Fleischwerdung

Michel Henry rehabilitiert Descartes

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der bislang in Deutschland vor allem im Kreis von Phänomenologen und Theologen bekannte, im vergangenen Jahr verstorbene französische Philosoph Michel Henry zielt in seinem umfangreichen Essay aus dem Jahre 2000 über den christlichen Inkarnationsgedanken auf ein Doppeltes: Einerseits geht er gegen den populär von Nietzsche erhobenen Vorwurf der Leibverächtlichkeit des Christentums an, andererseits will er die Cartesianische Idee der Subjektivität unter diesem Gesichtspunkt rehabilitieren und ihr sinnliches Fundament für das philosophische Denken zurückgewinnen.

Existentialismus und Phänomenologie waren in Frankreich seit jeher Philosophien des Katholizismus. Um so mehr in den Kriegsjahren, die das Sisyphos-Paradox gebaren: Jeder Folgerichtigkeit zum Trotz wurde in der Sinnlosigkeit der Existenz der letzte Grund für ihre Bejahung (wieder)entdeckt: credo quia absurdum. Auf Tertullian, den Kirchenvater des 2. Jahrhunderts, dem man diesen Satz fälschlicherweise zugeschrieben hat, auf den der Gedanke einer Begründung im Widersinnigen in seiner Schrift "De carne Christi" jedoch unter anderem zurückgeht, rekurriert denn auch der 1922 geborene und am französischen Widerstand beteiligte Henry. Entgegen des von Foucaults Epigonen in die Welt gesetzten Kurzschlusses einer derzeit inflationär strapazierten Philosophie der Lebenskunst, welche aus der antiken Selbst- und Fremdzücht(ig)ungsökonomie einen körperbejahenden Lebensbezug ableitet, erinnert Henry an den griechischen Ewigkeitsfanatismus vor allem des platonischen Denkens. Der Körper ist demnach etwas, das der Mensch mit dem Tier gemein hat. Erlösung erst bringt der Tod, der die Seele von seinem irdischen Gefängnis befreit. Der im antiken Wissen geschulte und Griechisch sprechende, schreibende und vor allem denkende Paulus verfestigte schließlich gegen den extravaganten und gar nicht griechischen Beginn des Johannes-Evangeliums, wonach das Wort erst Fleisch werden muss(te), den Glauben an die Sündhaftigkeit des 'Fleisches', der von seinen Nachfolgern bis heute in der Stadt und im Erdkreis gepredigt wie verteidigt wird.

Henrys 'radikale Lebensphänomenologie' setzt bei dem Skeptiker des Leibes par excellence an: René Descartes. Zu Beginn der Neuzeit traf er die folgenschwere Unterscheidung zwischen 'res extensa' und 'res cogitans' und aktualisierte damit die alte platonische Trennung von Welt und Denken im naturwissenschaftlichen Weltbild. Wohingegen hier die Wahrheit als intellegible Idee gegeben ist, findet man dort nur reine Ausdehnung, die Widerständigkeit und Unverlässlichkeit der Materie. Einem Hinweis des Descartes Kommentators Ferdinand Alquiés folgend, stellt Henry jedoch heraus, das Descartes nicht einfach dem Galileischen Paradigma einer Geometrisierung der Erfahrung zugunsten deren Herabstufung gegenüber den in kosmischer Unendlichkeit wie in irdischen Niederungen gültigen Axiomen anheimfällt, sondern vielmehr in der Evidenz der Selbsterfahrung das Fundament jedes Wissens findet. Die "E-videnz", das Augen-fällige ersetzt das Argument durch die Überzeugungskraft des sinnlich Erfahrbaren. Richtig ist, dass Descartes gegenüber dem Sinnlichen seine Zweifel äußerte und gar die 'Evidenz' seiner eigenen Körperlichkeit als Täuschung in Frage stellte. Doch auch das Sich-Täuschen ist ein sinnlicher Vorgang, der Trug von Auge, Hand, Ohr oder Nase. Wenn Descartes am Ende nur sicher sein kann, dass er es ist, der sich täuscht, so tut er das auf der Evidenz des Gefühls seiner selbst, insofern er denkt. Das Denken hier ist nicht mehr das einer abstrakt-rationalen oder gar mathematischen Vernunft, sondern einer lebendigen, leibenden Vernunft. Der Nachcartesianer Maine de Brian bereits erkannte dieses eigentliche Fundament der Welterfahrung. Husserl, dem die Entdeckung der Leiblichkeit für die Philosophie des 20. Jahrhunderts gemeinhin zugeschrieben wird, brauchte viele Jahre, um Descartes einen positiven Zug abgewinnen zu können. Erst als er 1929 in Paris seine später als "Cartesianische Meditationen" veröffentlichten Vorträge hält, wird Descartes des Verdachts übergebührlicher Rationalisierung freigesprochen. Jedoch hat sich bis heute die Feindschaft der Phänomenologen und Körperphilosophen gegenüber Descartes gehalten. - Zu Unrecht eben wie Henry zeigt.

Auch der ausgezeichnetste Philosoph des Leibes im Nachkriegsfrankreich, Merleau-Ponty, und mithin noch Levinas konnten diesen Denkweg nicht verlassen. Die Selbstbezüglichkeit der sinnlichen Erfahrung war ihnen verdächtig. Dagegen demonstriert Henry - diesmal rein logisch -, dass die von beiden in Anschlag gebrachte Doppelfigur des aktiven Berührens und passiv erfahrbaren Berührtwerdens nicht einen anderen Menschen voraussetzt (wie Levinas meint), noch etwas ist, das einen Körper als entweder aktiviert oder passiviert (Merleau-Ponty), sondern eine Spaltung im reflexiven 'Sich' bedeutet, der ein Existenzbeleg für die 'Selbstheit' ("Ipsität") ist: Die Selbstberührung der linken durch die rechte Hand ist umkehrbar. Ich bin potentiell immer zugleich berührter 'Körper' und berührender 'Leib'. Diese 'Reversibilität' dehnt Merleau-Ponty - in den Augen Henrys fälschlich - auf das Verhältnis von Leib und Welt aus, indem er ein Sichempfinden des sinnlichen Substrats durch den Menschen hindurch annimmt, das er als 'Fleisch der Erde' anspricht. Dies meint beispielsweise - wie wiederum Lacan ausführte, auf den Henry bezeichnender Weise nicht rekurriert -, dass nicht nur ich die Welt auf meine Weise sehe, sondern ich auch im Feld der Sichtbarkeit stehe und sichtbar bin - im positiven wie negativen Sinne. Henry dagegen will die inklusive Umkehrbarkeit Berühren/Fühlen für den Eigenleib reserviert wissen.

Warum? - Henry interessiert nicht im eigentlichen Sinne die Leiblichkeit. Ihm geht es vielmehr um den Modus der christlichen Offenbarung. Deren transzendentale Bedingungen sozusagen. Sie sei nicht nur das kulturelle Spezifikum des Abendlandes, sondern nebenbei deren erste eigenständige Philosophie insofern hier ein Prinzip ausbuchstabiert wird. Und als solches ist es zugleich der Anfang der Phänomenologie, insofern Sinnlichkeit nur auf dem phänomenologischen Wege nicht auf den Sinn von Begriffen reduziert wird. Im Zentrum steht dabei das in der Philosophie gegenwärtig an Bedeutung gewinnende Motiv der 'Passibilität' - die Leidensfähigkeit, mit der gleich einem dekonstruktiven Akt die okzidentalen Leitdifferenzen, wie Immanenz-Transzendenz, Ontisch-Ontologisch etc., aber auch Körper-Leib unterwandert werden: Was Heidegger das 'Seyn', ist Henry das 'Fleisch' (chair), genauer: das "Fleischwerden". - Klingt nach Deleuze, ist aber Johannesevangelium (in der Lesart Henrys): "Denn dann ist nicht mehr die Rede von 'Form', 'Aspekt' oder 'Aussehen' bzw. 'Erscheinung', sondern von Wirklichkeit. In sich selbst, in seinem Wesen und in seiner Wirklichkeit als göttlichem Wort, ist dieses Wort Fleisch geworden."

Rolf Kühn ist für die enorme Übersetzungsleistung zu danken. Zu einem äußerst fairen Ladenpreis hat der Traditionsverlag Alber die Philosophie hierzulande um eine ernstzunehmende Diskussionsgrundlage erweitert. Es liegt nun an ihr, diese Gabe zu erwidern.

Titelbild

Michel Henry: Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches.
Übersetzt aus dem Französischen von Rolf Kühn.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2002.
431 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 349548051X

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