Über die Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen

Ein Sammelband stellt die Frage nach einer möglichen ästhetischen Erfindung der Moderne

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand, der sich mit Problemen und Begriffen wie Moderne und Modernisierung, Epochen und Epochenübergänge, Fortschritt und Stagnation beschäftigt, kann es vermeiden, sich der Tatsache einer 'unsauberen' Überschneidung zwischen verschiedenen Begriffen von Moderne und Modernisierung zu stellen. Gleichwohl lassen sich bestimmte Merkmale ausmachen, die zum Verständigungskatalog über die Moderne gehören: Zeitbewusstsein, Transitorität, Subjektivität, Kontingenz, Reflexivität, Ausdifferenzierung oder Säkularisierung. Hans-Ulrich Gumbrecht hat mehrfach zu Recht betont, dass diese unterschiedlichen Auffassungen von Moderne wie "Kaskaden" in hastigem Ablauf aufeinander zu folgen scheinen, aber rückblickend kann man auch beobachten, wie sie sich überschneiden, wie ihre Wirkungen sich potenzieren und wie sie sich in einer - allerdings schwer zu beschreibenden - Dimension der Gleichzeitigkeit gegenseitig beeinflussen. So wird in der Forschung wiederholt auf einen komplexen Prozess der epistemologischen Modernisierung rekurriert, dessen Zentrum zwischen 1780 und 1830 vermutet wird. Genau auf diesen Übergang - als zeitgenössische Situation - bezieht sich Hegel, indem er seiner Philosophie den Status verleiht, die Geschichte zu Ende zu bringen, und in einer komplementären These behauptet, die Kunst habe nunmehr ihre Funktion für die Menschheit verloren. Bereits um 1800 zeigt sich also die Erkenntnis, dass die verschiedenen Modernisierungsbewegungen kaum als Abfolgebeziehungen zu begreifen sind, sondern als Gleichzeitigkeiten im Ungleichzeitigen verstanden werden müssen. Zu denken wäre etwa an Novalis' Bestimmung des Verhältnisses von "Antike und Moderne" 1798 im "Allgemeinen Brouillon" als das einer "Succession und Simultanen Existenz". Hierauf bezieht sich etwa Reinhart Kosellecks Konzept der so genannten "Sattelzeit" zwischen 1780 und 1830. Sie besagt bekanntlich, dass die Verschiedenheit der Texte aus der Zeit vor 1780 von einem hermeneutischen Standpunkt aus die Möglichkeit unseres Verstehens zu überschreiten droht, während wir unausgesetzt Gefahr laufen, uns mit den Texten aus der Zeit nach 1830 zu sehr vertraut zu machen. Michel Foucaults Beschreibung einer epistemologischen Diskontinuität um 1800 kann als dramatischere Version derselben Beobachtung gelesen werden, mit dem Unterschied allerdings, dass Foucault die Rolle eines Beobachters wahrnahm, der dazu verdammt war, sich beim Beobachten der Welt selbst zu beobachten. Diese Rolle entspricht genau der Beschreibung der neu entstehenden "Humanwissenschaften", mit deren Auftreten Foucault in seinem Buch "Les mots et les choses" die diskursive Schwelle von 1800 kennzeichnet.

Indem ein Beobachter zweiter Ordnung, der ebenso in den Konzepten Niklas Luhmanns und Yehuda Elkanas begegnet, sich beim Akt der Beobachtung selbst beobachtet, wird er sich unvermeidlich seiner körperlichen Konstitution bewusst, und zwar bewusst als einer komplexen Bedingung seiner eigenen Wahrnehmung von Welt. Wenn darüber hinaus der neue, selbstreflexive Beobachter weiß, dass der Inhalt jeder Beobachtung von seiner besonderen Position abhängt, dann wird deutlich, dass jedes einzelne Phänomen eine Unendlichkeit von möglichen Wahrnehmungen, Erfahrungsformen und Repräsentationen provozieren kann. Keine dieser vielfältigen Repräsentationen kann jemals für sich beanspruchen, angemessener als alle anderen oder ihnen epistemologisch überlegen zu sein. Dies ist das Problem, auf das Foucault als die "Krise der Repräsentierbarkeit" verweist, zu deren wesentlichen Merkmalen neben der Selbstbezüglichkeit noch die Dezentrierung, Fragmentierung, Depräsentation und Entmimetisierung kulturellen Sinns gehören. Noch bevor die Moderne jedoch als Denk-, Erfahrungs- und Schriftraum um 1800 gesellschaftliche Wirklichkeit erlangt, wird sie in ästhetischen Modellen entworfen und in den Künsten entfaltet. Diesem Umstand trägt ein von Britta Herrmann und Barbara Thums herausgegebener Sammelband Rechnung, in dem die Beiträger aus interdisziplinärer und internationaler Perspektive das Verhältnis ästhetischer Innovationen zum Wandel soziokultureller Praktiken erkunden. Themen der Beiträge sind ökonomische Strategien, Anthropotechniken, Medialisierungserfahrungen, Fragen nach der Materialität der Schrift und die verschiedenen (Re-)Strukturierungen von Wissen und Wahrnehmung.

Die Herausgeberinnen unterstreichen in ihrem Vorwort, dass die Ästhetik der Moderne nicht Selbstbegründungsmodelle anderer Wissensbereiche nachahme, vielmehr bereite sie den Boden für das Verständnis von 'Modernität', indem sie einerseits einen Ort zur Verfügung stelle, an dem neue Denkmodelle projektiv entfaltet werden könnten. Andererseits aber bilde sie zugleich jenen Erfahrungsraum, der unsere Interpretation von 'Moderne' bis heute präge. Neuere Forschungsansätze zu einer Poetologie des Wissens zeigten denn auch, dass die Entstehung von Wissen grundsätzlich mit imaginativen Prozessen einhergehe. Wissen werde nicht nur innerhalb der Künste, sondern generell ästhetisch inszeniert und dies finde jenseits von beginnender disziplinärer Ausdifferenzierung und neu entstehender Diskursgrenzen statt: als Zirkulation von Denk-, Wahrnehmungs- und Redemustern. Statt in der Moderne also eine Epoche krasser Widersprüche und innerer Zerrissenheit auszumachen, lenkt der Sammelband den Blick auf die Prozesse, mit denen die Frage nach den Bedingungen von Erkenntnis und Wirklichkeitswahrnehmung immer wieder neu gestellt sowie Kritik an bestehenden Wissensordnungen geübt wird. Diesem Ansatz wird in drei Abschnitten nachgegangen. Der erste Abschnitt des Bandes "Ordnen und Sammeln", worunter zwei unterschiedliche Ensembles von Praktiken, die in der Moderne untrennbar zusammengehören, verstanden werden, führt verschiedene Möglichkeiten vor, mit diesen Praktiken auf die heterogenen Sinnzusammenhänge der Moderne zu antworten. Dies geschieht in dem von Justin Stagl dokumentierten Versuch, durch Verschriftlichung der Volkskultur an vermeintlich ursprüngliche Traditionen anzuknüpfen, um daraus spezifisch moderne Ideen zu generieren, durch das bibliomane Modell einer ästhetisch fundierten Wissensverweigerung, die Kirsten Dickhaut untersucht, sowie im enzyklopädistischen Projekt der Wissensinventarisierung und -vernetzung, dem Maximilian Bergengruen nachgeht. Die Beiträge des zweiten Abschnittes "Konstruieren und Wahrnehmen" befassen sich mit dem Zusammenhang von Realitätsbewusstsein und Aisthesis. Dabei liegt ein Akzent speziell auf der Frage nach der Wahrnehmungsveränderung und -lenkung in medialer, psychotechnischer und reizästhetischer Hinsicht. Im Einzelnen geht es dabei um Schillers ästhetische Inszenierung modernen Geschichtsdenkens in Historiographie (Stephan Jaeger), um die Interdependenz von Fiktivität und Faktizität um 1800 (Britta Herrmann), um Aufmerksamkeit als Kulturtechnik der Moderne (Barbara Thums) sowie um die Technik und Ästhetik der Glasharmonika im Mesmerismus und bei E.T.A. Hoffmann (Jürgen Barkhoff). Das benachbarte Kapitel "Empfinden und Fühlen" führt diese Fragen weiter, wobei hier vor allem das Wechselverhältnis von ästhetischen Techniken, emotionalen Zuständen und soziokulturellen Effekten im Mittelpunkt steht.

Insgesamt bestätigen die einzelnen Beiträge den eingangs geäußerten Befund, dass sich Moderne um 1800 durch einen selbst propagierten radikalen Bruch mit der Vergangenheit konstituiert. Aus dieser Perspektive ist das notorische 'um 1800' ein doppeltes und ambivalentes Datum, ein Datum, das unterschiedliche Zeit- und Ereignisgehalte umschließt. Es ist zunächst eine Markierung und eine Schwelle, die eine jüngste Vergangenheit erzeugt und das '18. Jahrhundert' als Raum eines spezifischen Wissens und Signatur einer Epoche hervortreten lässt. Und es ist zugleich ein Datum, das nicht aufhört, immer von neuem zu vergehen, mit dem Stand eines Wissens zugleich die Aktualität seiner Äußerung hervortreibt und immer wieder die Epochalität einer Epoche wiederholt. Man mag dies als eine Umschreibung dessen ansehen, was man Moderne nennt. Wesentlich scheint aber Folgendes zu sein: die anfangs angesprochene 'Sattelzeit' um 1800 steht nicht nur für eine Transformation von Wissensformen, für eine konsequente Historisierung des Wissens und eine Theoretisierung der Geschichte ein, sie begründet zugleich eine Bewegung, die in der Geschichte des Wissens stets eine kontingente Konstitutionsweise aktueller Gegenwart erschließt und den Beginn einer Historisierung unserer selbst anzeigt.

Titelbild

Britta Herrmann / Barbara Thums (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne. Perspektiven und Modelle 1750-1850.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002.
253 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3826020618

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch