Die Normalisierung des Ausnahmefalls

Giorgio Agambens kleine Weltgeschichte der politischen Souveränität

Von Niels WerberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Niels Werber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den "Betrachtungen eines Unpolitischen", die Thomas Mann an der Heimatfront des ersten Weltkriegs anstellt, fällt der Begriff des "nackten Lebens" des Menschen, der sonst "garnichts ist". Dieses "politische Tier", das nach Belieben "dressiert" werde, könne für das "größte Glück der größten Zahl" beliebig traktiert werden. "Niggers", "Barbaren" oder "Ungeziefer" nennt sie der brave Staatsbürger, der sie im Namen der Menschheit "erschlagen möchte". Damit sind wir bei Giorgio Agambens Buch "Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben" angekommen, dessen zentrale These lautet, die Moderne produziere unaufhörlich jenes "nackte Leben", das ausgeschlossen oder vernichtet werde. Es handele sich um die "fundamentale biopolitische Spaltung des Abendlandes" in das "Volk als Repräsentant schlechthin des integralen politischen Körpers" und die ausgeschlossenen Anderen. Seit der Antike begleite sie unweigerlich alle politische Theorie und Realität. Diese Diskriminierung werde in "unserer Zeit" nicht nur nicht überwunden, vielmehr erschienen heute "alle Bürger als homines sacri", deren nacktes Leben zur Tötung freigegeben werden könne. Die These ist in jeder Hinsicht: sachlich, zeitlich, sozial und räumlich geradezu universell. Es gibt auf Erden kein Argument, keine Epoche, keinen Stand und keinen Ort, um dem "Bann" der "biopolitischen Spaltung" zu entkommen.

Die Genealogie dieser Biopolitik stützt sich auf die römische Rechtsfigur des homo sacer, des geweihten wie verfluchten Menschen, von dem es heißt: "es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt". Jeder darf diese verfemten Menschen umbringen; warum aber nicht opfern? Weil die Rituale des Opfers den Ausgestoßenen wieder einschließen würden. Daher mußte sein Tod jenseits der "sanktionierten Formen des menschlichen und des göttlichen Rechts" liegen. Die Macht, die einen Menschen derart zweifach hors la loi stellt, außerhalb "des Strafrechts wie des Opfers", konstituiert jene genuin souveräne "Sphäre, in der man töten kann, ohne einen Mord zu begehen und ohne ein Opfer zu zelebrieren". In "unserer Zeit" sei diese "Sphäre" die einzige, wer sie sehen will, müsse sie allerdings erst "zu erkennen lernen".

Das Rätsel der Politik könne nur "auf dem Boden der Biopolitik" gelöst werden, stellt Agamben apodiktisch fest. Biopolitik soll die Antwort sein, schön, aber wer hat das Rätsel entsprechend gestellt? Es ist Carl Schmitt, dessen von der Ausnahme her konzipierter Begriff der Souveränität Agamben aufgreift und in ein Problem umformuliert, für dessen Lösung Michel Foucault den "Boden" zur Verfügung stellen darf. Die Frage lautet: Wie wird der Ausnahmefall zur Normalität? Und die Antwort: durch Biopolitik. Diese Verschränkung von Problem und Lösung strukturiert die gesamte Studie Agambens. Paul Virilio kündigte sie bereits 1997 als 'Buch des Jahres' an, das dem 20. Jahrhundert die entscheidende Frage stelle: "warum man Menschen töten kann, ohne einen Mord zu begehen".

Wenn Virilio Recht hat, dann muß es befremden, daß Agamben sich ausgerechnet auf Foucault stützen will, dessen Begriff der modernen Biopolitik nun gerade nicht eine Herrschaft über den Tod meint, sondern über das Leben. Foucaults Moderne ist ganz durch die vielfältigen Techniken der Disziplinierung des lebendigen Körpers gekennzeichnet. Die alte lettre de cachet hat den Delinquenten einfach weggesperrt und sich selbst überlassen, die moderne Macht dagegen nutzt gut kontrollierte Einrichtungen, um sich intensiv der Formung ihrer Schützlinge zu widmen. Durch Verfahren der Wiederholung, Gewöhnung und Normalisierung hat sie sich einen Untertanen geschaffen, wenn nicht "dressiert", der aufgrund der in seinem 'bios' verankerter Verhaltensprogramme mit größerer Wahrscheinlichkeit das tut, was erwartet wird, als jedes von physischer Machtausübung 'motivierte' Subjekt des alten Leviathan. Der biopolitisch beherrschte Mensch orientiert sich willfährig an der Normalität und vermeidet die Abweichung. Seine "eigene Identität", stellt Agamben mit Foucault fest, verdanke das Individuum einem "Subjektivierungsprozeß", der es "zugleich an eine äußere Kontrollmacht" binde. Was man sich nun unter "Techniken der Individualisierung" und der "Totalisierung", die der "moderne westliche Staat in einem bisher unerreichtem Maß integriert hat", vorstellen soll, wird indes nicht weiter ausgeführt.

Wo Foucault einen freilich diffusen Machtbegriff verwendet, der eine Unterscheidung von Machthabern und Machtunterworfenen kaum zuläßt, spricht Agamben vom Staat. Dies ist merkwürdig deshalb, weil die Bio-Macht bei Foucault kein Medium politischen Handelns und Entscheidens bezeichnet, sondern ein Feld, das die Epoche der klassischen Souveränität abgelöst hat. Der "Normalfall" dieser Epoche nach dem Ende des Staates wird nicht etwa von einem Souverän garantiert und vom Ausnahmefall her gedacht. Die Norm ist vielmehr der Durchschnitt eines "Normalitätsdispositiv" statistischer Datenerhebung und Auswertung: die Welt Kafkas und Musils. Abweichung von der so verstandenen Norm, das hat Stefan Rieger ("Die Individualität der Medien", 2001) gezeigt, führt nicht etwa zur Bestrafung, sondern zur Intensivierung und Steigerung im Dienste der immer spezifischeren Anforderungen der modernen Arbeitswelt. Agamben jedoch interessiert sich überhaupt nicht für das Leben des nackten Lebens, für seine Disziplinierung und Dressur, seine Individualisierung und Steigerung, denn seine Sache sind allein die beiden Fragen: wer über den Tod des nackten Lebens zu befinden hat und welche Kriterien bei dieser Entscheidung eine Rolle spielen. Dezision und Biopolitik! Verkürzter Schmitt und entkernter Foucault.

Agamben spricht von Macht und Biopolitik, meint aber den Staat, weil er Schmitt folgt, und er folgt Schmitt, weil er Dezisionist ist. In "jedem modernen Staat", schreibt Agamben, gebe es "eine Linie, die den Punkt bezeichnet, an dem die Entscheidung über das Leben zur Entscheidung über den Tod und die Biopolitik zur Thanatopolitik wird." Es sei der "Souverän", bei dem diese Entscheidung stehe, wenn er sich auch von "Juristen", "Wissenschaftlern", "Ärzten" und "Experten" assistieren lasse. Carl Schmitt sah allerdings in der Gewalt des Souveräns, seinen Subjekten im Ausnahmefall Todes- wie Tötungsbereitschaft abverlangen zu können, den Kern seiner Macht. Im Ausnahmefall liege es beim Souverän, von den "Menschen im Ernst zu fordern, daß sie Menschen töten und bereit sind, zu sterben". Über die Lage zu befinden: Normalfall oder nicht, macht für Schmitt das "Monopol" der "staatlichen Souveränität" aus. Der Staat aber findet seine Raison in der Effizienz, schreibt Schmitt über den "Hüter der Verfassung", mit der er "der Ursache aller Unordnung und Bürgerkriege, dem Kampf um das normativ Richtige, ein Ende macht. Dieser Staat 'stellt die öffentliche Ordnung und Sicherheit her'" Zuvor aber, im "Ausnahmezustand", trete "das jeweilige Zentrum des Staates offen zutage." Das Wesen des Staates zeigt sich also erst in dem Moment, wo er in den Kampf eintritt, um ihm zu beenden. Dieser Kampf ist keine Metapher, sondern meint die "reale Möglichkeit der physischen Tötung." Staat und Souveränität setzten mithin verletzliche, letztendlich tötbare Körper voraus.

Genau auf diesen "thanatopolitischen" Zusammenhang kommt es Agamben an: "Die großartige Metapher des Leviathan", schreibt er über Hobbes, nachdem er den Naturzustand als Ausnahmezustand gedeutet hat, "dessen Körper aus sämtlichen Körpern der einzelnen geformt ist, muß in diesem Licht gelesen werden. Es sind die absolut tötbaren Körper der Untertanen, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden." Foucaults postsouveräne Biopolitik, Schmitts klassischer Souveränitätsbegriff, nun paßt beides zusammen, und Agamben "kann sagen, daß die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist. In diesem Sinn ist die Biopolitik mindestens so alt wie die souveräne Ausnahme." Also gut zweieinhalb Jahrtausende. Sichtbar werde auch diese Macht allein im Ausnahmezustand, und die Figur, die diese Ausnahme verkörpere, sei der homo sacer. Die Ausgrenzung einer "Zone", in der sich der Mensch in "tötbares und nicht opferbares Leben" verwandele, sei "ursprünglicher" als die "Schmittsche Opposition zwischen Freund und Feind".

Im römischen Recht des Vaters über Leben und Tod seines Sohnes findet Agamben eine Figuration des homo sacer. Dies Recht sei "weder als Sanktion einer Schuld noch als Ausdruck der Macht" zu verstehen, die dem pater als Hausherrn zukomme, es sei vielmehr "absolut". Sobald der Vater einen Sohn als den seinen anerkennt, "erwirbt er über ihn die Macht über Leben und Tod", die also ganz unabhängig von jedem Verhalten des Sohnes besteht. Dieses "Leben" des Sohnes diesseits aller juristischen oder religiösen Bedeutung sei "nacktes Leben", das getötet, aber nicht geopfert werden könne. Agamben vermutet, daß diese "ursprüngliche" Macht des Vaters über den Sohn mit der Figur des pater patriae auf das Verhältnis von Führung und Volk übertragen worden sei. "Es könnte nicht klarer gesagt werden, daß das erste Fundament der politischen Macht ein absolut tötbares Leben ist, das durch seine Tötbarkeit selbst politisiert wird." Denn römischer Bürger werde nur, wer als Sohn eines Römers anerkannt worden sei, also dann, wenn dem Vater die vitae necisque potestas zukomme. Sicherlich ist der Sohn nicht schlechthin der Feind seines Vaters oder das Volk der Feind seines Magistrats. Agamben kann also behaupten, diese Souveränität, die jeden Menschen als nacktes Leben behandeln kann, gehe der Unterscheidung von Freund und Feind noch voraus. Die "höchste Macht", verallgemeinert Agamben, sei "immer vitae necisque potestas und gründet sich stets auf die Absonderung eines Lebens, das getötet, aber nicht geopfert werden darf".

Agambens Zuspitzung führt zum bisher "verborgenen Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellem Modell und dem biopolitischen Modell der Macht". Die "souveräne Macht" ist jene "fundamentale" Gewalt, die das "nackte Leben" von der "politischen Existenz" des Menschen abspaltet und so homines sacri produziert, die getötet, aber nicht geopfert werden dürfen. Je intensiver der Staat sich des Lebens seiner Bürger annimmt, desto weiter schreitet jener "Prozeß" der "Moderne" voran, "durch den die Ausnahme überall zur Regel wird", bis schließlich jeder jederzeit vom Staatsbürger in die Klasse jenes Lebens fallen kann, das straflos getötet werden darf. Die Disposition darüber liegt beim Souverän, dessen Dezision aber den Fluchtlinien und Unterscheidungen des biopolitischen Dispositivs folgt.

"Tatsächlich kann man beobachten, wie sich im Gleichschritt mit der Durchsetzung der Biopolitik auch die Entscheidung über das nackte Leben, in der die Souveränität bestand, verschiebt und über die Grenzen des Ausnahmezustands hinaus ausbreitet." Die Ausnahme wird normalisiert, aber nicht so, wie sich dies Michel Foucault und Francois Ewald, Ernst Forsthoff oder Jürgen Link vorgestellt haben, sondern insofern die "klassische Unterscheidung" des nackten Lebens vom politischen Subjekt aufgehoben wird in einem "biopolitischen Körper", dessen "nackte Existenz" jederzeit in Frage steht. Das Symbol dieser zur Norm gewordenen Ausnahme kann daher nicht die Statistik sein. Es ist das Konzentrationslager. "Das Lager" sei der "nómos der Moderne", das Symbol der "Ausweitung eines [...] Ausnahmezustandes" auf die "gesamte Zivilbevölkerung".

Entstanden in den Kolonialkriegen, um aufständische Bevölkerungsgruppen ausnahmsweise zu internieren, wird das KZ im NS-Staat zu einer Dauereinrichtung, "in welcher der Ausnahmezustand - die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich souveräne Macht gründet - normal realisiert wird." Der Souverän löst die Ausnahme von jedem Bezug auf eine außerordentliche Situation - etwa der Gefahr, der Unruhe, des Bürgerkrieges - heraus, um jederzeit jedermann "auf das nackte Leben reduzieren" zu können. Schmitts Ausnahme wird zur Regel, entsprechend ist das "Zentrum des Staates" nun permanent sichtbar: das KZ. Souverän ist, wer über die Einweisung ins Lager entscheidet.

Diese Entscheidung steht unmittelbar dem "Führer" zu als Repräsentanten der "Einheit und Artgleichheit des deutschen Volkes". "Alle Politik", so beruft sich der Genetiker und Anthropologe Otmar von Verschuer 1936 auf ein Führerwort, "des nationalsozialistischen Staates dient dem Leben des Volkes." Dieser Begriff des Politischen setzt nicht die Unterscheidung von Freund und Feind voraus, sondern die Differenz von Volk und nacktem Leben. Verschuer und andere Spitzenwissenschaftler des Reichs wissen genau, daß diese Unterscheidung nicht auf genetische Bestimmungen der "Rassen" zurückgreifen kann - aber sie wird ja auch nicht biologisch, sondern biopolitisch gefällt, durch den Führer des nationalsozialistischen Staates. Die biopolitische Souveränität macht sich hier von allen Rücksichten völlig frei. In diesem "absolutesten biopolitischen Raum", dem KZ, habe die "Macht nur das reine Leben ohne jede Vermittlung vor sich". Alle Qualitäten sind getilgt worden. Niemand zählt noch als Bürger, Verwandter, Mensch, Freund oder wenigstens als Feind im Sinne Carl Schmitts. Entsprechend ist alles möglich: von der Vernichtung bis zu den berüchtigten Fleckfieber-, Unterdruck- und Kälteversuchen am lebenden Objekt. Diese biopolitische Souveränität des Dritten Reichs mag gut erfaßt sein - aber was hat sie mit dem römischen homo sacer zu tun, und warum soll das KZ unser neuer Nomos sein?

"Das Lager, nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes." Nicht des NS-Regimes, nicht des Totalitarismus, nicht des modernen Imperialismus, nein: des gesamten Okzidents! Und mit dem "biopolitischen Paradigma" meint Agamben nicht eine im Laufe der Geschichte dieses Abendlandes mal mehr, mal weniger bedeutende Linie der politischen Theorie, sondern den Raum, in dem die "souveräne Macht" ihre "originäre" Leistung vollbringt: nacktes Leben zu produzieren, das ausgeschlossen und eingeschlossen werden kann. Dieser Raum ist "paradigmatisch" das KZ. Eine größere Extension der Begriffe ist kaum denkbar. Agamben ist kein Geschichtsrelativist, denn er relativiert überhaupt nichts; es verhält sich umgekehrt: alle politische Geschichte steht im Banne des deutschen KZ.

Ausgerüstet mit der Faustformel des "nómos der Moderne" entdeckt Agamben den homo sacer nun überall. "Ein Lager ist sowohl das Stadion von Bari, in dem 1991 die italienische Polizei vorübergehend die illegalen Einwohner aus Albanien zusammentrieb [...], als auch die zones d'attente in den internationalen Flughäfen Frankreichs, wo die Ausländer, welche die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verlangen, zurückgehalten werden." Wie immer bedrückend die Zustände italienischer Stadien oder französischer Flughäfen sein mögen, man muß sich erinnern, daß es Agamben nicht um "humanitäre" Kritik von Mißständen geht, sondern allein um Beispiele für die These, daß das Lager, dessen exemplarische Form das Konzentrationslager des Nationalsozialismus darstellt, unser Schicksal sei. Auschwitz und Buchenwald, Bari und Paris Charles de Gaulle - ihrem "Wesen" nach handelt es sich immer um dasselbe, um Orte, an denen der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt wird und die Macht über das von ihr produzierte nackte Leben souverän verfügen kann. "In all diesen Fällen", faßt Agamben zusammen, "grenzt ein scheinbar harmloser Ort in Wirklichkeit einen Raum ab, in dem die normale Ordnung de facto aufgehoben ist, in dem es nicht vom Recht abhängt, ob mehr oder weniger Grausamkeiten begangen werden, sondern von der Zivilität und dem ethischen Sinn der Polizei, die da vorübergehend als Souverän agiert". Der Unterschied zwischen demokratischen Rechtsstaaten zum Dritten Reich schrumpft hier zusammen auf die "Zivilität" ihrer Exekutive. Agambens "These von der innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus" kann nun kaum noch überraschen, teilen sie sich doch dieselbe Form biopolitischer Souveränität.

Wie es auch immer in den "Zonen" im "Innern" von EU-Staaten aussehen mag, das "demokratisch-kapitalistische Projekt" greift noch viel weiter aus, indem es "alle Bevölkerungen der Dritten Welt in nacktes Leben verwandelt". Alle! Gewiß, man findet auch hierfür haarsträubende Beispiele: Favelas und Slums liefern die Körper für Organtransplantationen oder Pornographie. Die Soziologie würde diese Phänomene als Extremform der Exklusion zu beschreiben suchen, statt diese Reduktion von Personen auf ihr nacktes Leben für exemplarisch zu halten. Und arbeiten nicht staatliche Organe daran, diese Form der Ausbeutung zu unterbinden und zu bestrafen? Und könnte man nicht in der Effizienz, mit der auf einem Territorium verhindert wird, irgendeine Person als bloßen Körper zu behandeln, um ihn dann beliebig zu traktieren, einen Unterschied ausmachen zwischen, sagen wir, Italien und Brasilien oder zwischen Frankreich und Thailand? Nein, das könnte nur ein Blinder, denn jeder andere würde "erkennen", daß die "moderne Biopolitik" hier alle Unterschiede eingeebnet hat und der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand der Normalfall "der Politik unserer Zeit" darstellt. Der homo sacer ist immer und überall. Er sitzt gefesselt in der deportation class der Lufthansa oder mit geschorenem Haupt in einem exterritorialen Armeegefängnis auf Kuba, er bevölkert die Dritte Welt und vegetiert in den Außenbezirken der Großstädte dahin. Die Faszination des Begriffs mag daher rühren, daß jedermann das nackte Leben zu erblicken vermag, wo und wann er nur will. Agamben hat damit erreicht, was abstrakteren und kargeren Begriffswelten verwehrt geblieben ist: Illustrierbarkeit. Sie wird ihn für die Kulturformate der Medien unwiderstehlich machen.

Titelbild

Giorgio Agamben: Homo sacer.
Übersetzt aus dem Italienischen von Hubert Thüring.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
224 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3518120689

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch