Die Last der Schuld

Jost Noltes Roman "Der Feigling" orientiert sich an einer realen NS-Biographie

Von Heiko SeibtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heiko Seibt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sie konnten nicht jeden Verdächtigen vor Gericht zerren, sondern allenfalls ausgesuchte Repräsentanten des ehemaligen Regimes. Darum gab es für viele, wenn nicht für die meisten Beschuldigten, eine reelle Chance, sich in ein besseres Leben zu retten."

Jost Noltes Protagonist Johann Viktor Schierling nutzt diese Chance, indem er über seine Vergangenheit als Kreishauptmann unter den Nationalsozialisten Stillschweigen bewahrt und sich in der Nachkriegszeit als linksliberaler Publizist etabliert. In seinem Roman "Der Feigling" zeichnet Nolte den Lebensweg dieser Figur nach, die aufgrund mangelnder Charakterstärke zum Mittäter wird, sich in Galizien an der Misshandlung und Ermordung von Juden beteiligt und später bemüht ist, sich von dieser Schuld reinzuwaschen. Unter neuem Namen arbeitet Schierling nach Kriegsende weiter als Publizist und führt trotz zwei Entnazifizierungsverfahren ein Prominentenleben als linksliberaler Intellektueller. Erst in der Zeit der deutschen Wiedervereinigung holt ihn seine Vergangenheit ein.

Der 1927 in Kiel geborene Autor Jost Nolte entwickelt in seinem Roman eine Biographie, die sich am Leben des Journalisten Claus Volkmann alias Peter Grubbe orientiert. 1933 trat Volkmann mit neunzehn Jahren in die NSDAP ein, acht Jahre später übernahm er als einer der ersten deutschen Verwaltungsbeamten im besetzten Ostgalizien den Posten des kommissarischen Kreishauptmanns für Kolomyia. In dieser Position trug Volkmann bis zum Sommer 1942 die Mitverantwortung für Razzien, Massenerschießungen und für Deportationen in das Vernichtungslager Belzec. 1945 floh er vor der Roten Armee nach Westen und legte sich eine neue Identität zu. Unter dem Namen Peter Grubbe machte er als linksliberaler Journalist und Sachbuchautor Karriere. Er schrieb u. a. für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die "Welt" und den "Stern".

Von 1963 bis 1969 ermittelte die Staatsanwaltschaft Darmstadt gegen Volkmann und zahlreiche weitere Verwaltungsbeamte aus Kolomyia wegen Mord sowie Beihilfe zum Mord. Aus Mangel an Beweisen (oder nur aus unzureichendem Interesse?) wurde das Verfahren gegen jeden von ihnen eingestellt. Auch der in der DDR-Literaturzeitschrift "Sinn und Form" erschienene Beitrag Günther Steinbergs, in dem der Schriftsteller und Journalist Volkmanns Doppelleben thematisiert, änderte am Ansehen des Publizisten nichts. Erst ein Artikel Philipp Maußhardts in der "taz" lenkte im September 1995 die öffentliche Aufmerksamkeit auf Volkmanns frühere Tätigkeit in Kolomyia.

In Noltes Roman "Der Feigling" stellt die Überlegung, wie aus einem Mitläufer ein Mittäter werden kann, ein ebenso zentrales Thema dar, wie die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Schuld. Dem französischen Hermeneutiker Paul Ricœur zufolge ist die Schuld "die Last, welche die Vergangenheit der Zukunft aufbürdet. [...] Zunächst aber lastet diese Last. Und zwar belastet sie die Zukunft. Die Schuld verpflichtet." Eben dieser Pflicht aber versucht sich Noltes Protagonist zu entziehen. Äußere Umstände zwingen ihn dennoch zu einer Auseinandersetzung mit seinem Handeln in Galizien während des Krieges.

Titelbild

Jost Nolte: Der Feigling.
Scherz Verlag, München 2003.
416 Seiten, 23,60 EUR.
ISBN-10: 3502105146

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