Entchristianisierung und Rechristianisierung des Wissens

Zur "Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit"

Von Burkhard DohmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Burkhard Dohm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die einst mit großer Verve geführte wissenschaftliche Debatte um Begriff und Phänomen der Säkularisierung schien in den letzten Jahren mehr und mehr zu verebben. Die Debatte wurde zunächst durch Max Webers modellhafte Konzeption eines im 'Zeitalter der exakten Naturwissenschaften' markant einsetzenden und stufenweise fortschreitenden Prozesses der 'Weltentzauberung' geprägt. Es sei zudem an wegweisende Beiträge des Philosophen Hans Blumenberg ("Die Legitimität der Neuzeit", 1966, erweitert 1973) sowie des Germanisten Albrecht Schöne ("Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne", 1958, erweitert 1968) erinnert, die Marksteine in der ideengeschichtlichen Phase der Säkularisierungsdiskussion bilden. Die in den achtziger Jahren von Hans-Georg Kemper auf sozial- und problemgeschichtlicher Basis am Beispiel des Hamburger Naturpoeten Barthold Heinrich Brockes reformulierte Debatte wirkt noch bis in die gegenwärtige Literaturgeschichtsschreibung fort: Die in der Frühen Neuzeit wie ein trojanisches Pferd in die christliche Theologie und Weltanschauung integrierte, 'verweltlichte' Sicht von Vernunft und Natur beeinflusse, so Kemper (in Anlehnung an Luhmanns systemtheoretisches Evolutionskonzept), eben dort in säkularisierender Weise das theologische Weltbild. Literaturgeschichtlich expliziert Kemper diese Sicht in seiner umfangreichen Darstellung "Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit", deren sechster Doppelband zum "Sturm und Drang" jüngst erschien (Tübingen 2003): Hier fungiert das Säkularisierungskonzept durchgehend als strukturbildendes Paradigma der vornehmlich religionsgeschichtlich profilierten literatur- und kulturhistorischen Darstellungskonzeption.

Allenthalben ist jedoch seit langem Unbehagen spürbar, da bis heute kein allgemein akzeptierter differenzierter Gebrauch des Säkularisierungsbegriffs vorliegt. So fragt bereits Blumenberg nach der präzisen Bedeutung der Säkularisierungskategorie, um sie schließlich als ein verdecktes Theologumenon zu entlarven. Und Hans-Georg Kemper konzediert, dass er in seiner Lyrik-Geschichte unter dem Begriff 'Säkularisierung' eine Reihe recht unterschiedlicher Sachverhalte subsumiere. Gegenwärtig erwartet die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel in ihrem seit 2001 bestehenden Berliner Forschungsprojekt "Figuren des 'Sakralen' in der Dialektik der Säkularisierung" von der bisher vernachlässigten Untersuchung jüdischer Säkularisierungsformen seit dem 18. Jahrhundert auch einen "theoretischen Gewinn für die Komplexität des Begriffs der Säkularisierung" ("Frankfurter Rundschau"). Tatsächlich bedarf jedoch die künftige Erforschung von Säkularisierungsphänomenen eines grundlegend modifizierten definitorischen und methodologischen Zugriffs. Denn gerade bei Detailstudien ist prekärerweise eine bisher schwer greifbare, historisch komplexe Vielfalt von jeweils sehr unterschiedlich und diskontinuierlich verlaufenden Säkularisierungsprozessen sowie auch von gegenläufigen Prozessen und Denkmustern zu entdecken. Die Säkularisierung der Wissenschaften vollzieht sich seit der Frühen Neuzeit gerade nicht im Sinne eines monokausal erklärbaren, eindimensionalen Makroprozesses, sondern viel eher im Zuge oft unscheinbarer und im einzelnen auch als umkehrbar sich erweisender Prozesse historischen Wandels.

Die neuen, in drei Bänden vorliegenden Studien zur "Säkularisierung in den Wissenschaften seit der frühen Neuzeit" liefern nun der Debatte wichtige Impulse, indem hier zunächst ein durch aktuelle theoretische Konzepte profiliertes, flexibel einsetzbares Arbeitsinstrumentarium entwickelt und bereitgestellt wird. Sie basieren auf dem Forschungsprojekt "Verweltlichung der Wissenschaft(en). Bedingungen, Muster der Argumentation und typisierte Phasen wissenschaftlicher Säkularisierung" (Friedrich Vollhardt, Lutz Danneberg, Jörg Schönert). Dieses Projekt wurde von der DFG im Rahmen ihres Schwerpunktpropramms "Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit" gefördert, und die wieder auflebende Säkularisierungsdebatte in den Literatur- und Kulturwissenschaften erlangt hier präzisere methodologische Prämissen und Profilierungen. Der Säkularisierungsbegriff wird hier erfreulicherweise gerade nicht verabschiedet, sondern im Anschluss an neuere, religionsgeschichtlich orientierte Forschungen des Historikers Hartmut Lehmann in ein produktives begriffliches und konzeptuelles Spannungsfeld gerückt: "Säkularisierung wird nunmehr durch zahlreiche einschränkende, bereichsspezifische und relativierende Konzepte (Entchristlichung, Entkirchlichung, Enttheologisierung, Entsakralisierung, Christianisierung, Theologisierung, Sakralisierung usf.) neu bestimmt." Zudem wird der Säkularisierungsbegriff als Interpretationskategorie für Einzeltextanalysen von einer Prozesskategorie zur Darstellung weiträumiger historischer Entwicklungen unterschieden.

In dieser doppelten Verwendung fungiert der Säkularisierungsbegriff als theoretisch reflektierte, "heuristische Vorgabe" der von Sandra Pott im ersten Band des Unternehmens vorgelegten "historische[n] Studien über Konstellationen von Naturforschung, Religion und 'schöner Literatur'". Pott untersucht hier ausgewählte historische Beispieltexte von medizinethischen Traktaten des 17. Jahrhunderts bis hin zu Medizinerromanen des frühen 19. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen medizinethische Texte der Frühaufklärung, Schriften des Dichter-Arztes Albrecht von Haller sowie einschlägige Erzählwerke Jean Pauls und Goethes. Ausgehend von der historischen Abfolge der hier genannten drei Textbereiche lasse sich zwar, so Pott, von einem "langfristigen Prozeß der Säkularisierung" sprechen, wenngleich jedoch die Quellen des 18. Jahrhunderts jeweils für sich genommen "nicht ohne weiteres darauf schließen lassen".

Als zentrales Beispiel aus der Zeit um 1700 untersucht Pott die medizinethischen Schriften des damals berühmten Hallenser Arztes Friedrich Hoffmann im Kontext des neu reflektierten Säkularisierungskonzepts. Die Auswahl gerade dieses Mediziners erscheint durchaus plausibel, da die Universität Halle im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert sowohl durch die innovative Medizin ihrer Professoren Friedrich Hoffmann und Georg Ernst Stahl als auch durch die gleichfalls in Halle zentral vertretene pietistisch-religiöse Reformbewegung mit ihrem Exponenten August Hermann Francke hervorsticht.

In pointierter Analyse stellt Pott Hoffmanns frühaufklärerisches Bemühen um die mechanistisch gedachte Harmonie des menschlichen Körpers heraus, die der Mediziner im Einklang mit ihrem göttlichen Ursprung sieht: Befunde physischer Disharmonie verknüpft Hoffmann deshalb mit einem aufklärerisch entkonfessionalisierten Sündenbegriff: Die Sünde befördere körperliche Krankheitssymptome, da sie gottgewollte mechanistisch-harmonische Körperabläufe störe. Durch ein solches Argumentationsmuster avanciere nun die Medizin bei Hoffmann zur zentralen, sogar der Theologie überlegenen, 'wahrhaft christlichen' Leitwissenschaft: Denn die 'wahre' Religion finde in der Medizin ihr entscheidendes, praktisches Anwendungsfeld. Im Sinne eines solchen kulturellen Deutungskonzepts sieht Pott die Medizin im frühen 18. Jahrhundert in einem fortdauernden christlichen Rechtfertigungsrahmen.

Potts Versuch, die medizinisch-theologische Position Hoffmanns im Blick auf den in Halle bedeutsamen religiösen Kontext des Pietismus näher zu profilieren, gelingt jedoch nur bedingt. Die hier zu Recht angesprochenen, auf sehr unterschiedliche Weise pietistisch geprägten Autoren Philipp Jacob Spener, August Hermann Francke und Johann Conrad Dippel werden in Potts Darstellung kaum konturiert. Dies gilt auch für den schon genannten, dem Pietismus nahestehenden Halleschen Mediziner und wichtigsten Kontrahenten Hoffmanns, Georg Ernst Stahl, den Begründer eines damals neuartigen, psychovitalistischen Medizinkonzepts, sowie für dessen bedeutendsten Schüler Johann Samuel Carl, der zeitweilig einem - in Potts Darstellung nicht erwähnten - mystisch-philadelphischen Ärztezirkel mit eigenen medizinethischen Vorstellungen in der Tradition Jakob Böhmes angehörte. Die interessante Position Carls wird kaum ausgeleuchtet, so dass auch sie nicht als Vergleichsfolie für Hoffmann zu dienen vermag. Die gerade für die Säkularisierungsfrage aufschlussreiche medizinische Begutachtung angeblicher pietistischer Prophetinnen durch Hoffmann und Carl bleibt gleichfalls außer Betracht.

Die Position Hoffmanns wird dagegen erhellend im Kontext einer weiteren frühneuzeitlichen Textgruppe perspektiviert, nämlich im Blick auf die Pflichtenlehren ärztlicher Ethik in der 'Medicus religiosus'- und 'Medicus politicus'-Literatur. Der Traktat-Typ des 'Medicus religiosus' und seine Wirkungen in der Debatte werden u.a. am Beispiel der Rezeption von Thomas Brownes 'Religio medici' (1642) untersucht. Im Kontext der durch Augustinus beförderten Christianisierung der antiken Medicus-Idee zum 'Christus medicus'-Konzept erscheint die Position des mit Hoffmann verglichenen Pietisten Michael Alberti als eine umfassende 'Theologisierung der Medizin'. Das Ziel der Hoffmannschen Strategie wird dagegen von Pott überzeugend als 'Christianisierung der Wissensgebiete' beschrieben. Demnach handle es sich bei den der Frühaufklärung gängigerweise zugeschriebenen Säkularisierungsschritten keineswegs um einen einsinnig sich vollziehenden Ablösungsprozess vom Christentum. Im Gegenteil, Naturforschung bleibe bei Hoffmann Gottesdienst: Im Zeichen damaliger Tendenzen zur Entkonfessionalisierung und Rechristianisierung werde das Christentum, wie Pott resümiert, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs aus der Medizin und Naturforschung verabschiedet. Vielmehr sei, wie das Hoffmann-Kapitel insgesamt plausibel demonstriert, die "weltliche Medizin [...] aus dem Entgegengesetzten entstanden, nämlich aus Versuchen, eine christliche Medizin zu begründen." Im Sinn des der Untersuchung zugrunde gelegten Kategorisierungsschemas liegt mithin im Fall des Hallenser Mediziners lediglich ein mittelbarer, sog. additiver Typus von Säkularisierung vor: Säkularisierte mechanistische Denkmuster seien in Hoffmanns medizinethischen Schriften an entkonfessionalisierte religiöse Denkmuster anschließbar, welche die Naturforschung im Sinne der Autorintention entscheidend kontextualisieren.

Das folgende Kapitel über den im calvinistischen Glauben erzogenen schweizerischen Mediziner und Dichter Albrecht von Haller fällt gegenüber der medizinethisch orientierten Darstellung Friedrich Hoffmanns deutlich ab. Durch Haller, so Pott, finde die Debatte zwischen 'säkularisierter' und traditional-religiöser Naturforschung Eingang in die Lyrik der Aufklärung mit ihren mikroskopisch genauen Naturbetrachtungen. Gerade der Lyriker Haller wird jedoch in diesem Kapitel sehr knapp und pauschal behandelt. Wichtige Einzeltexte wie die für das Säkularisierungsproblem zentrale "Unvollkommene Ode über die Ewigkeit" (1736) geraten so nicht in den Blick. Hallers Poesie neige, so Pott, zum Lebensende des Autors hin einer immer stärker werdenden christlichen Jenseitsorientierung zu. Die in seinen frühen Texten als Wendungen ins 'Natürlich-Weltliche' erkennbaren Säkularisierungstendenzen seien im ganzen als rückläufig zu beurteilen.

Der Darstellungsfokus verschiebt sich im gesamten Haller-Kapitel gleichsam 'unter der Hand' von der Medizin auf den weniger präzise gefassten Bereich der Naturforschung. In seinen literarischen Texten und religiösen Schriften bekämpfe Haller vielfach sowohl mechanistische (Hoffmann) als auch materialistische (La Mettrie) Erklärungsmodelle der Natur des Menschen und verteidige die christliche Offenbarungsreligion gegen die 'Freygeister'. Im Bereich der experimentellen Naturforschung favorisiere Haller jedoch, wie Pott zu Recht hervorhebt, das Denkmuster des 'methodologischen Atheismus'. Dieser, die Säkularisierung entscheidend befördernde 'methodologische Atheismus' stellt den naturwissenschaftlich intendierten Erweis einer gottgewollten Schöpfung - und damit das Verständnis von Naturforschung als Gottesdienst - für den Gang der experimentellen Untersuchung sowie für den daraus resultierenden Prozess der wissenschaftlichen Hypothesenbildung zurück. Zu den damals umstrittensten Konsequenzen eines solchen 'methodologischen Atheismus' gehört sowohl die anatomische Praxis der Leichenöffnung als auch die von Haller selbst vielfach forcierten Tierversuche. Gleichwohl fasse Haller jedoch Naturforschung als Gottesdienst auf: Eine aus der Anwendung des 'methodologischen Atheismus' faktisch resultierende Säkularisation des Denkens und der Wissensordnung sei von Haller keineswegs beabsichtigt: Die von ihm selbst intendierte christliche Deutung natürlicher Phänomene werde vielmehr durch nicht-intendierte Wirkungen des 'methodologischen Atheismus' gekappt. Während Haller in seinen religiösen und literarischen Schriften einerseits - im Sinne eines (re-)christianisierenden Denkmusters - die Offenbarungsreligion gegen die den christlichen Gott bezweifelnden 'philosophes' (La Mettrie, Voltaire) verteidige, trenne er andererseits - im Sinne seines 'methodologischen Atheismus' - Weltliches und Religiöses zum Zweck der Beschreibung von Naturphänomenen sowie zur Ermittlung von natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Trotz etlicher Brüche und Irritationen erstrebe der Aufklärer Haller aber noch immer die Harmonisierung des 'Buchs der Natur' mit dem 'Buch der Heiligen Schrift': Im Denken des Dichter-Arztes sei deshalb der christliche Offenbarungsgott mit dem 'Gott der Philosophen' letztlich identisch. Gerade dieser Befund Potts weist aber in hohem Maße auf die aufklärerisch reformulierte Religiosität Hallers, die den zeitgenössischen Rahmen christlich-orthodoxer Prägungen des Religiösen faktisch deutlich überschreitet. Wo in dieser Hinsicht die Trennlinie von 'Rechristianisierung' und 'Säkularisierung' verläuft, bleibt in der Analyse unscharf.

