Das entscheidende Interesse

Ein Sammelband beleuchtet das Verhältnis zwischen feministischer Wissenschaftstheorie und politischer Praxis

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sei praktischer, Theoretiker zu sein, hat ein Scherzbold einmal verlauten lassen. Mit dem Verhältnis von wissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis ernsthaft auseinandergesetzt haben sich hingegen die Autorinnen eines von Renate Niekant und Uta Schuchmann herausgegebenen Sammelbandes. Hier geht es allerdings nicht um Theorie und Praxis schlechthin, sondern um deren feministische Varianten.

Der Band ist aus der Jahrestagung des "Arbeitskreises Politik und Geschlecht" in der "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft" hervorgegangen, die vom 4. bis 6. Februar 2000 in Berlin abgehalten wurde. Die Beiträge bilanzieren die Ergebnisse von 30 Jahren feministischer Wissenschaftskritik und analysieren die gegenwärtigen gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen von Wissen aus einer "feministisch-politikwissenschaftlichen Perspektive". Hierzu gliedert sich der Band in zwei Teile, deren erster sich mit den Grundlagen feministischer Wissenschaftskritik und Erkenntnistheorie befasst, während der zweite sich Frauen in wissenschaftlichen Institutionen und feministischen Politiken widmet. In diesem zweiten Teil werden sowohl Fragen des Gender Mainstreaming in Wissenschaftsorganisationen (Christine Färber) und institutionalisierter Gleichstellungspolitik in Hochschulen (Viola Philip) erörtert. Eva Brinkmann to Broxen zeigt, mit welchen Widrigkeiten autonome feministische Forschungspraxis zu kämpfen hat. Sie sei, so to Broxens ebenso pessimistisches wie realistisches Fazit, "im Begriff Geschichte zu werden". So musste das von ihr als Beispiel herangezogene "Frankfurter Institut für Frauenforschung", an dem sie selbst tätig gewesen war, die Tore schließen, da ihm nach der hessischen Wende 1999 innerhalb von zwei Jahren die Mittel zunächst gekürzt und dann ganz gestrichen worden waren. Bettina Roß berichtet in einem historischen Beitrag von den "ersten Studentinnen in ihren 'Karrieren' in Deutschland".

Der erste Teil des vorliegenden Buches setzt mit einem Beitrag von Barbara Holland-Cunz ein, in dem die Gießener Politologin anhand der Theorien und Thesen von Maria Mies, Evelyn Fox Keller, Sandra Harding und Donna Haraway einen (Rück-)Blick auf einige der "wichtigsten Varianten" feministischer Visionen wirft und die These vertritt, "[d]ass die Vision feministischer Wissenschaft sehr viel stärker an den klassischen Vorgaben wissenschafts-theoretischer Überlegungen orientiert ist, als die feministischen Visionärinnen selbst zur Kenntnis nehmen". So sei die Kritik an der Prätention wissenschaftlicher Objektivität und Wertfreiheit durchaus nicht genuin feministisch. Immerhin habe auch der "wissenschaftlicher Traditionalist" Karl R. Popper erkannt, "dass einzelne WissenschaftlerInnen weder objektiv und wertfrei noch unparteilich sein können, ja dies noch nicht einmal sein sollten". Somit stelle sich die Frage, ob feministische Wissenschaftstheorie nicht gegen Windmühlen ankämpfe. Ganz anders verhalte es sich jedoch beim Kampf gegen den Geschlechterbias im "normalwissenschaftliche Berufsalltag". Daher mache "geschlechter-analytische Forschung" aus einer "beliebigen Wissenschaftlerin" nicht "zwangsläufig" eine Feministin, sondern nur "konsequente politische Praxis" innerhalb oder auch außerhalb des Wissenschaftsbetriebes.

Dem ersten Teil dieser Aussage würde zweifellos auch die Wiener Erkenntnistheoretikerin Waltraud Ernst zustimmen, die im vorliegenden Band die Ergebnisse ihrer instruktiven Dissertation (vgl. literaturkritik.de 7/1999) weiter entwickelt. Ebenfalls einig dürften sich die beiden Feministinnen darin sein, dass die Ablehnung des Objektivitätskriteriums durch feministische Wissenschaftler "nur einige klassische Topoi der Wissenschaft über sich selbst" spiegelt, wie Holland-Cunz formuliert. Die Frage, "ob Forschungssubjekte und -objekte im Erkenntnisprozess eher zu isolieren oder zu kontextualisieren sind", steht für Ernst allerdings gar nicht im Mittelpunkt des Interesses. Entscheidend sei vielmehr, wie das epistemische Verhältnis konstruiert wird. Denn das Verhältnis von Subjekt- und Objektposition im Erkenntnisprozess gebe über das Erkenntnisinteresse Auskunft. Die diesbezüglichen Leitfragen feministischer Wissenschaft sind Ernst zufolge: "Wer konstruiert? Was wird konstruiert? Für wen wird konstruiert? Wie sieht der Konstruktionsprozess aus?" Kurz: "wer da was für wen und mit welchen Methoden in welchem soziopolitischen Umfeld konstruiert". Daher sieht Ernst ebensowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit einer spezifisch feministischen Wissenschaft. Das die feministische Wissenschafen von der normal science unterscheidende Kriterium ist Ernst zufolge deren spezifisches Erkenntnisinteresse. Dieses forschungsleitende Erkenntnisinteresse ziele auf Aspekte der "epistemischen und sozialen Veränderung", genauer auf die "Überwindung struktureller Geschlechterhierarchien" und auf "Emanzipationsprozesse von Personen aus gegebenen Positionierungen in Geschlechterhierarchien". Verbindlichkeit wissenschaftlichen Wissens stelle sich somit nicht über ein wie auch immer zu begründendes Wahrheitskriterium her, sondern über "effektive soziale Veränderung".

Heike Kahlert, ihres Zeichens Soziologin und ebenso wie Waltraud Ernst Dekonstruktivistin, stellt die in den Ohren mancher ihrer Zunftgenossinnen sicherlich provokant klingende These auf, dass der Feminismus bereits "in seiner Wurzel" postmodern sei, da das "postmoderne Denken" die "Ambivalenz, Widersprüchlichkeit und Reflexivität der 'Moderne'" dekonstruiere und "die Bedeutung von Differenz [...] als Kategorie für Pluralität" betone. Feministische Wissenschaftlerinnen, so führt sie weiter aus, "de-kon-struieren die herrschende Wissen(schaft)sordnung und Denktradition aus der Perspektive der Geschlechterdifferenz und produzieren so einen neuen Text".

Ebenfalls erwähnenswert ist eine Unterscheidung, die Alice Ludvig trifft. In ihrem Aufsatz zu "Interventionen des Black Feminism in Theorie und Praxis" prägt sie den Begriff "Diversitätsfeminismus" zur Bezeichnung eines Feminismus, der sich im Gegensatz zum Differenzfeminismus den Unterschieden zwischen Frauen widmet.

Titelbild

Renate Niekant / Uta Schuchmann (Hg.): Feministische Erkenntnisprozesse. Zwischen Wissenschaftstheorie und politischer Praxis.
VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, Leverkusen 2003.
233 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3810032085

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch