Männer ohne Absichten

Ror Wolfs neue "Ausschweifungen"

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein Mann, ein Generalvertreter, trat zur Tür herein und schoß sechsmal auf einen nackten Zahnarzt." Was ist so komisch an diesem Satz? Es ist ein erster Satz, gleich ein Knalleffekt, und das Drama, das er enthält, ist damit fast schon abgehandelt. Danach folgt nur noch: "Das Bett färbte sich rot. Eine nackte Frau sprang aus dem Bett und verschwand durch die Nebentür. Der Zahnarzt starb, und der Generalvertreter verließ das Land." Der Leser bekommt, was er, behaglich zurückgelehnt, im Grunde immer verlangt: Drastisches, das Unglück anderer. Sex & Crime, eine blutige Eifersuchtsszene. Nur: Hier ist das derart verkürzt und unvorbereitet, dass diese Bedürfnisse zwar angesprochen werden, aber unbefriedigt bleiben. Und düpiert bleibt man zurück - aber verblüfft kichernd, ohne zu wissen, ob man das darf.

Ror Wolf hat wieder ein Buch geschrieben. Es ist Kurzprosa, "siebenundvierzig Ausschweifungen", fünf Zeilen bis 13 Seiten lang. Sollte man annähernd Inhalte angeben aus diesem Nicht-Erzählen, Anti-Erzählen, man könnte vielleicht zumindest sagen: Es geht immer um Männer. Katastrophen, Unfälle, Gewalt spielen eine Rolle. Eine gewisse Weltenbummleratmosphäre scheint manchmal zu wehen, mit wechselnden exotischen Orten und viel Zeit. Andererseits aber Provinz: Mainz-Hechtsheim, Mainz: Boppstraße. Texte, die diesmal persifliert werden, sind erstens Krimis, Groschenkrimis ("Hinter seiner gebräunten Stirn verbarg sich der Scharfsinn Collunders. Seine Faust war gefürchteter als Wobsers Faust"), zweitens wissenschaftliche Abhandlungen ("diese Angabe ist unrichtig"; "wie Ramm behauptet"), drittens bunte Meldungen - zum Beispiel mit der Manie, dürren Worten um Mord und Familiendramen die völlig nichtssagenden Berufs- und Ortsangaben beizugeben. Auch das macht den oben zitierten Satz - den "nackten Zahnarzt" - so komisch.

Wieder hat Ror Wolf Groteskes, Absurdes, Traumartiges geschrieben, das den Leser schwanken lässt wie trunken oder wie auf einem Schiff; kein fester Boden, nichts Erwartbares, nirgends. Deshalb ist die Leseposition hier eben keine behagliche; in diesen Texten kann man sich nicht einrichten, sie springen einen an und hauen einen um. Kaum denkt man, ein Erzählcode sei etabliert, so ändert er sich, abrupt oder unmerklich.

Und noch einmal gilt es, genauer hinzusehen - jedes neue Buch von Ror Wolf eine neue Herausforderung: Wie funktioniert das? Wie macht er das, dieses Verrücken, dieses Verschieben? Was erzeugt solchen Schwindel und Taumel?

Er lässt das Erwartete weg und führt Entlegenes zusammen - das gilt für einzelne Sätze wie für ganze Texte. Logisch-rhetorische Konnektoren verbinden Unzusammenhängendes: "Und da er nichts essen wollte, beschloss ich, ihn zu töten"; "Im Vergleich zu den Eigenarten der Polarmalerei ist Berlin nicht der Rede wert". Texte fangen an wie eingangs zitiert, und dann: "Das ist aber nicht die Geschichte, die ich erzählen wollte. Ich wollte folgende Geschichte erzählen": Es folgt eine ganz andere "Geschichte", verbunden mit der anfänglichen durch ein völlig beliebiges Reihungskriterium, etwa: "Am gleichen Abend". Andererseits wird Zusammenhang innerhalb des Erzählbands ständig behauptet. "Die nächste Geschichte" ist etwa der Titel eines Textes, und häufig sind Schlussankündigungen, man werde diesen oder jenen Mann jetzt für einige Zeit aus den Augen verlieren - allein, der Mann kehrt nie wieder. Vieles läuft hier ins Nichts, ködert ins Leere.

Man hat es mit einem generellen Entzug von Selbstverständlichkeit zu tun. Sein gesunder Menschenverstand hilft dem Leser gar nichts, weil die Welt aus den Angeln ihrer bekannten Zusammenhänge gehoben ist. Ursachen oder Konsequenzen werden nie genannt, nichts hat einen Einfluss auf das Folgende. Will heißen: Es gibt keinen Kontext. Existentielles wird als nebensächlich ("er lebte übrigens nicht lange"), Nebensächliches als zentral präsentiert. Die Dinge sind entweder eine Kategorie zu abstrakt - jemand bemerkt "ein ihm unbekanntes Tier, das augenblicklich zu knurren" beginnt - oder grotesk detailliert: Jemand spielt mit dem Gedanken, sich eine Kugel "durch die Harnröhre in seinen Leib hineinzuschießen". Überhaupt scheint das Prinzip Relevanz unbekannt, stattdessen: seltsame Unverhältnismäßigkeit, Unangemessenheit. Auch im Eingangszitat wird mit verschiedenerlei Maß gemessen: Die Frau verschwindet durch die Nebentür, der Generalvertreter hingegen verlässt das Land. Das geht bis zur kompletten Abwesenheit von Maßstäben, man bedenke allein den Gesamttitel "Zwei oder drei Jahre später" - als was?

Einordnungen finden nicht statt, oder falsche: "Niemand, dem wir es nicht erklären, wird dahinter kommen, warum sich zwei ganz ähnlich aussehende Männer so unterschiedlich verhalten". Auch die seltene Kommunikation zwischen Figuren ist ein einziges Aneinandervorbeireden und erinnert darin ans absurde Theater. "Um es kurz zu machen: Damals fragte ich diesen Mann, was für eine schillernde weiche Masse das sei, die auf dem Fußboden liege. Das wisse er nicht, sagte er, was ich denn, fragte er, von den Schallerweiterungsplänen halte. Mein Herr, sagte ich damals [....], von den Schallerweiterungsplänen halte ich nichts. [...] Natürlich war nun die Rede von meiner Reise nach Alabama": Nein, auch in den Weglassungen, auch davor und danach steht nichts, was dieses Gespräch erhellen würde.

Was aber sind das für Figuren, für Männer in diesen Geschichten, was wird über sie gesagt, wenn sie schon zueinander nichts sagen?

Natürlich ebenfalls nichts. In den Texten, die mit der Textsorte der wissenschaftlichen Abhandlung spielen, wird zwar zu einer umfassenden Beschreibung, Charakterisierung angehoben - zuerst glaubt man, es mit einer biografischen oder psychologischen Studie zu tun zu haben, bei der zahlreiche Vor-Forscher zu widerlegen sind. Dann aber geht das unmerklich über ins Ethnologische, ja: Zoologische: "Dieser Mann, ganz von Haut bedeckt, wie mir schien"; "die Zahl seiner Füße ist mir nicht klar"; "Die Wärme locke ihn herauf aus dem Keller". Der Mensch, der Mann wird zum seltenen Tier. Und zwar zum durchaus gefährdeten Tier - Mord und Totschlag, Naturkatastrophe und Apokalypse bedrohen ihn von außen, aber diese Männer scheinen auch in sich selbst verstört, welt- und lebensfremd, aufs Rührendste idiosynkratisch. Von einem von ihnen heißt es, er habe die Angewohnheit, vor unbekannten Erscheinungen heftig zu erschrecken: "Er fuhr dann zitternd ein Stück zurück und schloß aus Verzweiflung die Augen". Ein anderer stirbt bei einem Gewitter, aber angeblich vor Entsetzen über das Gewitter: "Scheinbar geblendet sprang er sofort nach dem Aufleuchten eines Blitzes empor, drehte die Ohren dem rollenden Donner nach, sah wehmütig auf seine vom Regen benäßten Hände und schüttelte den durch das gewaltige Ereignis übermäßig beschwerten Kopf bis zu dem Augenblick, an dem ein Schlag seinem Leben ein Ende setzte". Hier ist auf ganz bezaubernde Weise Katastrophe mit Komik und einer gewissen Zärtlichkeit vermischt.

Ja, manchmal will man gerührt sein wie über seltene Äffchen, aber an dieser Stelle fangen die Äffchen dann meistens an zu kopulieren. So auch hier: Ein menschenscheuer, lichtscheuer Mann, einer dieser einsamen Wölfe, kreuzt nachts auf der Straße eine Passantin. "Sie hatten einander noch niemals gesehen, aber sie blieben stehen, sie betasteten sich eine Weile, befriedigten ihren Geschlechtstrieb und gingen weiter". Dieser fremde Blick sorgt, neben der Komik, für einen bestechenden Umkehrungseffekt: Es ist, als wäre die Spezies Mensch (oder Mann) unbekannt, als wäre sie Marsbewohnern zu beschreiben. Wie wirken wir wohl auf Außerirdische, was stünde in ihren Abhandlungen über uns von der Erde? Oder auch: Wie würden die von den Zoologen beschriebenen Tiere ihrerseits die Zoologen beschreiben? Brigitte Kronauer, ohnehin eine der größten Fürsprecherinnen Ror Wolfs, hat einmal in anderem Kontext formuliert: "Begann nicht das wirkliche Entsetzen, wenn man glaubte, die Welt wäre die sich Grausende?"

All diese Verrückungen und Verfremdungen gehen letztlich aufs Konto des Erzählers, und seine Weltverlorenheit, Weltfremdheit (im Wortsinn) vermischt sich mit der der Figuren. Ein Ich-Erzähler ist er, der sich aber unumwunden als Autor zu erkennen gibt - seiner selbst und seiner Leser sehr bewusst und insofern dann wieder gar nicht naiv, sondern durchaus gewieft. Was der Leser so erwartet, weiß er genau - er weckt großspurig Spannung, gibt sich interessiert am Wohlbefinden des Lesers, meldet auch mal Selbstzweifel an - stets im vollen Bewusstsein des Publikums.

Dies alles aber nur, um den Leser dann umso gründlicher abstürzen oder im Regen stehen zu lassen - manchmal legt er noch nach und ergeht sich in richtigen Publikumsbeschimpfungen -, und eben das nicht zu liefern, was zu erwarten noch geschürt wurde. Obwohl der Erzähler von einem großen Erzähldrang, Erzwählzwang beherrscht scheint ("Es ist mir sehr peinlich, Ihnen von einem sehr gewöhnlichen ganz elenden kleinen Vorfall berichten zu müssen"), besteht seine erzählerische Geste vor allem im triumphierenden Verweigern von Erzählen. Er unterlasse es, die weitere Entwicklung zu schildern, verkündet er am Ende keiner Entwicklung. Am Ende des dritten Tages habe er ein Kratzen gehört, schreibt er an anderer Stelle: "Ich werde Ihnen nichts von diesem Kratzen erzählen." Damit betont er seine Erzählerallmacht, lockt mit uneingelösten Möglichkeiten - "Ich könnte den Mond über Manhattan beschreiben und den wehenden Nebel". Andererseits: Hat er damit nicht schon Mond und Nebel beschrieben? Das Prinzip der erst recht evozierenden Negation herrscht allerorten. "Er hat keinen gedeckten Anzug an und keinen Wintermantel." "Von einer Geburt mit Froschkopf weiß ich überhaupt nichts, ich habe davon auch nie etwas erzählt". Manchmal wird das Erzählen auch unter Berufung auf Diskretion verweigert - eine Erzählkonvention wird also gebrochen mit Verweis auf eine andere Konvention: Vom Inhalt eines Päckchen wird nicht berichtet, weil der unters Postgeheimnis falle; oder "persönliche Gründe" hielten den Erzähler davon ab, "das Folgende der Öffentlichkeit" zu präsentieren.

Deutliche Ebenenüberschreitungen sind auch die zahlreichen Fiktionsbrüche, die den Erzähler als Autor postulieren, ohne ihn als Ich-Erzähler aufzugeben ("Ich schüttete heißes Wasser in eine erfundene Teekanne"). So kommt es, dass die Figuren in die Welt des Autors eindringen, damit in ihr eigenes Ersonnenwerden. "Kurz darauf erfand ich einen alten unverheirateten Mann und wollte gerade in meinen Aufzeichnungen fortfahren, als dieser Mann mit einem unterdrückten fernöstlichen Lächeln die Tür öffnete. Er setzte sich in den kleinen chinesischen Sessel und sah mir beim Schreiben zu." Der Taumel, der sich hier einstellt, ist maximal bei folgender Stelle - vorangegangen ist wohl die Beschreibung eines Bildes: "Eine Weile suchte man nach dem Schöpfer des Bildes, nach Collunder, und nun sah man ihn: im mondscheinbestrahlten Hintergrund, verschwommen, aber trotzdem erkennbar: Da stand Collunder, der das soeben Beschriebene nicht nur notierte, sondern auch noch malte." Ist Collunder nun auf dem Bild zu sehen oder ist er der Schöpfer des Bildes, und notiert er wirklich das, was wir gerade lesen? Wer aber ist dann der Erzähler? Erfindung und Geschehen, Darstellung und Dargestelltes sind hier dermaßen verwoben, verschoben und ineinandergespiegelt, dass einen ein ungläubiger Schwindel packt wie beim Betrachten eines Bildes von M. C. Escher. Man schaut dreimal hin und reibt sich die Augen.

In den Umkehrungen, Negierungen und Verweigerungen des Erzählers, in seinem Verprellen des fiktiven Lesers liegt nun natürlich, eine Stufe höher, das ganze Können des Autors Ror Wolf; er kommt damit dem Leserbedürfnis nach Neuem, Unerhörtem, nach der ungeahnten, umstürzlerischen Perspektive umso grundsätzlicher, einmaliger, süchtigmachender (Brigitte Kronauer) nach. Erzählen wird neu verhandelt: Warum erzählen wir? Warum lassen wir uns was erzählen? Was ist der Rede wert? Und das Nicht-Erzählen, Anti-Erzählen ist auch ein Erzählen des Nichts, die erzeugte Absurdität ist erstens komisch, aber zweitens existentiell - weshalb schon andere sich an Beckett, an Kafka erinnert fühlten. Man könnte auch Bórges und Lautréamont anführen - jedenfalls: Kopf durchgepustet, Welt, wie wir sie kennen, weggefegt, Wahrnehmung verrückt und geschärft nach, bei der Lektüre von Ror Wolf. Eine Dusche in Fremdheit, eine einzige Verblüffung. Und natürlich: selten so gelacht, so unsicher und so befreit zugleich.

Titelbild

Ror Wolf: Zwei oder drei Jahre später. Siebenundvierzig Ausschweifungen.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2003.
122 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3627001109

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