Querschnittsgelähmt

Stephan Kulle schildert, wie er wieder auf die Beine kam

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Vorstellung, dass sich jemand über seinen ersten eigenen Rollstuhl freut, klingt makaber. Aber bei Stephan Kulle war es so: Durch einen Unfall im Juli 1991 wurde sein Rückenmark im Halswirbelbereich so stark verletzt, dass er, wie es schien, für immer ein Pflegefall sein würde: "Ich konnte nun deutlich den Riss in meinem Körper spüren - und den Riss in meinem Leben, in meinem Glück."

Vom Unfall bis zur Diagnose, von der Diagnose bis zur Operation im September 1991 ging viel wertvolle Zeit verloren. Erst nach dem komplizierten und risikoreichen Eingriff stand die Diagnose fest: inkomplette Querschnittslähmung zwischen dem vierten und siebten Halswirbel. Und das Wörtchen "inkomplett" war das kleine Hoffnungszeichen zur Wende.

Wenn die Wirbelsäule als "ein Hauptorgan der Gestaltung und Bewegung des ganzen Körpers" (Brockhaus) so stark lädiert wird, dass Nervenbahnen gequetscht oder unterbrochen werden, dann reagiert der Körper mit einem "spinalen Schock", einer Art Koma des Rückenmarks: "Das Nervengewebe schwillt an, manchmal kommt es zu Einblutungen, und meist bilden sich Vernarbungsgebiete an der Verletzungsstelle aus." Sind die Schwellungen abgeklungen, können sich jene Abschnitte der Nervenbahnen erholen, die nicht verletzt worden sind. Das Problem ist jetzt das Gehirn: Nicht selten hat es auch diese Nervenbahnen abgeschrieben, denn obgleich sie intakt sind, waren sie - vielleicht über Wochen und Monate - nicht mehr gefordert, nicht mehr in Gebrauch. Die "Befehlsarmut" vom Gehirn her, das lange Liegen, der spinale Schock - all das führt dazu, dass ein fataler "Verlerneffekt" eintritt, der die Behandlungsaussichten des Patienten drastisch verschlechtert.

Ziel aller Maßnahmen muss es daher sein, das Gehirn so zu aktivieren, dass es die vorhandenen Kapazitäten wieder nutzt. Und der kulturelle Auftrag eines Stephan Kulle ist es, uns zu demonstrieren, dass hier nicht nur der Patient gefordert ist. Ziel der Therapie ist oft nämlich nur die "Alltags- und Rollstuhlfähigkeit" - und das Wörtchen 'nur' steht hier, weil in zwanzig oder mehr Prozent der Fälle die Bewegungsfreiheit des Querschnittsgelähmten deutlich verbessert werden könnte, wenn sich Arzt, Therapeut und Patient ein paar Gedanken mehr machen würden. Aus den zahllosen Krankengeschichten, die dem Verfasser bekannt geworden sind, erzählt Kulle eine, bei der sich die Ärzte auf eine Fehldiagnose stützten und alle Symptome ignorierten, die ihren standardisierten Denk- und Handlungsmustern widersprochen hätten, mit dem Ergebnis, dass der Patient unnötig Qualen litt, dass Restfunktionen nicht gefördert wurden und dass Therapieerfolge auf sich warten ließen.

Die psychischen Probleme nach einer Querschnittslähmung, die Wahrnehmungsverschiebungen bei den Patienten und ihren Angehörigen, ja sogar bei den Ärzten und beim Pflegepersonal, führen häufig zu falschen Einschätzungen, wie das Beispiel der "Funktionshand" zeigt, die häufig bei Halswirbelquerschnittsgelähmten eingesetzt wird: Die Finger und die Mittelhand werden mit Schienen und Prothesen in eine relativ steife Form gebracht, "die es zulässt, dass man speziell angefertigte Gegenstände wie Bestecke, Tassen und Stifte quasi einklinken kann. Das hilft sicher enorm, wenn wirklich kaum Restfunktionen in die Hand zurückkehren. Jedoch vergibt man mit der Ausbildung einer Funktionshand auch jede Chance, die Handfunktionen so weit wie möglich zum ursprünglichen Stand zurückzuführen. Das heißt, Restfunktionen werden nicht gefördert, man lässt sie brachliegen, selbst wenn sie sich ganz deutlich zeigen."

Erste Priorität muss es daher sein, den Realitätsbezug wiederherzustellen, das Gehirn zu zwingen, die Informationen, die es aus dem Körper bezieht, mit den Daten der Umgebung korrekt abzugleichen und dieses Wechselspiel zu optimieren. Manchmal hilft ein einfacher Trick, manchmal ein altes Rezept, oft aber nur Expertenwissen. Für jeden Fall liefert Kulle eindrucksvolle Beispiele. Die 'konstruktive' und zutiefst verstörende Wahrnehmungsbefähigung des Gehirns beispielsweise beschreibt er am eigenen Fall, im Kapitel "Mehr als du denkst": Ein 'Querschnitt' nämlich sieht mit der Zeit alles verzerrt - oft liegt er über Wochen ans Bett gefesselt und kann allenfalls Arme und Hände erfassen. Bald erscheint ihm sein Bett größer und größer, die Teller und die Mahlzeiten auch, selbst ein Mars-Riegel wirkt "unbezwingbar groß". Ein Ganzkörperspiegel kann da Abhilfe schaffen und die Relationen wieder ins Lot bringen.

Auch wenn Stephan Kulle ein gläubiger Christ ist und aus dem Lukas-Evangelium zitiert - seine Krankengeschichte folgt nicht dem Modell der wunderbaren Heilung, an deren Ende Gottes Lob und Preisung stehen. Das große Wunder seiner Existenz setzt sich aus kleinen Glücksfällen, harter Arbeit, Willenskraft, Geduld und Entschlossenheit zusammen. Wochen- und monatelang konnte der Student nicht sitzen, geschweige denn gehen - nur liegen. Die neurochirurgische Station in Münster konnte ihm nicht helfen, erst die Verlegung nach Bielefeld zeitigte Ergebnisse: Hier hatte Kulle alle Chancen und nutzte sie.

Das Wunder seiner Heilung ist sozialer und kultureller Natur: Da sind die Krankengymnasten und Bewegungstherapeuten, die - frisch aus der Ausbildung kommend - an Kulle eine neue Therapie ausprobieren wollten und mehr Zeit und Kraft und Wissen als üblich investieren konnten. Da ist der beste Freund, Philipp, der den Kranken seelisch und körperlich stützte. Und da sind die Ordensbrüder und Betschwestern, die "vor Gott demonstrierten", um einer starken Seele immer wieder Mut einzuflößen. Sicher wäre alldas erfolglos gewesen ohne die kleinen Fortschritte im richtigen Augenblick, die das Weitermachen rechtfertigten und alle Beteiligten anspornten, und ohne die ansteckende Fröhlichkeit des Betroffenen selbst, seinen Charme, seine Zuversicht, die Ärzte und Helfer zusätzlich motivierten.

Manch anderer bekommt solch segensreiche Unterstützung nicht, und so führt Stephan Kulle am Wort "Luxus" vor, woran unser Gesundheitswesen krankt: Die Therapiemaßnahmen, die an ihm erfolgreich praktiziert wurden, sind nach Maßgabe mancher Ärzte und vor allem der Krankenkassen personal-, zeit- und kostenintensiv und daher "Luxus". Selbst eine gängige Therapie wie die Vojta-Therapie, die nicht selten Erfolge bringt, stirbt auf der "Kostenkalkulationsstrecke". Dabei sind es oft gerade die frühzeitigen Behandlungsschritte, die Erfolge zeitigen könnten, aber im Budget- und Kostenplan eines Kalenderjahres nicht untergebracht werden können, und da interessiert es den Gesetzgeber offenbar wenig, dass sich diese Kosten durch Ersparnisse in den Folgejahren vielfach amortisieren würden: Denn ein erfolgreich therapierter Querschnitt wie Stephan Kulle, der sich weitgehend allein versorgen kann, der weder Katheder noch Urinbeutel, weder Blasentabletten noch andere für die Symptomatik typische Medikamente in Anspruch nimmt, der seine Krankenkasse nicht einmal mit einem neuen Rollstuhl behelligt, entlastet die ohnehin dünne Finanzdecke der Kassen auf die Dauer nachhaltig.

Eine Metaphorik des Bewegungsapparates durchzieht Kulles gut geschriebenes, nicht ohne innere Anteilnahme lesbares Buch, Wendungen und Begriffe wie "Marschbefehl" oder "auf die Beine kommen" entwickeln ihre eigene Qualität und Funktionalität. Vor dem Leser läuft ein "Film mit Standbildern" ab, man fühlt sich belehrt und bereichert, und so soll es ja auch sein.

Titelbild

Stefan Kulle: Riß im Glück.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
240 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3462033158

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