Eine Schildkröte mit Vorliebe für Shakespeare

Über ein eigenwilliges Kinderbuch von Silvana Gandolfi

Von Hannelore PiehlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannelore Piehler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Elisas Großmutter gehen seltsame Veränderungen vor. Ihre Beine werden immer kürzer und dicker, ihr Kopf wird kahl und klein, die Haut wird runzlig und sieht aus wie bronzefarbenes Leder. Bald kann sie sich nur noch gebückt fortbewegen - und das auch bloß ganz ganz langsam. Sie ernährt sich plötzlich rein vegetarisch, und am liebsten beißt sie dabei gleich in einen rohen Kohlkopf. Elisa ist besorgt. Um welche Krankheit könnte es sich handeln? Ist es vielleicht die Methusalemitis? Irgendwann jedoch begreift das Mädchen: Großmutter Eia verwandelt sich in eine riesige Schildkröte.

Die italienische Autorin Silvana Gandolfi hat mit "Die Schildkröte, die Shakespeare liebte" ein phantasievolles, intelligentes Kinderbuch geschrieben, das auch für Erwachsene ein Lesevergnügen ist. Während sich diese nämlich über die offenkundige Anspielung auf Kafkas "Verwandlung" (bei Gandolfi jedoch wird die Metamorphose völlig aus der Außenperspektive des kleinen Mädchens Elisa beschrieben), Bezüge zur Mythologie sowie über Zitate und Motive aus Shakespeares Dramen freuen können, erleben Kinder fasziniert, wie sich die Wirklichkeit plötzlich in ein phantastisches Abenteuer verwandelt, in der das Mädchen Elisa, ganz auf sich alleine gestellt, für ihre Schildkröten-Großmutter zu sorgen beginnt.

Das Grundthema des Buches ist der Umgang mit dem Anderen. Was ist schon normal? Und was verrückt? Großmutter Eia jedenfalls war schon als Mensch ein wenig eigenartig. Verrückte sind ihrer Meinung nach Leute, "die verwirrt umherirren und letztlich bloß versuchen, das zu werden, was sie sein könnten". Ihr eigener erster Versuch, sich zu verwandeln, schlug fehl - ihre Tochter, Elisas Mutter, der jeder Sinn für solche Dinge fehlt, hatte sie in eine psychiatrische Klinik einweisen lassen. Seither lebt Großmutter Eia völlig zurückgezogen in einer kleinen Hütte ohne Strom und spielt mit ihrer Enkeltochter leidenschaftlich gerne Shakespeare-Dramen nach oder malt "exzessive Bilder". Von Elisas Mutter will sie nichts mehr wissen. Das stellt nun Elisa, als sie die Veränderungen an ihrer Oma bemerkt, vor ein großes Problem: Sie muss die Verwandlung unter allen Umständen vor der Außenwelt verheimlichen, sonst kommt Großmutter Eia wieder in ein Krankenhaus. Alles scheint gut zu gehen, bis die Riesenschildkröte in Winterschlaf fällt und in Venedig ein Hochwasser droht.

Neben der anschaulich erzählten und spannenden Handlung, die auch ein recht gelungenes Ende findet, gefällt an Silvana Gandolfis Geschichte vor allem die Liebe zum Detail. Es sind die kleinen Beobachtungen Elisas, die blitzgescheiten Gedanken des Mädchens und vor allem der mitfühlende Blick der Autorin für jede ihrer Figuren, die dieses Buch lesenswert machen. Denn auch die Position der Mutter Elisas, die in Sorge um Großmutter Eia handelte und unter dem Zerwürfnis sehr leidet, wird verständlich gemacht. Nur zwei Dinge stören etwas: Zum einen erscheint die Reaktion der Mutter auf die verwandelte Großmutter, als sie Elisas Geheimnis schließlich entdeckt, für eine solch nüchtern denkende Person doch erstaunlich gefasst. Zum anderen wirkt die Sprache der zehnjährigen Hauptperson und Ich-Erzählerin Elisa manchmal zu aufgesetzt. Davon abgesehen ist "Die Schildkröte, die Shakespeare liebte" jedoch ein anspruchsvolles Kinderbuch, dass sich von der Masse der Veröffentlichungen positiv abhebt.

Titelbild

Silvana Gandolfi: Die Schildkröte, die Shakespeare liebte.
Übersetzt aus dem Italienischen von Bettina Dürr.
C. Bertelsmann Verlag, München 2003.
192 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3570127621

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