Das Gesetz des Ghettos

Eine junge Frau berichtet aus der Hölle französischer Vorstädte

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Glück ist bekanntlich wandelbar und erscheint in vielfältiger Gestalt. In Bangladesh zum Beispiel hat eine Frau Glück, wenn sie keine Säurebombe ins Gesicht geschleudert bekommt, nicht geblendet wird, wenn sie kein Opfer einer Massenvergewaltigung wird, und überhaupt, wenn sie noch lebt. Schreibt Tasmila Nasrin. In Frankreich ist es nicht sehr viel anders. Zumindest, wenn man als junge Muslimin in einer der verelendeten französischen Vorstädte aufwächst, wie Sohane Benziane, die mit Benzin übergossen und angezündet wurde, weil ihr Freund die Freundin eines anderen geohrfeigt hatte. Gemeinschaftliche Vergewaltigungen gehören hier zum Alltag.

Allein im Jahre 1998 verhaftete die Polizei in Frankreich 994 Jugendliche wegen gemeinschaftlicher Vergewaltigung von Mädchen und jungen Frauen. Wie hoch die Dunkelziffer ist, kann man ermessen, wenn man weiß, dass nur fünf Prozent der Vergewaltigungen erwachsener Frauen angezeigt werden - eine entsprechende Zahl für Vergewaltigungen Minderjähriger liegt nicht vor. Eine der Mädchen, die Anzeige erstatteten, ist Samira Bellil, die ihren Leidens- und Befreiungsweg "durch die Hölle der Gewalt" nun in einem Buch beschrieben hat.

Als 13-jährige himmelt die in Algerien geborene Französin Jaïd, einen sechs Jahre älteren Gang-Führer ihres Viertels, an und dient ihm als willfähriges Sexobjekt. Schon bald wird sie von K. und seinem "beste[n] Kumpel" gemeinsam mit einigen anderen Jungs im Abstand weniger Monate zweimal vergewaltigt. In den Pariser Vororten, den Ghettos algerischer Einwanderer kein ungewöhnliches 'Schicksal'. "Es war üblich, Frauen zu vergewaltigen oder sie 'herumzureichen'", schreibt Bellil. So üblich, dass sie nicht einmal wusste, dass ein Verbrechen, an ihr begangen worden ist, das sie anzeigen konnte. Einerseits hasst das nunmehr 14 Jahre alte Mädchen ihre Vergewaltiger für das, was sie ihr angetan haben, andererseits übernimmt sie deren Blick. Sie verachtet sich dafür, vergewaltigt worden zu sein und sucht die Schuld bei sich selbst.

Erst später erfährt sie durch andere, ebenfalls von K. vergewaltigten Mädchen und Frauen von Möglichkeit, eine Anzeige zu erstatten, und schließt sich auf deren Drängen hin einer gemeinsamen Anzeige an. Auf dem Kommissariat wissen die Freunde und Helfer von der Polizei, auf welcher Seite sie stehen, und versuchen nach Kräften, den Frauen die Anzeige auszureden: "Mädchen, seid ihr sicher, dass es nicht ganz zufällig ein Racheakt ist, weil er euch sitzen ließ?"

Eine dritte Gruppenvergewaltigung erleidet Bellil als 17-jährige während eines Urlaubs in Algerien, einem Land "wo man die Frauen wie Hunde behandelt". Hier sind ihre Erfahrungen mit der Polizei noch negativer als in Frankreich. Seitdem hat sie dieses "Scheißland" nicht mehr betreten.

Nach den Vergewaltigungen durch K. sieht Bellil nur noch die Möglichkeit, dem "Gesetz des Ghettos" zu gehorchen. Sie hält sich immer wieder mit Diebstählen über Wasser, "kiff[t] von morgens bis abends" und berauscht sich "mit Tanz und Alk und One-Night-Stands". Dabei versucht sie stets ihren "Ruf" zu verteidigen, "koste es, was es wolle", wenn nötig auch mit äußerster Brutalität. So kann sie nur das tatkräftige Eingreifen eines Passanten daran hindern, einer von ihr zusammengeschlagenen Frau das Gesicht zu zerschneiden.

Bellil, der es erst ein Jahrzehnt später mit Hilfe einer Therapeutin gelingt, ihre Traumatisierung zu überwinden, erzählt ihre Geschichte, um die Mädchen zu warnen, die in den Ghettos aufwachsen, und um denjenigen von ihnen, "die das Gleiche durchmachen mussten" wie sie selbst, zu zeigen, "dass es immer eine Hoffnung gibt herauszukommen". Dabei erörtert sie allerdings weder gesellschaftliche Ursachen, Hintergründe und Zusammenhänge, noch stellt sie irgendwelche Reflexionen an. Vielmehr scheint sie fast schon assoziativ immer von dem zu berichten, was ihr gerade einfällt. Die so entstandenen Brüche und Zeitsprünge machen es nicht immer ganz einfach, ihrem Lebensweg zu folgen. Auch gelingt es ihr nicht, den hohen Anspruch einzulösen, "[j]edes Wort richtig [zu] wählen, richtig [zu] überdenken, bis es reif ist". Dazu ist ihr Buch zu sehr im restringierten Code des Ghettos verfasst.

Titelbild

Samira Bellil: Durch die Hölle der Gewalt.
Übersetzt aus dem Französischen von Gaby Wurster.
Pendo Verlag, Zürich 2003.
281 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3858425605

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