Vom Kampfplatz der Psychologie

Edmund Husserl rüstet seine Studenten für die Verteidigung der Phänomenologie

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In gewohnter Manier und Qualität bringt der Hamburger Verlag Meiner einen Text Husserls als unverwüstliche Taschenbuchausgabe im Rahmen der traditionsreichen "Philosophischen Bibliothek". Wie stets ist er eine seitenidentische Reproduktion des entsprechenden Bandes der Gesamtausgabe "Husserliana" (hier Bd. IX). Husserls Freiburger Vorlesung über "Phänomenologische Psychologie" von 1925 liegt in dieser Form seit 1962, herausgegeben von Walter Biemel, vor. Dessen Vorwort ist durch eine gut lesbare und präzise Einleitung von Dieter Lohmar, der sich für die vorliegende Edition verantwortlich zeigt (die auch Druckfehler der zugrundeliegenden Ausgabe korrigiert), mit vielen Informationen zu Werkkontext und thematischem Hintergrund ersetzt worden.

Die unter dem vollständigen Titel "Einleitung in die phänomenologische Psychologie" gehaltene Vorlesung, war eine der letzten Husserls vor seiner Emeritierung 1928. (Husserl hielt weiterhin Veranstaltungen ab und wiederholte auch jene Vorlesungen noch im Sommersemester des selben Jahres.) Der Klappentext bewirbt das Studienbuch als "Einführung", die "ausgezeichnet [...] geeignet" sei, "in das Husserlsche Denken" einzuführen. Dem ist gänzlich zuzustimmen - jedoch mit einer Nuancierung der Zweiseitigkeit des "Husserlschen Denkens". Dieses setzt sich nämlich nicht nur aus Begriffen und aus dem besonderen methodischen Zugriff der Phänomenologie zusammen, sondern auch aus Duktus, Anspruch und Absicht Husserls. Entsprechend muss der Leser heute zunächst das kulturkonservative und -pessimistische Pathos jener Jahre verkraften, bevor er sich auf die 'Inhalte' einlassen kann. Dies gilt insbesondere für Husserls Vorlesungstexte.

Was die 'Psychologie' ist, der sich Husserl dort annimmt, ist heute nicht mehr unmittelbar zugänglich. Die Psychologie zur Jahrhundertwende war vor allem experimentelle Psychologie, die ihren Siegeszug aus dem Leipziger Labor Wilhelm Wundts heraus antrat und begann, mit seinen Apparaten zur Vermessung und Registratur von Aufmerksamkeitsschwellen und Reaktionszeiten die Welt (zunächst die der psychologischen Forschung, später die des öffentlichen Bewusstseins) zu erobern. Weder Psychoanalyse (die eher im Umkreis der Medizin interessierte) noch heutige Formen psychologischer Therapie oder statistisch-empirischer Messverfahren anhand standardisierter und narrativer Interviews gehörten also dem zu, auf was Husserl unter jenem Terminus abzielte. Gegenwärtige Psychologen dürften an dem Buch deshalb allenfalls ein historisches Interesse haben. Für Philosophen ist die Sachlage eine etwas andere: Interessenten der Phänomenologie, der Wissenschaftsgeschichte, der Philosophie des Geistes wie Kulturwissenschaftler können den Text mit Gewinn lesen.

Den Geisteswissenschaftlern, die sich von den Naturwissenschaften zusehends in die Isolation getrieben fühlten, holten zu Husserls Zeit zum ,Gegenschlag' aus und verfestigten eben jene uns heute natürlich erscheinende Differenz zwischen Wissenschaften des 'Geistes' und der 'Natur'. Auch wenn die systematischen Tücken der Trennung schnell offenkundig waren, tragen Universität und Forschung noch heute schwer daran. Das Problem war: einheitssuchende oder einheitsversprechende Paradigmen stammten stets aus einem der beiden Teilgebiete. Dies Geisteswissenschaften, so scheint es, boten über ein Jahrzehnte hinweg dabei stets immer nur ein Konzept an: dasjenige der integralen Ganzheit, die Summe, die mehr ist, als ihre Bestandteile. Wie Wilhelm Dilthey (in dessen Arbeiten der zur akademischen Scheuklappe neigende Husserl erst nach der persönlichen Begegnung 1905 in Berlin ein verwandtes Anliegen erkannte), Bergson und James, so sah auch Husserl eine Vormachtstellung der Geisteswissenschaften (und der Philosophie im besonderen) darin gegeben, dass sie das komplexe Funktionieren durch 'irrationale' Grenzbegriffe (wie 'Leben', 'Bewusstseinsstrom' etc.) zu erfassen könnten, wohingegen die Naturwissenschaften auf rationale Beschreibungen von Kausalbeziehungen in Raum und Zeit (wie eben Reiz-Reaktions-Verknüpfungen) beschränkt blieben.

Die 'Psychologie' Husserls ist demnach ein Rückgriff auf die älteste Vorstellung von Psychologie unter diesem Namen bei Aristoteles, der darunter die Erforschung der Seele und ihrer 'Bewegungen' verstand. Philosophische Forschung aber findet nicht in Labors, sondern am Schreibtisch und vom Pult herab statt. So auch in Husserls 'Phänomenologie', der es nicht um dieses oder jenes Seelenleben oder Leiden geht, sondern um die apriorische Grundstruktur der Psyche - also dem altbekannten Cogito des Descartes. In dieser Hinsicht sagt der mahnende Tonfall Husserls mehr über die Situation der Philosophie als die Psychologie aus: Was kann sie (noch) tun? - Zunächst das, was sie immer macht, wenn sie nicht gerade kritisiert oder systematisiert: Sie belehrt. Psychologie ohne Philosophie könne man Husserls Ansicht nach nicht verantwortungsvoll treiben. Bloße Einzelerkenntnisse ohne Blick für das Ganze machen materielle Ergebnisse wertlos. Dies ist eine durch und durch sympathische Einstellung. Jedoch verdeckt sie in ihrer vermeintlichen Neutralität im Gewande des Apriorischen jene historischen Hintergründe, welche die Wahrnehmung nicht mehr eins sein ließen. Rationalisierung, Technisierung und mikroskopischer Blick, rissen deren Einheit in Stücke oder offenbarten deren Diskontinuität. Aus heutiger Sicht gerade nicht weniger wahr ist darum der kalte, rationale Zugriff der Naturwissenschaften.

Noch gegen eine andere 'Psychologie' geht Husserl an: den 'Psychologismus' des englischen Empirismus - etwa dem eines John Stuart Mills. Solche philosophische Psychologie unterstellt eine Abhängigkeit der Logik vom individuellen Denkvorgängen bzw. - im Geiste Humes - den Vorrang, induktiver, hypothetische verallgemeinernder nicht deduzierender, rechtmäßig bestimmender Urteile. Streitpunkt war stets die Frage nach der Gültigkeit mathematischer Axiome. Während der Empirismus im Letzten auch die Mathematik als relative Wahrheit ansah, deren Operationen ebenso wie das Vertrauen auf die Wiederkehr des Sonnenaufgangs durch einen 'Glauben' an Kausalität gefestigt war, geht Husserl in umgekehrter Richtung vor, und behauptet eine sowohl psych(olog)ische-individuelle Realität wie eine davon unabhängige logische Richtigkeit nicht nur der Mathematik, sondern auch der Wahrnehmung. Für ihn ist die Mathematik anschaulich-konkret (vor allem in Form der Geometrie) und abstrakt (so in der auf die Geometrie fußenden Algebra) zugleich. Genau dies hatte ihn bei Logikern wie Frege in Ungnade fallen lassen. Bereits in seiner vielbeachteten 'Prolegomena zur reinen Logik', dem ersten Band der "Logischen Untersuchungen" von 1900, - deren Kern Husserl in seiner Vorlesung selbstbezüglich referiert - 'widerlegte' er den philosophischen ,Psychologismus', unter anderem durch den Hinweis darauf, dass die Psychologie genau diejenigen 'Gesetze' des Denkens, die sie relativieren möchte, zunächst akzeptieren bzw. übernehmen muss.

Was Husserl nun hier, wie in vielen seiner Vorlesungen nach seiner 'transzendentalen Wende' (die ab der Begegnung mit Dilthey bis zum Erscheinen der "Ideen"-Schrift 1913 vollzogen wird), wiederholt präsentiert, beinhaltet die gesamten Grundbestandteile der phänomenologischen 'Lehre': den Rückgang auf den reinen Phänomengehalt in der sogenannten ,Reduktion' durch Außerkraftsetzen des unreflektierten Glaubens an die Existenz der raum-zeitlichen Gegebenheiten. Die Auflösung von 'Subjek(tiv)' und 'Objekt(iv)' als Gegensatz in der Intentionalitätsstruktur, die vielmehr beide entweder zu Polen einer 'reellen', 'nur' bewusstseinsmäßigen Auffassung (dem Bereich der 'Immanenz') erklärt oder zu gleichermaßen realen Vorkommnissen in der Welt (als Transzendenz). Und vor allem die Suche nach den invarianten Strukturen der Wahrnehmung, welche die Bedingungen von (Natur-)Erkenntnis und letztlich Natur überhaupt bedeuten - also die Begründung der partial verfahrenden Naturwissenschaften in einer Wissenschaft des Geistes respektive Bewusstseins. Entsprechend lasse sich durch eine in der Phantasie vollzogene 'eidetische Variation' die Überprüfung der aus den Phänomenen herauspräparierten Wesen leisten, indem diese vor dem inneren Auge fiktiv variiert und dabei die Grenzen der Wesensbestimmung bzw. die absolute Notwendigkeit der reduzierten Merkmale erkundet werden.

Doch genau hier liegt die Krux nicht nur dieses Vorlesungstextes, sondern von Husserls Phänomenologie im Ganzen: Gleich dem Vorwurf, den er an den voraussetzungsreichen philosophischen Psychologismus richtet, wird dasjenige, das als Ergebnis des phänomenologischen Vorgehens herauskommen soll, derart präjudiziert, dass man ohne weiteres sagen kann, dass Husserl die Ergebnisse über Gebühr presst. Jeder 'Entdeckung' eines invarianten, transsubjektiven Strukturmerkmals, geht eine Tirade an Appellen an die Zuhörer voraus, dass die phänomenologische Methode doch zum Erfolg führen müsse.. Kurz bevor der Hörer (bzw. Leser) dem müde wird, geht Husserl dann zum eigentlichen Gegenstand über, indem er das fertige Ergebnis präsentiert, nicht aber den Weg dessen Entbergung lückenlos zeigen könnte. Und selbst was er dabei findet, ist selten originell: Die Vordenklichkeit von Raum und Zeit ist Kantisches Erbe, die Unterteilung in Gattungen und Arten seit Aristoteles Basisinventar der theoretischen Philosophie, ebenso die Scheidung zwischen Organischem und Anorganischen. Einzig der ,Leib' als Instanz der psychophysiologischen Synthese von Einzelwahrnehmungen ist eine moderne Einsicht. Gerne wird sie als besondere Entdeckung Husserls ausgegeben. Sie ist jedoch ihrerseits nur eine Konsequenz der Lebenswissenschaften des 19. Jahrhunderts und für die 'Lebensphilosophie' jener Jahre mithin stereotyp. Respektive rekurriert Husserl an den Schlüsselstellen auf geradezu populärwissenschaftliches Allgemeingut, anstelle eine Reduktion 'vorurteilsfrei' durchzuführen. Auch dabei ist er Transzendentalphilosoph: Die Darstellung darf zu keiner Neubewertung des Bestehende führen, nur dessen Erklärung soll maximale Konsistenz haben.

Der im Vergleich zu den Publikationen, die nicht auf Vorträge basieren, erfreulicherweise weniger verklausulierte Gedankengang, legt so die Grenzen der Husserlschen Phänomenologie bloß und macht klar, warum Heidegger und die Hermeneutik allzu leichtes Spiel mit Husserl haben konnten. Andererseits ist man erschüttert von dem, was sich aus den Texten als philosophisches Diskussionsumfeld jener Jahre an deutschen Universitäten erschließt, d. h. wogegen Husserl Not tat und wofür wir Nachgeborenen ihm dankbar sein müssen. Ob diese angesichts des Buchpreises aber als Kaufanreiz außerhalb des Rahmens dezidierter Seminarveranstaltungen reicht, ist fraglich. Andere Texte Husserls - wie beispielsweise eine Auswahl aus den Nachlasstexten zur Intersubjektivitätsproblematik, über die passive Synthesis und Bildtheorie oder seine Reflexionen zum Kulturbegriff - hätten dem Meinerschen Portfolio sicher ebenso gut zu Gesicht gestanden und aktuell relevante Facetten des Forschers zur Geltung gebracht, anstatt Husserls didaktisch-pädagogische Achillesferse erneut bloßzulegen.

Titelbild

Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie.
Herausgegeben und eingleitet von Dieter Lohmar.
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003.
243 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-10: 3787316035

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