Ein "Tele-skop" in die Vergangenheit

Jostein Gaarders Roman "Das Orangenmädchen" ist eine grandiose Ode an die Liebe und das Glück zu leben

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mein Vater ist vor elf Jahren gestorben. Damals war ich erst vier. Ich hatte nie damit gerechnet, je wieder von ihm zu hören, aber jetzt schreiben wir zusammen ein Buch. Das sind die allerersten Zeilen in diesem Buch, und die schreibe ich, aber mein Vater wird auch noch zum Zug kommen. Er hat schließlich das meiste zu erzählen. Ich weiß nicht, wie gut ich mich wirklich an meinen Vater erinnern kann. Vermutlich glaube ich nur, dass ich mich an ihn erinnere, weil ich mir alle Fotos von ihm so oft angesehen habe. Nur bei einer Erinnerung bin ich mir ganz sicher; dass sie echt ist, meine ich. Es geht um etwas, das passiert ist, als wir draußen auf der Terrasse saßen und uns die Sterne anschauten."

Auch in seinem neuesten Buch verbindet der norwegische Schriftsteller Jostein Gaarder, dessen mittlerweile in 40 Sprachen übersetzter und weltweit über 10 Millionen Mal verkaufter Roman "Sofies Welt" ihn international bekannt gemacht hat, eine spannende Geschichte mit tiefsinnigen Fragen über die menschliche Existenz. Der 15-jährige Georg, der mit seiner Mutter, seinem Stiefvater und seiner kleinen Stiefschwester Miriam in Oslo lebt, erhält eines Tages einen Brief, den sein vor elf Jahren verstorbener Vater ihm unmittelbar vor seinem Tod geschrieben hat. Der größte und beeindruckendste Teil des Buches besteht aus dem langen Brief, in dem sich die Themen des Romans wie in einem Brennspiegel sammeln: Es geht in erster Linie um Fragen des Leben und Sterbens. Georgs Vater kann es nicht verwinden, mitten aus dem Leben als Arzt, Ehemann und Vater gerissen zu werden und seine Frau und den gemeinsamen vierjährigen Sohn zurücklassen zu müssen. Deshalb schreibt er diesen Brief in die Zukunft und versteckt ihn in Georgs alter Kinderkarre, in dem Vertrauen, dass die Botschaft zu einem Zeitpunkt gefunden wird, wenn das Kind alt genug ist, alles zu verstehen.

Der Vater hat den Brief an den "großen" Sohn geschrieben und wie durch ein Wunder taucht er genau zum richtigen Zeitpunkt auf. Die Trauer des Vaters über den Abschied vom Leben ist so tief, dass er sich wünscht, nie geboren worden zu sein. Der einzige, der diese Verzweiflung lindern könnte, wäre der Sohn, dessen Existenz unmittelbar von der des Vaters abhängt. Auf dem väterlichen Schoß sitzend, bekommt Georg in der gemeinsamen Nacht auf der häuslichen Terrasse die entscheidende Frage vorgelegt: "Stell dir vor, du stündest irgendwann, vor vielen Jahrmilliarden, als alles erschaffen wurde, auf der Schwelle zu diesem Märchen. Und du hättest die Wahl, ob du irgendwann einmal zu einem Leben auf diesem Planeten geboren werden wolltest. Du wüsstest nicht, wann du leben würdest, und du wüsstest nicht, wie lange du hier bleiben könntest, doch es wäre jedenfalls nur die Rede von wenigen Jahren. Du wüsstest nur, wenn du dich dafür entscheiden würdest, irgendwann auf die Welt zu kommen, dass du, wenn die Zeit reif wäre, wie wir sagen, oder 'wenn die Zeit sich rundet', sie und alles darauf auch wieder verlassen müsstest. Vielleicht würde dir das großen Kummer machen, denn viele Menschen finden das Leben in diesem großen Märchen so wunderschön, dass ihnen die Tränen in die Augen treten, wenn sie nur daran denken, dass irgendwann einmal keine weiteren Tage kommen. [...] Wofür hättest du dich entschieden, Georg, wenn eine höhere Macht dich vor diese Entscheidung gestellt hätte? [...] Hättest du dich für ein Leben auf dieser Erde entschieden, kurz oder lang, in hunderttausend oder hundert Millionen Jahren?" Georg ist jedoch mit seinen vier Jahren zu klein, um die Tragweite dieser und ähnlicher Fragen zu verstehen, die gleichwohl in seinem "Rückenmark festgesetzt", in sein "Herz eintätowiert" sind. Aber wie kann Georg seinem Vater elf Jahre später antworten? Wie kann man auf die Frage nach dem Wesen der Zeit antworten, wenn der Fragende an ein Dasein nach dem Tod nicht glaubt?

Für Georg ist die Lektüre des Briefes zunächst lediglich eine Reise in eine größtenteils unbewohnte Vergangenheit. Nach anfänglicher Skepsis und deutlich spürbarem Unverständnis wächst Georg an der narrativen Hinterlassenschaft seines Vaters: "Er tat mir natürlich Leid. Aber ich war mir nicht sicher, ob es richtig von ihm war, mich mit seinem Kummer zu belasten. Ich konnte ja doch nichts für meinen Vater tun. Er lebte in einer anderen Zeit als der, die jetzt ist, und ich muss mein eigenes Leben leben. Wenn alle Menschen jede Menge Briefe von toten Vätern und anderen Vorfahren bekämen, würden wir am Ende unsere eigenen Leben nicht mehr in den Griff bekommen." Bis er schließlich versteht, dass es auch um seine eigene Zukunft geht. Denn am Ende hat Georg nicht nur seinen Vater kennen gelernt, sondern kann auch die große Frage beantworten, die sein Vater ihm stellt. Und er findet auch einen Weg: Georg schreibt die Antwort mit Hilfe des Computers, den sein Vater damals benutzt hatte, in den Brief-Text, in die väterliche Vor-Schrift, hinein, gewissermaßen als Interlinear-Version: "Als ich beschlossen hatte, dieses Buch zusammen mit meinem Vater zu schreiben, hatte ich mir eine richtige Bastelarbeit mit Schere und Klebestift vorgestellt. Und jetzt war alles viel einfacher, als ich erwartet hatte, denn jetzt konnte ich einfach in das alte Dokument hineingehen und in den Text meines Vaters hineinschreiben. Auf diese Weise hatte ich wirklich das Gefühl, dass ich ein Buch mit ihm zusammen schrieb." Und auch auf die zentrale Frage des Vaters findet Georg eine Antwort, die er direkt an den toten Vater adressiert: "Lieber Papa! Danke für deinen Brief. Er war ein Schock für mich und hat mir Freude gemacht und hat mich auch gequält. Aber jetzt habe ich endlich diese schwere Entscheidung getroffen: Ich bin mir ganz sicher, dass ich mich für ein Leben auf der Erde entscheiden würde, und sei es auch nur für einen "kurzen Moment". Und deshalb kannst du diese Sorge vergessen. Du kannst 'in Frieden ruhen', wie es heißt."

"Das Orangenmädchen" ist ein Abschiedsbrief, natürlich, aber auch ein Gedächtnisbild, indem der Text die Erinnerungsspuren der hartnäckigen und bisweilen tragikomischen Suche des Vaters nach einem geheimnisvollen Orangenmädchen aufzeichnet. Nur einmal hat er dieses Mädchen mit der großen Orangentüte in einer Straßenbahn gesehen, aber er hat sich gleich in sie verliebt. Er sucht sie überall und malt sich auf vielfältige Art ihr Leben aus, bis sie ihm eines Tages eröffnet, sie könnten sich jederzeit treffen, sofern er bereit sei, ein halbes Jahr auf sie zu warten. An zentraler Stelle schreibt der Vater vielsagend: "Die Geschichte des Orangenmädchens ist wie die Geschichte einer gigantischen Lotterie, bei der nur die Gewinnerlose sichtbar werden. Denk nur an die vielen Lottozettel, die im Laufe einer Woche ausgefüllt werden. Und versuch dann, sie dir in einem großen Raum vorzustellen, vielleicht brauchst du eine ganze Turnhalle. Und dann werden mit einem eleganten Zauberstab alle Zettel, die keine Million gewinnen, weggezaubert. Worauf in der großen Turnhalle nicht mehr viele Lottozettel liegen bleiben, Georg. Aber in den Zeitungen werden nur die erwähnt!". Es ist eine märchenhafte Geschichte mit vielen Rätseln, die der Vater ungefiltert an Georg weiterreicht und die dafür sorgen, dass der Text des Vaters durch die Reflexionen des Sohnes immer wieder unterbrochen wird: In spielerischer Leichtigkeit erörtert Georg die von Gaarder philosophisch wie ästhetisch exzellent verpackte Frage, ob das Orangenmädchen möglicherweise ein Trugbild sei, bis er sich dann doch sicher ist, dass es sich bei ihr um seine eigene Mutter handelt und dass die Geschichte des Orangenmädchens somit die unmittelbare Vorgeschichte des eigenen Lebens ist. Ebenfalls wunderbar sind die Trouvaillen zwischen den Zeilen des Textes, etwa wenn sich Georg über mehrere Seiten hinweg mit der Einübung von Beethovens Mondscheinsonate beschäftigt, bei der ihn das Gefühl beschleicht, "vor einem großen Flügel auf dem Mond zu sitzen, während der Mond und der Flügel und ich in unserer Bahn um den Erdball folgen. Ich stelle mir vor, dass die Töne, die ich spiele, überall im ganzen Sonnensystem zu hören sind, und wenn nicht auf dem Pluto, dann auf jeden Fall auf dem Saturn".

Überhaupt verbindet die Liebe zur Astronomie Vater und Sohn. Während der Vater seine letzten Zeilen schreibt, zieht das Hubble-Teleskop seine Bahn um die Erde: "Es ist jetzt seit über vier Monaten dort draußen, und seit Ende Mai hat es uns viele wertvolle Bilder des Universums geschickt, also von diesem riesigen fremden Gebiet, aus dem wir im Grunde alle herstammen." Die direkte Frage an den Sohn, ob er denn wisse, was aus dem Hubble-Teleskop geworden sei, bewegt diesen sehr, hat er doch gerade in der Schule eine viel gelobte Hausarbeit über dieses Teleskop geschrieben. Interessant ist darüber hinaus die Koinzidenz der Ansichten über Teleskope im Allgemeinen. Während sich der Vater das Teleskop als "das Auge des Universums", als "kosmisches Sinnesorgan" vorstellt, bedeutet "Tele-skop" für Georg, in einwandfreier Aufspaltung der Morpheme des griechischen Wortes, "ungefähr, das zu sehen, was weit entfernt ist". Die im Laufe des Briefes vom Vater gestellten Rätsel kulminieren daher in dem "Rätsel des Universums": "Ein Versuch, das Universum zu verstehen, kann vielleicht mit dem Zusammensetzen eines riesigen Puzzles verglichen werden. Obwohl es hier vielleicht ebenso sehr um ein mentales oder geistiges Rätsel geht, und vielleicht liegt die Lösung des Rätsels in uns. Denn wir sind doch hier. Wir sind dieses Universum, wir." Damit knüpft der Vater eine Traditionskette, die durch den Tod abzureißen droht, von Georg jedoch wieder aufgenommen wird: "Also brauchte ich mich auch nicht mehr darüber zu wundern, dass mein Vater und ich uns für das Hubble-Teleskop interessierten. Ich hatte dieses Interesse doch von ihm! Ich hatte einfach dort weitergemacht, wo er aufgehört hatte. Es war eine Art Erbe. [...] Es gibt den Begriff: ein Samenkorn auslegen. Und das hat mein Vater vor seinem Tod noch geschafft. Auf eine Weise war er es, dem ich das Thema für meine große Hausarbeit verdankte."

Es ist ein ernstes Thema, das Jostein Gaarder in seinem neuen Roman mit leichter Hand, märchenhaften Elementen und gewohnt philosophischem Tiefgang behandelt. Es ist ein Text über das, manchmal nur sehr kurze, Glück zu leben und über die Schmerzen des Abschieds, die dieses Glück in Frage stellen können. Es ist ein großartiges Buch, eine der schönsten und bewegendsten Liebesgeschichten der letzten Jahre. Und es bietet in seinen ganz persönlichen Momenten unvergessliche Stellen. Die bewegendste findet sich kurz vor Ende des Romans, wenn der Vater über den nahen Tod sprich und den Abschied von seinem Orangenmädchen reflektiert: "Wir können stundenlang dasitzen und einander einfach nur an den Händen halten. Manchmal habe ich auf ihre Hand hinuntergeschaut, sie ist so sanft und schön, dann starre ich meine eigene Hand an, vielleicht nur einen Finger, vielleicht nur einen Nagel. Wie lange werde ich diesen Finger noch haben, denke ich dann. Oder ich habe ihre Hand an meine Lippen gehoben und sie geküsst. Ich habe daran gedacht, dass ich diese Hand, die ich jetzt halte, auch bis zuletzt halten werde, vielleicht in einem Krankenhausbett, vielleicht viele Stunden am Stück, bis ich am Ende aufgeben und alles loslassen muss. Wir haben beschlossen, dass es so passieren soll, sie hat es mir schon versprochen. Es tut gut, daran zu denken. Und es ist unbeschreiblich traurig, daran zu denken. Wenn ich dieses Universum loslasse, dann lasse ich eine warme, lebendige Hand los, die des Orangenmädchens. Stell dir vor, Georg, wenn es auch auf der anderen Seite eine Hand gäbe, die wir festhalten könnten! Aber ich glaube nicht, dass es eine andere Seite gibt. Da bin ich mir fast sicher. Alles, was existiert, ist nur von Dauer, bis alles ein Ende nimmt. Aber das Letzte, was ein Mensch festhält, ist oft eine Hand."

Titelbild

Jostein Gaarder: Das Orangenmädchen.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
192 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446203443

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