Der Krimi als intermediale Gattung

Gabriela Holzmann verknüpft Gattungsgeschichte mit Mediengeschichte

Von Reinhard WilczekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Wilczek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrer hoch gelobten Dissertation geht Holzmann von der These aus, dass "ein medienübergreifendes Genreverständnis des Krimis [...] von der Annahme [ausgeht], dass im ständigen Überschreiten der jeweiligen medialen Ausdrucksmöglichkeiten ein wesentlicher Dynamisierungsfaktor für das Genre liegt und die Entwicklung der Literatur nicht mehr von der des Films, der Photographie oder des Radios zu trennen ist". Holzmann belegt über weite Strecken ihre Thesen überzeugend durch die Analyse intermedialer Diskursformationen im 19. und 20. Jahrhundert: untersucht werden so unterschiedliche Formen wie der Bänkelsang, das Strafschauspiel oder die sozial- und mediengeschichtlichen Dimensionen der Genese des Wachsfigurenkabinetts. Daneben gilt das Interesse Holzmanns der Entwicklung des Augensinns, dem rasanten Fortschritt von Identifizierungstechniken, dem Stumm- und Tonfilm sowie der Gewaltwahrnehmung im mediengeschichtlichen Kontext dieser Periode.

Aufschlussreich sind vor allem Holzmanns Analysen zur Augensymbolik im Krimi, die ihre Analogien in den zeitgenössischen Mediendiskursen haben. "Der Detektivroman [...] reagiert auf eine dem 'gefräßigen Auge' gegenläufige Entwicklung des Augensinns. Gemeint ist die Disziplinierung des Auges zum Instrument distanzierter Beobachtung, zumal es als Fernsinnesorgan den engen oder direkten Kontakt mit dem beobachtenden Objekt vermeiden und eben aus der Distanz dann auch die Fähigkeit zur 'trennenden Bestimmtheit' (Maurice Blanchot) aktivieren kann". Dieser wissenschaftliche, "mikrologische Blick" hat sich tief in das Genre eingeschrieben. In vielen Formulierungen und Begriffen spiegelt sich das Augenmotiv auch als erzählerisches Paradigma der Krimis wider. So etwa in der Bezeichnung des Privatdetektivs im hard boiled-Krimi als "private eye". Dass "Visualität ein konstitutives Moment der Detektion" ist, kann Holzmann auch an einigen Textbeispielen verdeutlichen: so etwa bei ihrer Analyse der Sherlock Holmes-Geschichte "A Scandal in Bohemia", bei der eine Photographie von besonderer Bedeutung ist.

Bedenkenswert ist auch Holzmanns These, dass die neuen anthopometrischen Identifikationsverfahren der Kriminalpolizei (bertillonsche System) literarisch ihren Niederschlag in den verschiedenen Figuren des Gesichterdiebes finden (Dr. Mabuse, Fantomas), die zur damaligen Zeit Konjunktur hatten. Holzmann erklärt diese Entwicklung als Rebellion des Verbrechers gegen die staatlichen Identifizierungssysteme. Breiten Raum nimmt in der Untersuchung auch die "Ikonographie von Licht und Schatten" ein, wie sie schon in den Filmen der 20er und 30er Jahre, später noch stärker ausgeprägt im Film noir der 40er Jahre begegnet. Holzmann bemerkt zu Recht, dass die Täterfigur sowohl im Film als auch im Krimi dieser Zeit "als Figuration der Finsternis" erscheint. Begrüßenswert sind in diesem Kontext die erhellenden Analysen der Texte des Amerikaners Cornell Woolrich, dem leider bislang zu wenig Aufmerksamkeit von wissenschaftlicher Seite gezollt wurde. Wichtig sind auch die Differenzierungen zwischen den Lichtpoetiken der 20er sowie der 30er und 40er Jahre, die Holzmann herausarbeitet: Die Ikonographie des Neonlichts im Film der 30er und 40er Jahre arbeitet mit anderen Mitteln als die des Scheinwerferlichts in den Stummfilmen der 20er Jahre.

In einem Schlusskapitel setzt sich Holzmann schließlich mit dem Komplex der medialen Gewaltwahrnehmung und ihrem Einfluss auf den Krimi dieser Zeit auseinander. Der Hinweis auf Powells Film "Peeping Tom" (1959) ist hier sicherlich hilfreich. Der "gewaltsame Gestus des Filmens" findet vor allem in der Prosa des amerikanischen hard boiled-Krimis dieser Epoche seine literarische Entsprechung. Holzmann kann zeigen, wie die literarischen Dialoge in den Krimis bei Chandler und Hammett sich an den Bildmedien orientieren.

Allerdings ist Holzmanns Arbeit nicht ohne Schwächen. Was ohne Zweifel als große Stärke der Untersuchung herausgehoben werden muss - die Zielgerichtetheit und Konzentration auf den intermedialen Aspekt -, ist zugleich auch ein Defizit. Nicht immer gelingt eine überzeugende Anbindung des intermedialen Diskurses an den Krimitext, dies gilt vor allem für die Eingangskapitel. Von nachvollziehbarem aber planem Pragmatismus ist auch Holzmanns gattungstheoretische Analyse getragen, wenn der Krimi - im Rückgang auf Schulz-Buschhaus - durch die drei Strukturmomente "analysis", "action" und "mystery" charakterisiert wird. Viele, vor allem psychologisierend inszenierte Krimis sind mit diesem Modell kaum zu fassen. Daneben führt die starke Ausrichtung auf den intermedialen Aspekt vereinzelt auch zu bedenklichen Defiziten im literaturwissenschaftlichen Diskurs. So ist, um das gravierendste Beispiel zu nennen, kaum nachvollziehbar, warum Holzmann den vermutlich wichtigsten Beitrag der vergangenen 25 Jahre zur "Ästhetik des Schreckens", Karl Heinz Bohrers gleichnamige Untersuchung von 1978, nicht berücksichtigt, obgleich ihre Arbeit sich kapitelweise mit der Thematik auseinander setzt. Bohrers Untersuchung hätte durch seine breite ästhetische und literaturwissenschaftliche Fundierung des Schreckensphänomens und seiner Visualisierung einen wichtigen Beitrag zu Holzmanns Analysen beisteuern können.

In summa wird man ihre Arbeit - unter Berücksichtigung der angeführten Defizite - als sehr nützlich bezeichnen können, weil es in dieser Untersuchung gelingt, wichtige intermediale Diskurse der Gattungsgenese zu verdeutlichen. Das "apparative Bewusstsein" des Krimis wird offenbar in einem ganz wesentlichen Ausmaß von benachbarten medialen Wahrnehmungsmodellen konstituiert und konfiguriert.

Titelbild

Gabriele Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2001.
420 Seiten, 40,80 EUR.
ISBN-10: 3476018482

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