einmal so nachdrücklich vor Augen zu führen, wie Jens Rehns es ohne jede Spur von Larmoyanz getan hat: "Wenn ein Arm nicht mehr vom Körper ernährt werden kann, löst sich die Haut ab. Er fängt an zu suppen und wird sülzig und farbig. Es ist ratsam, bald zu operieren. Da die großen Blutgefäße sich beim Schuss zusammengezogen haben, ist nicht mit Blutungen zu rechnen. Der zerfaserte, zackige Knochenstumpf sticht aus der Wunde heraus: ein glatter Schuss-Bruch. Es ist ziemlich einfach: mit einem Zirkularschnitt werden die restlichen Muskeln durchtrennt, dann ist der Arm schon ab. Der Stumpf wird mit der einen Hälfte des Unterhemdes verbunden. Er eitert natürlich weiter. Die Muskelreste verfärben sich ebenfalls, vorherrschend grau und grün. Die Schmerzen sind zeitweilig stark. Die Lymphdrüsen röten sich und werden groß wie Hühnereier. Rasanter Puls und Schüttelfröste, verkürzter Atem und trockene Zunge. So geht es weiter. Da ist kaum etwas zu machen."

Gottfried Benn, der sich 1912 in seinem Gedichtband "Morgue" als ähnlich unterkühlter und mit Worten sezierender Beobachter menschlicher Gebrechlichkeit zeigte, lobte Rehns Debüt bei seinem Erscheinen als einen genialischen Wurf. "Wir wollen", schrieb er damals, "diesen Seiten lange nachsinnen." Daß man ihnen nun überhaupt wieder nachsinnen kann, ist das große Verdienst des Schöffling Verlags, der immer wieder einmal zu Unrecht vergessene Autoren ausgräbt und dem man aber für das Wagnis einer Neuausgabe von "Nichts in Sicht" ganz besonders dankbar sein muss.

Rehn schrieb in den 1950er Jahren mit "Feuer im Schnee" (1956) und "Die Kinder des Saturns" (1959; als Heyne-Taschenbuch lieferbar) noch zwei weitere Romane, in denen er in präziser und dichter Diktion menschliche Ausnahmesituationen beschrieb. Zu diesem Stil kehrte er mit dem 1978 veröffentlichten Roman "Die weiße Sphinx" nach wenig geglückten Ausflügen ins humoristische Genre zurück, ohne jedoch mit einem dieser Bücher an den Erfolg seines 1956 mit dem "Preis der jungen Generation des Berliner Kunstpreises" ausgezeichneten Debüts anknüpfen zu können.

Titelbild

Jens Rehn: Nichts in Sicht. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
162 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3895611476

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch