"Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende"?

Der britische Germanist John King gewährt Einblicke in die originalen Kriegstagebücher Ernst Jüngers

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einem Jahr rief die im sachsen-anhaltinischen Schnellroda ansässige Edition Antaios die Schriftenreihe "Das Luminar" ins Leben, in der Untersuchungen, Studien und Dokumente zu Leben und Werk der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger veröffentlicht werden. Als erster Band erschien vor einem halben Jahr die ergänzte und erweiterte Ausgabe von Tobias Wimbauers "Personenregister der Tagebücher Ernst Jüngers". Nun liegt als zweiter Band eine Übersetzung von John Kings "Writing and Rewriting the First World War: Ernst Jünger and the Crisis of Conservative Imagination 1914-1925" vor.

King untersucht in seiner Oxforder Dissertation aus dem Jahr 1999 die Vielschichtigkeit von Jüngers früher Kriegsprosa, die er als Ausdruck einer Sinnkrise der "klassischen Moderne" versteht. Als deren Kennzeichen betrachtet King die Privilegierung des monadischen, autonomen Subjekts, die Annahme, dass Wissenschaft und instrumentelle Vernunft die Welt erkennen, repräsentieren und beherrschen können sowie die Konstruktion universalisierender Metaerzählungen. Diese Annahmen wurden durch den Ersten Weltkrieg grundsätzlich erschüttert. Die Integrität des Individuums verschwand in der Anonymität der Massenarmee, durch seine Degradierung zum Material sowie durch den unpersönlichen Tod in den Kraterlandschaften der Westfront. Die Intensität der Schlacht war so groß, dass jedes kohärente Modell, die Wirklichkeit zu erfassen, sich auflöste. Die Überfrachtung mit Sinneseindrücken ließ die Gewissheit, die Welt könne angemessen wahrgenommen und verstanden werden, fragwürdig erscheinen.

Auch Jünger lege in seiner frühen Prosa Zeugnis von einer Krise ab, die aus dem Konflikt zwischen seinen Annahmen und der Wirklichkeit seiner Erfahrungen im Krieg resultiere, so Kings Hauptthese. Indem er vom unveröffentlichten Manuskript von Jüngers Kriegstagebuch ausgeht, zeigt King, wie Jünger versuchte, an den Annahmen der "klassischen Moderne" festzuhalten, zugleich aber auch eine beträchtliche Unsicherheit zum Ausdruck brachte, die ständig seine Versuche unterminierte, den Krieg im Kontext der "klassischen Moderne" zu interpretieren. Den Wunsch, moderne Konzepte wieder in ihre Rechte zu versetzen und überlieferte Orientierungen zu reetablieren, bezeichnet King dabei als "konservative Vorstellungskraft". Weil die Schrecken der Erfahrung im Unterstand solchen Versuchen widerstanden, zeigen viele Reaktionen auf den Krieg Ambivalenzen und Risse, die gerade dazu beigetragen hätten, die Annahmen der klassischen Moderne zu dekonstruieren.

In den ersten Kapiteln seiner Untersuchung zeigt King, wie im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Moderne in Deutschland in eine Krisenzeit einzutreten begann. Er bezieht sich auf Georg Heym, Ernst Wilhelm Lotz und Ernst Stadler als Beispiele aus der Vorkriegszeit, um dann zu zeigen, wie Otto Dix, Rainer Maria Rilke und Thomas Mann den Kriegsausbruch als verjüngende Kraft, die eine verlorene Authentizität wiederherstellen könnte, begrüßten.

Die Sinnkrise der Moderne macht King auch anhand von Jüngers Biographie sichtbar. Im vierten, biographisch orientierten Kapitel seiner Dissertation zeigt King, wie Jünger Annahmen der Moderne durch seine Familie, in der Schule und durch die Armee verinnerlichte, nach dem Krieg aber unter einem Gefühl der Zusammenhanglosigkeit und Orientierungslosigkeit litt.

Im zentralen fünften Kapitel analysiert King dann das Manuskript des Kriegstagebuchs, in dem Jünger zwischen 1914 und 1918 seine Erfahrungen und Beobachtungen festhielt und das in späterer Bearbeitung die Grundlage für "In Stahlgewittern" bildete. Damit bietet der britische Germanist die erste wissenschaftliche Analyse dieses Textes, der als Teil des "Vorlasses" 1996 zugänglich wurde. Das originelle Tagebuch stellt ein bemerkenswertes Kriegsdokument dar: peinlich genau in der Beschreibung der Ereignisse und Impressionen, oft merkwürdig unpersönlich im Ton. Die sechzehn Notizbücher, die es umfasst, versuchen die "Materialschlacht" mit fast wissenschaftlicher Präzision aufzuzeichnen. Mit der Kälte eines distanzierten Beobachters sammelt Jünger Eindrücke, und saugt die Geschehnisse um ihn herum auf. Dabei ist er bemüht, seine Haltung als heroisches Subjekt in einer verstehbaren und erkennbaren Umwelt beizubehalten.

Gleichzeitig erkennt Jünger aber die Ungeheuerlichkeit der Veränderungen, die durch den industrialisierten Krieg herbeigeführt werden. Er ringt um eine geschlossene Erzählung seiner Kriegserfahrungen, doch gerade sie lassen ihn am autonomen Selbst und der Erfassbarkeit der Welt zweifeln. Die Sinnkrise, die King in den ersten Kapiteln analysiert, ist in Jüngers Kriegsprosa deutlich präsent. Auch in späteren Fassungen der "Stahlgewitter" gelangen die widersprüchlichen Elemente keineswegs zur Synthese. Trotz eindrucksvoller Kriegsdarstellung gesteht Jünger letztlich ein, dass es große Erfahrungsfelder gibt, die sprachlich nicht zu erfassen sind.

Aus diesem Grund habe Jünger sich seit Mitte der zwanziger Jahre mehr der "Aktion" als der Literatur zugewandt. Auch diese Phase von Jüngers Schaffen setzt King mit der Sinnkrise der Moderne in Verbindung. Bei Jünger und anderen Autoren der "Konservativen Revolution" habe es sich um einen kräftigen Versuch der konservativen Vorstellungskraft gehandelt, die Moderne neu zu begründen, indem sie es unternahmen, gegen den drohenden Sinnverlust ein einheitliches kollektives Subjekt, die Nation, zu behaupten. Mit der Figur des Frontkämpfers sei Jünger in dieser Zeit für ein erneutes Geltendmachen der Individualität eingetreten.

Leider fehlen in Kings Bewertung der Forschungsliteratur zu Jünger einige relevante Studien, die in den letzten Jahren erschienen sind. So wäre eine Auseinandersetzung mit Volker Mergenthalers Analyse der Authentizität der frühen Kriegsprosa Ernst Jüngers sicherlich lohnend gewesen. Auch holt King an manchen Stellen sehr weit aus, um Jüngers Kriegsprosa in einen historischen Kontext einzubetten. Insgesamt aber überzeugt seine Untersuchung durch den genauen Nachweis der Kulturkrise der Moderne, die auch in Jüngers Kriegsprosa sichtbar wird. Statt zu versuchen, Jüngers Frühwerk eine künstliche Einheitlichkeit aufzuzwingen, um einen in sich stimmigen Jünger zu konstruieren, hat King eine Studie vorgelegt, die der Vielschichtigkeit und Komplexität der frühen Prosa dieses Autors gerecht wird. Durch den Vergleich mit den originalen Kriegstagebüchern hat er die Möglichkeit gehabt - und genutzt -, diejenigen Widersprüche zu lokalisieren, die von der bisherigen Forschung meist ignoriert oder nicht in ausreichendem Maße erklärt wurden. Der Antaios Verlag hat dank der gelungenen Übersetzung von Till Kinzel ein wichtiges Werk der Jünger-Forschung dem deutschen Leser zugänglich gemacht.

Titelbild

John King: "Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?". Writing and Rewriting the First World War.
Übersetzt aus dem Englischen von Till Kinzel.
Edition Antaios, Schnellroda 2003.
318 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3935063520

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