Die Meistererzähler der Nationalgeschichte

Konrad H. Jarauschs und Martin Sabrows Sammelband über Konjunkturen und Krisen geschichtlicher Großdeutungen in Deutschland nach 1945

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu den wichtigsten historischen Neuerscheinungen in diesem Herbst zählt zweifellos der vierte Band von Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte", der die Periode vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der Bundesrepublik und der DDR umfasst - ein Blick in die Literaturbeilagen zur Frankfurter Buchmesse bestätigt es. Vor drei Jahren geriet die Veröffentlichung von Heinrich August Winklers zwei Bänden über Deutschlands "langen Weg nach Westen" zu einem ähnlichen Großereignis. Anscheinend besteht nach wie vor ein Bedarf an nationsbezogenen Gesamtdarstellungen, die zudem eine relativ eindeutige Interpretation dieser Nationalgeschichte liefern.

Der vorliegende Band, von den am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung tätigen Historikern Konrad H. Jarausch und Martin Sabrow herausgegeben, behandelt die verschiedenen Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Die einzelnen Aufsätze, erstmals auf dem Aachener Historikertag 2000 vorgetragen und für die Veröffentlichung aktualisiert, liefern einerseits Analysen der nach 1945 dominierenden Deutungen, andererseits Prognosen hinsichtlich der Tragfähigkeit gegenwärtiger Alternativkonzepte.

Zunächst bieten die Herausgeber einen Überblick über die Entwicklung des ursprünglich in der Belletristik verwendeten Begriffs "Meistererzählung", den sie als "eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung" definieren, "deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt". So sind mit dem Begriff auf der einen Seite durchaus positive Konnotationen verbunden - welcher Historiker strebt nicht nach Bildung einer "Schule" und öffentlicher Dominanz der eigenen Interpretation - andererseits wird er oft dann etwas abfällig verwendet, wenn man die eigene Position gegen die "herrschende Meinung" abzugrenzen bemüht ist. Die Herausgeber weisen jedoch zurecht darauf hin, dass gerade diese Ambivalenz den Begriff "Meistererzählung" so interessant macht.

Martin Sabrow verdeutlicht dann in seinem Beitrag über die DDR-Geschichtswissenschaft, wie sehr die ostdeutschen Historiker in das marxistisch-leninistische Meistererzählungs-Korsett gezwängt waren. Neben diesen methodisch-theoretischen Einschränkungen waren es auch politische Vorgaben, die mitunter zu grotesken Ergebnissen führten: so wurde etwa der - durchaus systemkonforme - Historiker Fritz Klein gezwungen, seinen den Ersten Weltkrieg behandelnden Beitrag zum "Lehrbuch der Geschichte Deutschlands" mit der Oktoberrevolution statt mit dem Kriegsende abzuschließen, da "Revolutionen eine größere historische Bedeutung zukomme als militärischen Konflikten".

Christoph Cornelißen zeigt in seinem Aufsatz über die Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, dass die überwältigende Mehrheit der westdeutschen Historiker aller vielversprechenden Bekenntnissen zur Erneuerung zum Trotz sehr schnell zu einer Geschichtsschreibung älteren Typs zurückkehrten, die Ernst Schulin als "politisch-moralisch gezähmten Historismus" bezeichnet hat. Inhaltlich blieb der kleindeutsche Nationalstaat Bismarcks der Bezugspunkt, dessen Traditionen man von denen des Nationalsozialismus strikt trennte.

Erst gegen Ende der 1960er Jahre änderte sich dies: eine damals jüngere Generation, oft - und etwas unpräzise - mit dem Etikett "Bielefelder Schule" versehen, trat an, ihre eigene Meistererzählung, die des "deutschen Sonderwegs", durchzusetzen. Am Beispiel der "Sonderwegs"-Deutung lässt sich auch verdeutlichen, dass eine Meistererzählung keineswegs eine interpretatorische Monopolstellung innehaben muss; sie kann auch von einer (in diesem Falle außerordentlich aktiven) Minderheit propagiert werden. Den zumindest vorübergehend großen Erfolg der "Sonderwegs"-Interpretation erklärt Thomas Welskopp in seinem äußerst lesenswerten Beitrag dadurch, dass sie zwar ihre Westorientierung mit einer dezidierten Kritik an den bundesrepublikanischen Verhältnissen verband, aber dennoch auch die Möglichkeit der Identifikation mit deren progressiven Zügen bot. Aus historiographiehistorischer Sicht erwähnenswert ist ferner Welskopps Hinweis, dass auch in der explizit gegen den Historismus gerichteten "Historischen Sozialwissenschaft" (deren Protagonisten die These des "deutschen Sonderwegs" vertraten) einige historistische Elemente zu finden sind.

Konrad H. Jarausch diskutiert in seinem Beitrag Alternativen zu den bislang dominierenden Meistererzählungen. Seine Einschätzung einer gegenwärtigen "neuen Unübersichtlichkeit" führt ihn letztlich zu einem Plädoyer für plurale und interdependente Narrative. Eine solche Pluralisierung mache "die Interaktion unterschiedlicher Sichtweisen zum konstituierenden Merkmal des historischen Denkens", Unterschiede würden nicht als störend, sondern als Bereicherungen empfunden. So könnte zum Beispiel eine deutsche Nachkriegsgeschichte entstehen, die nicht in einen ost- und einen westdeutschen Teil zerfalle.

Nach einem Aufsatz Dirk van Laaks über den Platz des Holocaust im deutschen Geschichtsbild und Hanna Schisslers lesenswerten, äußerst skeptischen Ausführungen über den gegenwärtigen Stellenwert der Geschlechtergeschichte in Deutschland stellt Matthias Middell einige "Fragen an die Leittexte der Zukunft". Ob der 11. September 2001 wirklich eine für die zukünftigen "Meistererzählungen" wichtige Zäsur darstellt, erscheint vom heutigen Standpunkt aus eher fraglich. Middells Forderung nach der "Rekonstruktion der Traditionsbestände weltgeschichtlichen Denkens" in der deutschen Geschichtswissenschaft ist hingegen zuzustimmen.

Dass die traditionellen "Meistererzählungen" ergänzt, vielleicht sogar durch den Bedürfnissen der Gegenwart eher entsprechende Alternativen abgelöst werden sollten - darüber herrscht unter den hier zu Wort gekommenen Historikern Einigkeit. Wie diese Forderung in die Praxis umzusetzen ist, ist eine andere (und wohl bedeutend schwierigere) Frage. Der vorliegende Sammelband bietet jedoch zumindest einige Anregungen zu ihrer Beantwortung.

Titelbild

Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002.
256 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3525362668

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