Assoziieren und Phantasieren

Ursula Töllers Studie über Ingeborg Bachmanns Erzählband "Das dreißigste Jahr"

Von Mirja StöckerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mirja Stöcker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erklärtes Ziel dieser Studie ist es, den zyklischen Charakter des Bandes herauszustellen und ihn in das Gesamtwerk Bachmanns einzuordnen. Untersucht werden sollen die Erzählungen nach ihrer "thematischen Verwobenheit", wobei schon der Titel der Studie deutlich macht, daß die Erinnerungsthematik als Leitgedanke begriffen wird. Beweisen will Töller nun vor allem, daß für die Figuren in den Erzählungen durch die Erfahrung des Entzugs von Zeit die Notwendigkeit entsteht, die Vergangenheit zu erinnern. In jeder Erzählung soll es eine Schwelle geben, "die einen Zeit-Raum eröffnet, in den die Handlung gestellt ist."

In einigen Fällen vermag Töller durchaus plausibel nachzuweisen, daß die Erfahrung eines Stillstands der Zeit, vornehmlich durch die Erfahrung des Augenblicks, mit dem Erinnerungsvermögen zusammenhängt, etwa in den Erzählungen "Jugend in einer österreichischen Stadt", "Das dreißigste Jahr" und "Undine geht". Das Ich der ersten Erzählung vermag so im Licht eines vom Herbst entflammten Baumes seine unter nationalsozialistischer Herrschaft in Österreich erlebte Kindheit zu erinnern. Der Protagonist der zweiten Erzählung erlebt eines Morgens nach dem Erwachen einen Augenblick, in dem er sich nicht rühren kann und in eine Ohnmacht sinkt. Anschließend hat er eine "wunderbare neue Fähigkeit. Die Fähigkeit, sich zu erinnern." ("Das dreißigste Jahr") Auch der Schrei des Richters Anton Wildermuth in "Ein Wildermuth" setzt zweifellos einen Erinnerungsprozeß in Gang, markiert also eine Schwelle. Ob dieser "Einschlag des Geistes in seinen Geist" ("Ein Wildermuth") jedoch gleichgesetzt werden kann mit einem Einschlag in die Zeit, wie Töller meint, bleibt offen. Die Figur "Undine" schließlich wird von Töller als Allegorie der Erfahrung des Augenblicks gelesen. Sich außerhalb der linearen Zeit bewegend, bedarf es für Undine keiner singulären Erfahrung des Augenblicks. Sie ist fortwährend in der Lage zu erinnern, da sie im Besitz des vollkommenen Gedächtnisses ist. Diese Gedächtniskonzeption verweist hingegen nicht wie Töller behauptet auf eine Verkehrung des angeblich gängigen Topos, daß Frauen vergeßlich seien. Denn "Undine ist keine Frau, auch kein Lebewesen, sondern, um es mit Büchner zu sagen, »die Kunst, ach die Kunst«", wie Ingeborg Bachmann zu Recht in einem Interview feststellt.

Angesichts der übrigen Erzählungen erscheint Töllers These jedoch eher gezwungen. Das männliche Ich in der Erzählung "Alles" erinnert höchstens einen "Stillstand der Zeit in Erwartung auf das Ereignis", der Geburt des Kindes, nicht aber wird Erinnerung durch einen Stillstand der Zeit ausgelöst. In "Unter Mördern und Irren" nimmt das erzählende Ich zwar eine Zeiteinteilung vor - man mag das wie Töller "Zeit-Raum-Fixierung" nennen -, der aber kommt nicht die Funktion zu, einen Erinnerungsprozeß in Gang zu setzen. In "Ein Schritt nach Gomorrah" wird nach Ansicht der Autorin in der Einleitungspassage ein "Bruch des linearen Zeitkontinuums nicht nur durch die Erfahrung der Plötzlichkeit hergestellt, sondern entscheidend durch eine Zeitkonstellation, die durch ein ´zu spät` bestimmt ist". Andererseits aber meint sie, daß "Mara, der die Farbe rot zugeordnet ist, [...] der ästhetischen Erfahrung des Augenblicks" entspricht. Wodurch also nun der Protagonistin Charlotte das Erinnern ermöglicht wird, bleibt hier unklar.

Die besondere Problematik dieser Studie liegt jedoch im Detail. Zu häufig läßt die Autorin Assoziationen freien Lauf, die am Text nicht belegbar sind, aber durch eine komplizierte Sprache den Anschein von Wissenschaftlichkeit erwecken sollen. Dies gilt besonders für die zahlreichen Anspielungen auf die Bibel, die Töller im "Dreißigsten Jahr" zu finden glaubt. So soll beispielsweise der nicht existierende Bund zwischen Tätern und Opfern in "Unter Mördern und Irren" in Anlehnung an den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel darauf anspielen, daß die Menschen die Gesetze Gottes nicht einhalten. In "Ein Schritt nach Gomorrah" will Töller in Charlotte und Mara eine Anspielung auf Lot und Abraham sehen, da in Char-lot-te der Name "Lot" steckt und Mara, wenn man den Namen rückwärts liest und bloß noch einen Buchstaben einfügt, die verkürzte Form "Abram" ergibt. Die Berechtigung für eine derartige Parallelisierung glaubt Töller darin sehen zu dürfen, daß Charlotte eine Vergangenheit erinnert, "die von versteinerten Bildern des Weiblichen dominiert war". Charlotte ist ihrer Meinung nach nicht Objekt der Versteinerung, sondern "Subjekt ihres immanenten Versteinertsein". Weiterhin spekuliert die Autorin darüber, ob Maras roter Rock ein Zeichen des biblischen brennenden Dornbuschs darstellt.

Eine Anspielung auf die griechische Mythologie wiederum soll in "Undine geht" zu finden sein. Die Interpretation, Odysseus sei eine Vorläuferfigur von Hans, verkennt jedoch, daß die Rufe der Sirenen und Undines Ruf von verschiedener Qualität sind und daß Odysseus und Hans unterschiedliche Gründe haben, den Rufen nicht zu folgen.

Auch die Einordnung der Erzählungen in das Gesamtwerk gelingt nicht, zumal Ursula Töller mit dem poetologischen Selbstverständnis Ingeborg Bachmanns offensichtlich nicht vertraut ist. Während Bachmann sich in ihren "Frankfurter Vorlesungen" eindeutig gegen die "l´art pour l´art"- Dichtung wendet, behauptet Töller, daß die Erzählungen die "Suche" nach einer Schreibweise zwischen engagierter Literatur und "l´art pour l´art" markieren.

Zum guten Schluß revidiert sie schließlich sowohl den Titel ihrer Studie als auch Teile der Einleitung, indem sie nun die Meinung vertritt, daß in den Erzählungen gar nicht Erinnerungen zum Ausdruck gebracht würden, "sondern vielmehr Prozesse, die Vergangenes wiederholen."

Titelbild

Ursula Töller: Erinnern und Erzählen. Studie zu Ingeborg Bachmanns Erzählband "Das dreißigste Jahr".
Erich Schmidt Verlag, Berlin 1998.
167 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3503049010

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch