Paranoia

Tanja Kinkels Roman "Götterdämmerung"

Von Andrea KramerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Kramer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei Recherchen in eigener Sache stößt Harvard-Dozent Neil LaHaye auf einen geheimnisvollen Dr. Sanchez, einen Nobelpreiskandidaten, der eines der ersten Aids-Opfer behandelte und dann spurlos verschwand. Aber Neils Verdacht, es würde längst wirksamere Heilmethoden für Aids geben, wenn die Pharmaindustrie nicht so sehr darauf bedacht wäre, an Mitteln zu verdienen, die den Verlauf der Krankheit verlangsamen, wird noch durch einen weiteren schrecklichen Verdacht genährt: dass die Regierung involviert sei.

Tanja Kinkel hat einen Thriller vorgelegt, der die Leser ihrer Historienromane durchaus überraschen dürfte. Sie werden diesmal nicht in die Entstehungszeit Roms versetzt, wo sie erfahren, dass nur einer der ungleichen Söhne der Priesterin Ilian zu Höherem bestimmt ist ("Die Söhne der Wölfin"). Auch mit der mittelalterlich-höfischen Welt der "Löwin von Aquitanien" hat dieses Buch nichts zu tun. Denn diesmal werden Ängste thematisiert, die uns allen seit dem 11. September sehr vertraut sind: Terror, Anthrax, Krieg in Afghanistan und im Irak. Auch politische Korruption, AIDS, Gentechnik und eine gewissenlos-skrupellose Pharmaindustrie spielen eine große Rolle. Auf dieser Bühne entfalten sich eine gefährliche Liebesgeschichte und eine Verschwörung riesigen Ausmaßes. Zurück bleibt die Ungewissheit darüber, wie sehr wir selbst schon in den Netzen der totalen Kontrolle verfangen sein könnten. Und schlimmer: Was passiert, wenn Menschen Gott spielen?

Wir begegnen der Hauptfigur, dem ruhelosen, unpatriotischen und unbequemen, zudem geschiedenen Schriftsteller Neil LaHaye zunächst in einer denkbar unangenehmen Situation. Noch benommen von den Ausschweifungen der letzten Nacht bemerkt er, dass ihn eine Prostituierte ausgeraubt hat, von der er sich leider nur noch das Aussehen ihres Hinterns in Erinnerung rufen kann. Das ist für den Harvard-Dozenten natürlich sehr peinlich. Plötzlich gepackt von der Angst vor Aids (die sich als unbegründet herausstellt), läuft er ziellos herum und begegnet zufällig einem alten Collegebekannten, der genau daran erkrankt ist. Dessen Schicksal führt nicht nur zu Betroffenheit, sondern weckt auch seinen schriftstellerischen Ergeiz. Seit seinem letzten Buch gilt er als unpatriotischer linker Terroristenfreund. Er wittert ein unpolitisches, aber ernstes und aktuelles Thema, das gleichzeitig sein Image wieder aufpolieren könnte.

Auf der Internetsuche nach Sanchez lernt er dessen Tochter Beatrice kennen, die aufgrund ihrer Lichtallergie mit ihrem Vater in einem abgeschlossenen Laborkomplex in Alaska lebt. Beatrice ist die Lichtallergie nur vorgegaukelt worden - in Wahrheit ist sie ein genetisches Experiment (und angeblich virenresistent!). Auf dem Papier existiert sie gar nicht.

Die Aidstheorien von Neil verblassen angesichts der neuen Unfassbarkeiten. Doch er kämpft weiter wie ein "Don Quichotte gegen Windmühlen". Medien tun Übriges, um seine Glaubwürdigkeit zu erschüttern. Beatrice kann ihrem Labor entwischen und mit ihr gelangt ein schrecklicher neuer Virus ins Freie, der sich rasend schnell ausbreitet.

"Götterdämmerung" ist ein spannungsreicher Roman, bei dem Tanja Kinkel ihr Talent für historische Szenarien in vielschichtige Verschwörungsszenarien münden lässt. Eindeutig sogar ein bisschen zuviel des Guten, mag es auch beabsichtigt sein. So bleibt im Mund der bittere Geschmack eines "Was wäre wenn?" zurück. "Warten und Hoffen", die letzten Worte des Romans, sind jedenfalls nicht die Antwort darauf.

Titelbild

Tanja Kinkel: Götter-Dämmerung. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2003.
447 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3627001095

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