Der letzte Hauptteil von Potts Studie ist der 'schönen Literatur' des frühen 19. Jahrhunderts am Beispiel von Jean Pauls satirischem Roman "Dr. Katzenbergers Badereise" (1809) und Goethes 'Wissenschaftsroman' "Wilhelm Meisters Wanderjahre" (1821/29) gewidmet. Der Roman Jean Pauls wird - über die auch bereits für Haller relevanten Kontroversen von Mechanismus und Animismus hinausgehend - auf medizinische und medizinethische Bezugnahmen untersucht. Jean Pauls Katzenberger-Figur repräsentiere hier einen aufklärerisch-eklektischen, nur an Forschung und Fortschritt interessierten Mediziner-Typus. Der Arzt Katzenberger entwickelt im Rekurs auf einschlägige Abhandlungen des damals bekannten Anatomen Samuel Thomas Soemmerring eine auffällige und symptomatische Vorliebe für die Erforschung monströser körperlicher Missbildungen, da diese nach Katzenbergers wie nach Soemmerrings Auffassung in besonderer Weise Auskunft über den Bauplan der Natur geben. Auch diesem literarisch inszenierten Medizinkonzept liegt jedoch, wie Pott zeigt, kein einliniges Säkularisierungsdenken zugrunde, da dem satirisch gezeichneten anatomischen 'Experimentalzynismus' des fanatischen Sezierers Katzenberger in der Romanfiktion das Bild des 'wahren', christlichen Arztes Albrecht von Haller entgegengesetzt werde.

Goethe schließlich kritisiert radikal die durch Jean Pauls Katzenberger-Figur repräsentierten, damaligen anatomischen Praktiken und wendet sich vor allem gegen die (Vivi-)Sektion. Der nicht-sezierenden, die 'Ganzheit' bewahrenden Darstellung des menschlichen Körperbaus dient denn auch die von Goethe favorisierte plastische Anatomie, die durch ihre aus Holz geschnitzten 'Präparate' die unmittelbare Anschauung des Lebendigen ermöglichen. Als praktische Kunst betrachtet, soll die Medizin im Sinne Goethes das Gemeinwohl wie das Wohl des Individuums befördern und damit explizit weltlichen Zwecken dienen. Diese Zwecke stehen in Goethes Medizinerroman im Kontext eines nicht mehr christlich, sondern pantheistisch profilierten religiösen Gesamtentwurfs. In diesem Kontext konzipiert Goethe die Figur des Wilhelm Meister - gegen den von Katzenberger verkörperten Mediziner-Typus - als den für die Heilung des Menschen therapeutisch-praktisch 'tätigen' Typus des Arztes. "Die 'Humaniora' - und damit auch die Religion des Pfarrherrn, der nicht mehr helfen kann - sind durch die Naturforschung ersetzt, also vollständig säkularisiert." Wie Pott resümierend betont, entfalle in Goethes Konzeption der für Hallers Legitimation der Naturforschung noch immer bedeutsame christliche Gott nun ganz und gar.

Am Beispiel der von Jean Paul als Säkularisierung beschriebenen Ablösung der Erbsündelehre durch die Psychologie vermag Pott nicht nur zu zeigen, dass die damaligen Zeitgenossen Säkularisierungsphänomene bereits selbst wahrnahmen, sondern auch "daß unter einen Prozeßbegriff der Säkularisierung ganz verschiedene Prozesse fallen können: langfristige oder kurzfristige, eng umgrenzte oder weit gefaßte. In der Literatur wird auf solche Prozesse hingewiesen; zugleich steht sie selbst - langfristig gesehen - in einem solchen Prozeß. Mehr noch: Sie 'beschleunigt' ihn."

Für die von Hoffmann über Haller bis hin zu Hufeland und Goethe untersuchte Medizinethik lasse sich, wie die Verfasserin resümiert, eine "kontinuierliche, aber zeitlich, regional und personell ganz unterschiedlich verlaufende Säkularisierung feststellen". Durch den Gesamtentwurf ihrer vom 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert reichenden historischen Fallstudien reproduziert Potts Darstellung einerseits das Bild des in der Forschung seit langem bekannten Makroprozesses frühneuzeitlicher Säkularisierung. Dieser Prozeß sei zwar, wie sie betont, nicht linear deutbar, könne aber - in dieser Hinsicht wenig überraschend - sehr wohl als "tendenziell dominante Entwicklung bestimmt werden." Verglichen mit dem eingangs erwähnten, forcierten 'Entzauberungsdenken' Max Webers verläuft jedoch der Prozess der Säkularisierung, wie Potts Mikroanalysen nachdrücklich verdeutlichen, weitaus weniger pointiert und prägnant als vielfach angenommen: Prozesse der 'Entzauberung' werden auf komplexe Weise durch solche der 'Wiederverzauberung' und oft frappierend neuer, diskontinuierlicher 'Teil-Entzauberung' konterkariert und unterlaufen. Bedauerlich bleibt es dabei, dass Pott genderspezifische Aspekte frühneuzeitlicher Medizinethik - wie bspw. die Selbstabgrenzung des ärztlichen Standes gegen 'gelehrte Weibs-Personen' sowie das Verhältnis von Medizin und Theologie in der frühneuzeitlichen 'Querelle des femmes' - gerade im Säkularisierungskontext vollständig ausklammert.

Band 2 behandelt die Wissensgebiete der Anthropologie, der Hermeneutik und der Medizin sowie den Bereich christlich-apologetischen Schrifttums. Dieser Band dokumentiert Referate und Diskussionen des Rundgesprächs "Säkularisierung der Wissenschaft(en). Naturforschung, Religion und Literatur in der Frühen Neuzeit". Den Ausgangspunkt der Beiträge bilden die disziplinären Grundlegungen des Denkens in Theologie und Philosophie. Als zentrale Bezugsbereiche werden vor diesem Hintergrund sowohl die Natur als auch der 'ganze' Mensch mit Körper, Seele und Geist als Objekt einer 'verweltlichten', 'modernen' Anthropologie diskutiert, die sich wesentlich in der 'schönen Literatur' niederschlage.

Die hier versammelten Beiträge argumentieren aus zum Teil deutlich differierenden Blickwinkeln sowie in unterschiedlich ausgeprägter, aber fast durchgängig spürbarer Distanz zum Säkularisierungskonzept. Eine Ausnahme bildet lediglich Dieter Hünings rechtshistorische Studie über "Die Grenzen der Toleranz" und die Strafbarkeit des Atheismus im 17. und 18. Jahrhundert. Mit unterschiedlicher Intensität wird in den übrigen Beiträgen auf die im ersten Band geführte Diskussion Bezug genommen. Simone De Angelis, Martin Mulsow und Gideon Stiening beschäftigen sich unter dem zentralen Stichwort 'Naturforschung' mit diversen Konzeptionen der frühneuzeitlichen Seelenlehre seit der Renaissance. Im Kontext des von Pott bei Haller beobachteten Prinzips des 'methodologischen Atheismus' entfaltet De Angelis in seinem Beitrag "Zum Problem der Genese der Seele um 1600" die dualistische 'anima'-Auffassung des Marburger Gelehrten Rudolph Goclenius, nach der biophysische Prozesse nicht länger der vom Körper abgelöst gedachten 'anima', sondern der 'natura' zugeordnet werden. Aus dieser Sichtweise, so De Angelis, resultieren wiederum nicht-intendierte säkularisierende Wirkungen. Zu denken sei hier insbesondere an die sich damals entfaltenden vitalistischen Konzepte vom 'plastischen' Vermögen der Seele als einer den Elementen des Körpers innewohnend gedachten, lebendigen Kraft ('substantia energetica').

Im Kontext seiner kritischen Untersuchung zur "Säkularisierung der Seelenlehre" plädiert Martin Mulsow für eine forcierte Auflösung der Säkularisierungskategorie in eine Reihe von Differentialen wie 'Dechristianisierung', 'Entkirchlichung', 'Desakralisierung', etc. Zu leisten sei zudem nicht nur eine Verhältnisbestimmung intendierter und nicht-intendierter säkularisierender Wirkungen wie im Fall des von Pott untersuchten Mediziners Friedrich Hoffmann. Vielmehr sei, darüber hinausweisend, auch eine klare Unterscheidung zwischen Säkularisierung als Intention und purem Effekt unerlässlich. Außerdem fordert Mulsow ein Instrumentarium für zusätzliche Feinbestimmungen, um jeweils im konkreten Einzelfall herauszufiltern, "welche Teile einer in Frage stehenden frühneuzeitlichen Theorieposition 'säkular' werden [...] und welche 'sakral' bleiben".

Die Frage nach der Säkularisierung anthropologischer Positionen in der Frühaufklärung wird in Gideon Stienings Beitrag sogar explizit verneint. So sei die "Weltlichkeit neuzeitlicher Philosophie und Wissenschaft [...] kein Produkt der Verweltlichung theologischer Kategorien." Vielmehr sei die Begründung markanter Veränderungen in der Anthropologie des 17. Jahrhunderts in funktionsanalytisch differenzierender Sicht auf der Ebene einer funktionalen "Ablösung der Theologie durch eine rationalistische Metaphysik und Wissenschaftstheorie" zu suchen.

Auf nicht-intendierte Wirkungen des von Pott untersuchten 'methodologischen Atheismus' rekurriert auch der programmatische Beitrag Vollhardts. Grundlegend werden hier zudem die mit der Säkularisierungsdebatte verbundenen Explikationsprobleme der bisherigen Forschung diskutiert. Gezielt nimmt der Beitrag den bislang vernachlässigten mainstream christlich-apologetischer Literatur des 18. Jahrhunderts in den Blick: Weder die wissenschaftshistorisch vielfach vorausgesetzte Emanzipation der new science von der Theologie noch die der new science im Sinne eines kulturgeschichtlichen Topos zugeschriebene Zurückdrängung von Glaube und Religion sei bis ins späte 18. Jahrhundert anhand der untersuchten Quellen zu belegen. Aus der Perspektive christlicher Apologetik betrachtet, bilde demnach die new science kaum einen Beitrag zum Säkularisierungsprozess. Gleichwohl lasse sich die Säkularisierungsthese auch in diesem Kontext sinnvoll reformulieren. Die Herauslösung des Religionssystems aus dem intensiven Austausch mit anderen gesellschaftlichen Systemen bewirke eine "Privatisierung des Religiösen". In diesem Sinn dokumentiere der Blick der apologetischen Literatur des 18. Jahrhunderts auf die Naturforschung eine mangelnde Sicht auf das eigene wie auf andere Denksysteme. Solche 'systemischen' Defizite der Apologetik werden durch unmittelbare Konfrontation differierender Denksysteme im ästhetischen Feld der 'schönen Literatur' aufgedeckt.

In Band 3 über "Säkularisierung, epistemische Situation und Autorität" untersucht Lutz Danneberg von der Forschung bisher kaum sondierte 'Vorformen' der Säkularisierung und ihrer epistemischen Vollzugssituationen an Beispielen des Lesens im liber 'supranaturalis' der Heiligen Schrift, im 'liber naturalis', dem 'Buch der Natur', sowie im 'liber artificialis', dem vom Menschen verfassten Buch. Der Fokus der nicht immer übersichtlich strukturierten Darstellung, deren vielfältige Ergebnisse hier nur selektiv referierbar sind, richtet sich dabei nicht auf die jeweils vermittelten Wissensansprüche als Säkularisate, sondern auf den Umgang mit diesen Wissensansprüchen im Kontext historisch variabler Wissensformationen. Die hierzu vorgelegten Analysen entfaltet Danneberg im Blick auf die Frühe Neuzeit im Kontext profunder Kenntnis dichter, teils verschütteter und hier eindrucksvoll rekonstruierter antiker und patristischer Traditionsbezüge sowie in kritisch differenziertem Disput mit 'klassischen' Positionen wissenschaftshistorischer Forschung.

Theologie, Hermeneutik und Logik werden in der Frühen Neuzeit in antiker und patristischer Tradition als praktische Disziplinen vielfach in Analogie zu der als vorbildlich geltenden ars practica der Medizin beschrieben. Im Blick auf die Entfaltung frühneuzeitlicher Säkularisierungsmuster fragt nun Danneberg vor diesem Hintergrund vor allem nach der Rolle, welche Medizin und Anatomie bei der Beschreibung und Interpretation von Texten spielen. Zu klären sei insbesondere, wieso der Text gerade in theologisch geprägten Traditionslinien als Körper angesprochen werde und weshalb die Interpretation des Textes aus damaliger Sicht mit der anatomia vergleichbar sei. Als Leittext der Untersuchung dient Andreas Vesals anatomisches Hauptwerk "De humani corporis fabrica libri septem", das Danneberg einleitend auf epistemisch relevante Parallelen zu zentralen Schriften des Astronomen Nicolaus Corpernicus und des Logikers Petrus Ramus untersucht.

Im Jahre 1543 erscheinen sowohl die Schrift "De revolutionibus orbium coelestium, Libri VI" des Copernicus als auch Vesals "De humani corporis fabrica". Im Sinne eines wissenschaftshistorischen Topos werden dem astronomischen wie dem anatomischen Werk 'revolutionäre', antike Autoritäten relativierende Potentiale zuschrieben: Copernicus wendet sich gegen die mathematische Astronomie des Ptolemäus, Vesal gegen die Anatomie des Galen, da diesem aus Tabugründen keine menschlichen Leichname, sondern ausschließlich Tiere zur Sektion zur Verfügung standen. Vesal beabsichtige jedoch nicht, so der Verfasser, die Autorität Galens zu stürzen und eine 'neue' Anatomie zu errichten. Vielmehr gehe es ihm in renaissancetypischer Argumentation um eine Restitution der anatomischen Wissenschaft: Aus dem tiefsten Niedergang, den sie zu Zeiten Vesals erfahre, suche dieser die Anatomie als Teil der Naturphilosophie zu restituieren, der sie in alter Zeit zugehörte. In diesem Kontext verweist Vesal ausdrücklich auf die vorgalenische Antike, etwa auf Erasistratos, und auf die hier im Unterschied zu Galen praktizierte Menschensektion. In dieser Hinsicht mit Vesal vergleichbar, rekurriere auch die astronomische Theorie des Corpernicus - über den Gegensatz zu Ptolemäus hinausführend - auf ältere Autoritäten, vor allem auf Pythagoras. Gleichfalls im Jahre 1541 publiziert der Logiker Petrus Ramus seine heute wenig bekannten, bis ins 17. Jahrhundert jedoch vielfach diskutierten Schriften "Institutiones dialecticae" und "Aristotelicae Animadversiones". Ramus sieht sich hier als 'Galenus redivivus', da der Pergamener der letzte gewesen sei, der die Dialektik zu erneuern versuchte. In diesem Sinn einer Neuakzentuierung seiner antiken Vorgänger positioniert sich auch Ramus - wie Copernicus und Vesal - zugleich gegen eine zentrale Autorität, nämlich das aristotelische 'Organon".

Wie Danneberg zeigen kann, renoviert sich das Verständnis des Lesens im liber naturalis wie im liber supernaturalis im Zuge der frühneuzeitlichen "Identifikation der 'analysis' bzw. der 'analysis textus' ('analysis logica') mit der 'anatomia'." Die genannten Werke von Vesal, Copernicus und Ramus werden deshalb im folgenden in jenen indirekten Zusammenhängen entfaltet, die zwischen ihnen im Blick auf das Lesen im 'Buch der Natur' wie in der Heiligen Schrift bestehen. Im Kontext vielfach verschlungener theologischer Traditionsbezüge fokussiert der Verfasser den Aspekt des menschlichen Körpers in seinen Relationen zum Text-Körper: Die 'Ganzheit' eines Textes und seine anatomische 'Zerlegung' in Teile werde hier hermeneutisch in Analogie zum menschlichen Körper betrachtet und dementsprechend terminologisiert.

Der Verfasser wendet sich vor diesem Hintergrund zunächst den in Texten präsentierten Theorie-Körpern zu, da diese dem Text-Körper selbst am ähnlichsten scheinen: Frühneuzeitliche Konzepte der Kritik wie der Bestätigung des copernikanischen Theorie-Körpers bedienen sich vielfach analogischer Vergleiche mit irregulär gebauten, 'monströsen' menschlichen Körperteilen. In diesem Sinn vermisst etwa der dänische Astronom Tycho Brahe das in antiker wie in patristischer Tradition transportierte Strukturkonzept der 'concinnitas', also des Ebenmaßes, im copernikanischen Theorie-Körper, da der Fixsternhimmel hier gegenüber der planetarischen Welt unproportional ausgeweitet werde. Diese mangelnde Proportion in der copernikanischen Ordnung sei auf der Basis anatomischen Denkens mit der irregulären Bildung 'monströser' menschlicher Körperteile vergleichbar: Der copernicanische Theorie-Körper werde damit der Vorstellung Gottes als Autor des Universums nicht gerecht. Copernicus selbst dagegen sehe sein 'neues System', im Gegensatz zur ptolemäischen Theorie, durch das Kriterium einer nicht nur metaphorisch, sondern körperlich real aufgefassten, 'inneren wie äußeren Bestimmtheit' bestätigt: Die Ordnung und Größe aller Planeten, die Sphären und der Himmel seien im copernikanischen Theorie-Körper in solcher Weise ökonomisch miteinander verknüpft, "daß kein Ding in einem einzelnen Teil geändert werden kann, ohne Konfusion unter den anderen Teilen und im ganzen Universum zu stiften". Im Bildfeld mangelnder körperlicher Proportion geißle auch Ramus im Blick auf die Einfachheit, Geschlossenheit und Proportionalität seines eigenen Logik-Systems die angebliche 'Monstrosität' der aristotelischen Logik. Und Vesal, der gleichfalls an der Bildlichkeit 'monströser' Theorie-Körper partizipiere, kritisiere seinerseits die anatomische Theorie Galens, da dieser "nicht einmal im Traum einen menschlichen Uterus gesehen" habe, sondern nur Uteri von Tieren: Galen habe sich daher ein anatomisches Phantasiegebilde, ein 'Monstrum', vorgestellt und dieses in seinen - dadurch deformierten - anatomischen Theorie-Körper integriert.

Wie der Verfasser betont, widme sich Vesals "De humani corporis fabrica" im Text wie in den aus der Tizian-Schule stammenden Abbildungen der Anatomie des nicht-deformierten, idealen menschlichen Körpers. Die in wissenschaftshistorischer Forschung vielfach absolut aufgefasste, gegen Galen gerichtete Berufung Vesals auf das 'eigene Sehen' wird vor diesem Hintergrund von Danneberg im Kontext umfassender Traditionsbezüge perspektiviert, die den Anspruch Vesals im Blick auf die Entfaltung frühneuzeitlicher Säkularisierungsformen relativieren sollen: "Immer sind die durch Autopsie legitimierten Wissensansprüche das Ergebnis eines komplexen Prozesses der Abgleichung des eigenen Sehens mit der Auffassung von Autoritäten - in diesem Sinn läßt sich sagen, daß dies bei Vesal auf der Folie Galens geschieht." So weise zum Beispiel nicht erst Vesal in seiner Kritik an Galen, sondern auch bereits Galen selbst auf die Grenzen der anatomischen Ähnlichkeit zwischen Mensch und Tier. Andererseits greife auch Vesal bei seinen eigenen Befunden verschiedentlich auf Tier-Anatomie zurück. Parallel zur Kritik Vesals und weiterer Renaissance-Anatomen an Galen werde im 16. Jahrhundert im Blick auf den 'liber naturae' vermehrt ein 'neues Sehen' reklamiert, welches die Naturbetrachtung antiker Autoritäten aus christlicher Perspektive in ihrer Relevanz beschränke. Wie die Heilige Schrift, so zeuge auch das 'Buch der Natur' durch seine wunderbare Einrichtung von seinem göttlichen Autor: Deshalb sei nun das 'Buch der Natur', in theologischen Traditionsbezügen betrachtet, einerseits zentrales Objekt eines 'neuen Sehens' mit christlichen Augen. Gerade hier erlangt nun die Relevanz des von Danneberg anvisierten 'Vorfeldes' frühneuzeitlicher Säkularisierung deutlichere Konturen: Denn die durch die theologisch legitimierte Autopsie begünstigte frühneuzeitliche Ablösung von antiken Autoritäten leiste andererseits zugleich diversen Formen der Säkularisierung Vorschub, die sich ihrerseits wiederum in Analogie zur partiellen christlichen Abkehr von den antiken Autoritäten betrachten lasse. Vor diesem Hintergrund erscheinen zudem die im ersten Band untersuchten medizinethischen Traktate frühaufklärerischer Ärzte, wie auch Pott bereits betont, als Variationen älterer Formen von Säkularisierung, Christianisierung, Sakralisierung und Theologisierung.

Im Kontext der bei Vesal aufgezeigten christlich-teleologischen Denkmuster wird die Bedeutung dieses Autors für die frühneuzeitliche Renovierung der hermeneutica eingehend erörtert: An zentralen Stellen seiner anatomischen Darstellungen verwende Vesal u. a. disziplinübergreifende Termini, die den Anschluss anatomischer Begrifflichkeit an hermeneutische Konzepte unmittelbar ermöglichen. So beanspruchen die in der Anatomie in speziellem Sinn gebrauchten Begriffe der 'harmonia' und der 'structura' gleichermaßen Geltung im Kontext der 'hermeneutica sacra' sowie in weiteren Wissenskontexten. Der durch die 'Harmonie' bekundeten göttlichen Dignität des Text-Körpers der Heiligen Schrift entspreche in diesem Sinn die durch die Anatomie erkennbare 'Harmonie' als Ausweis der göttlichen Dignität des menschlichen Körpers. Als Beispiel für die Aufwertung der Anatomie und deren Ausstrahlung auf andere nicht-medizinische Wissensbereiche führt der Verfasser vor allem Melanchthon an: "Ebenso wie der menschliche Körper erscheint die Vollkommenheit der Heiligen Schrift als ein Bild Gottes, und die Anatomie zeige, wie man durch 'Zerschneiden' und 'Zergliedern' zur funktionalen Einheit gelangen kann. Sie führe die Wissenschaft an und zeige den Weg zur Erkenntnis Gottes". Das Studium anatomischer Schriften empfiehlt Melanchthon deshalb nicht allein den Medizinern, sondern allen Liebhabern der Philosophie.

Im 17. Jahrhundert erscheine, so Danneberg, das 'Buch der Natur' vielfach durch seine am Analyse-Modell der Anatomie orientierte, leichtere Lesbarkeit den in der Heiligen Schrift zu gewinnenden Wissensansprüchen überlegen. Im Zeichen des anatomisch verstandenen 'Zerlegens' und der Sichtbarmachung des im Text-Körper wie im Natur-Körper verborgenen Göttlichen treten die 'Bücher' der Heiligen Schrift und der Natur, bzw. des menschlichen Körpers, in der Frühen Neuzeit in ein komplexes Konkurrenzverhältnis, das, wie Danneberg demonstriert, der Ausprägung ganz unterschiedlicher Säkularisierungsmuster Vorschub leistet. Im Kontext des hier entfalteten, anatomisierenden Lesens im 'liber naturalis' und 'supernaturalis' wird der Begriff der 'Säkularisierung' als Prozesskategorie gefasst, die es Danneberg in aufschlussreicher Weise ermöglicht, "übergreifende dynamische Elemente in jeweils benachbarten epistemischen Situationen, in denen Wissensansprüche gebildet und verhandelt werden, zu erfassen und zu beschreiben."

Die vorliegenden drei Bände versammeln wissenschaftlich anspruchsvolle Beiträge von zuweilen recht unterschiedlicher Stoßrichtung zur soeben wieder auflebenden Säkularisierungsdebatte in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Ein wichtiges Ergebnis des Unternehmens ist die Schaffung einer differenzierten Kategorienbildung sowie die Schärfung methodologischer Prämissen im Umgang mit großräumigen wie insbesondere mit kleinteiligen Säkularisierungsphänomenen, die sich in differierenden Koppelungen an benachbarte kultur- und religionsgeschichtliche Prozesse häufig als unerwartet komplex und deshalb als schwer analysierbar erweisen. Derzeit bleibt die Säkularisierungsdebatte, wie insbesondere der zweite Band zeigt, grundsätzlich kontrovers. Vor diesem Hintergrund laden auch die von Danneberg analysierten, vielgestaltig komplexen 'Vorformen' der Säkularisierung zu weiteren Erkundungen ein, wenngleich die Spezifik frühneuzeitlicher Prozesse hier nicht immer deutlich an Kontur gewinnt. Die Diskussion von Säkularisierungsphänomenen ist - auch im vergleichenden Blick auf Sigrid Weigels ganz anders geartetes Berliner Forschungsprojekt - neu eröffnet. Aus der Perspektive Weigels ist zudem die alte Frage nach den Säkularisaten wieder von Interesse.

Allen drei Bänden fehlt ein leserfreundliches Sachregister. Primärquellen und Forschungsliteratur werden ausschließlich in den Anmerkungen genannt, nicht aber in eigenen Literaturverzeichnissen aufgelistet.

Titelbild

Lutz Danneberg / Sandra Pott / Jörg Schönert / Friedrich Vollhardt (Hg.): Säkularisierung in den Wissenschaft seit der Frühen Neuzeit, Band 2. Zwischen christlicher Apologetik und methodologischem Atheismus.
De Gruyter, Berlin 2002.
370 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 311017510X

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Sandra Pott: Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Band 1. Medizin, Medizinethik und schöne Literatur.
De Gruyter, Berlin 2002.
284 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3110172666

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Lutz Danneberg: Säkularisierung in den Wissenschaft seit der Frühen Neuzeit, Band 3. Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers.
De Gruyter, Berlin/New York 2003.
469 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3110176009

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