Museum der Theorie der Poesie

Norbert Miller und Harald Hartung gaben Walter Höllerers "Theorie der modernen Lyrik" neu heraus

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Todesjahr würdigt der Hanser Verlag den großen Anreger der deutschen Nachkriegsliteratur, den Autor und Germanisten Walter Höllerer, mit mehreren Titeln: Noch zusammen mit Höllerer gab dessen Nachfolger als Herausgeber der "Akzente", Michael Krüger, einen Querschnitt aus einem halben Jahrhundert der stets ideologie-resistenten "Zeitschrift für Dichtung" heraus, die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung besorgte eine Revision seiner klassischen "Dokumente zur Poetik".

Neben Enzensbergers "Museum der modernen Poesie" dürfte keine lyrische Dokumentation von solcher Nachwirkung gewesen sein wie Höllerers 1965 in "rowohlts deutscher enzyklopädie" erstmals aufgelegtes Kompendium von 150 Jahren europäischer Poetik. So die Neu-Herausgeber Norbert Miller und Harald Hartung im Vorwort zu der nun bei Hanser erschienenen, erweiterten Auflage.

Was fehlt, ist die Kennzeichnung dessen, bis wohin die "Theorie" als Höllerers zu lesen ist, und ab wo Millers und Hartungs Revisionen und Erweiterungen Platz greifen.

Mittlerweise ist das "Museum der modernen Poesie" ja nicht nur - dankenswerterweise durch Hartungs "Luftfracht" und Sartorius' "Atlas der neuen Poesie" - fortgeführt worden. Der eurozentrischen "Luftfracht" trägt die vorliegende Erweiterung auch Rechnung. Rein alibimäßig gehören der ergänzten Höllerer-"Theorie" darüber hinaus wenige Nicht-Europäer wie Neruda, Paz, Borges und die Argentinierin Olgo Orozco (deren Name peinlicherweise falsch geschrieben ist) an, Antillen-Dichter sind mit Perse und Walcott vertreten, neben dem Japaner Tanikawa dem Senegalesen Leopold Sedar Sénghor. (Nordamerikanische und russische Dichter waren freilich schon in Höllerers Ausgabe dabei.) Der Weitblick auf die Welt, wie er in Sartorius' "Minima Poetica" gedeihlich versucht wird, fehlt der Anthologie ganz. Vielleicht wollten sich die Herausgeber der müßigen Debatte über die Grenzen der Moderne entziehen? Gerade die aufgenommenen Nicht-Europäer, deren Werk von Gedanken der europäischen Moderne geprägt ist, gelten in ihren Herkunftsländern als Postmodernisten, und auch der letzte in der Liste der Beiträger, Durs Grünbein, stellt sich in seinem Text als "Babylonier" vor.

Es handelt sich also - und dazu bekennt sich auch das Cover, das Höllerers Namen noch vor den Titel setzt - um ein Museum der Theorie der Poesie - das Germanisten gute Dienste leisten wird, Dichtern - wie Höllerers Buch das zu seiner Entstehungszeit in West- wie Ostdeutschland getan hat - weniger.

Titelbild

Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik 2 Bände.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
960 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-10: 3446203869

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