Geschenkte Geschichte aufgeschrieben

Katharina Hackers Roman "Eine Art Liebe"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir kannten uns nicht, sind uns vorher nie begegnet, aber ich bin ihrem Buch begegnet", schwärmte Peter Härtling Anfang November nach dem Zusammentreffen mit Katharina Hacker bei den Esslinger Literaturtagen. Ihr neuer Roman "Eine Art Liebe" ist ein großes Wagnis aufgrund seiner enormen thematischen Bandbreite: das Entstehen einer Erzählung, eine zarte (platonische) Liebesgeschichte, ein schlimmer Verrat, eine Männerfreundschaft, die Annäherung zwischen Christen und Juden, die Frage nach dem Wirklichkeitsgehalt von Erinnerungen, die Lebensgeschichte eines jüdischen Überlebenden der Nazi-Gräuel.

"Ich schenke dir diese Geschichte, schreib du sie auf", sagt der israelische Rechtsanwalt Moshe Fein der jungen in Berlin lebenden Sophie und erzählt ihr aus seinem Leben. Wo die Erinnerung nicht reicht, so Moshes Ratschlag, solle sie die Wahrheit glaubhaft erfinden. Sophie, die (wie die Autorin) in Jerusalem Hebräisch studierte, taucht ganz ein in die Welt der fragmentarischen Erinnerungen und ergänzenden Fiktionen.

Sie rekonstruiert Moshes Lebensweg, der in Berlin aufwuchs, dann mit den Eltern nach Frankreich flüchtete und dort in einer Klosterschule auf den Namen Jean-Marie getauft wurde. Moshes Vita erinnert nicht nur an den jüdischen Gelehrten Saul Friedländer, dem die Autorin den Roman gewidmet hat, sondern auch an die autobiografischen Schriften von Georges-Arthur Goldschmidt, der als Jugendlicher in den Savoyer Alpen vor den Nazis untergetaucht war.

Moshe lernt als Jean-Marie den etwa gleichaltrigen Franzosen Jean kennen, mit dem er sich rasch anfreundet, der aber irgendwann seinem Vater (ein Kollaborateur) Auskunft über Moshes wahre Identität gibt. Dessen Eltern werden beim Versuch, die französisch-schweizer Grenze zu passieren, festgenommen und in ein Konzentrationslager deportiert. Ein tödlicher Verrat!

Die Wege der beiden Jugendfreunde Jean und Moshe trennen sich Ende der 40er Jahre, als Moshe sich der Zionistenbewegung anschließt und nach Israel übersiedelt, während Jean den Weg in ein Trappistenkloster sucht. Von seiner Schuld kann sich Jean nie befreien, der Verrat an Moshes Eltern lastet auf seinem Gewissen und führt im betagten Alter sogar zum Bruch mit der Religion. Die Geschichte von Kain und Abel - Moshe versucht beschwichtigend immer wieder klarzustellen, dass Jean niemanden erschlagen habe - nimmt ein umgekehrtes Ende. Jean kommt bei einer Schlägerei (und das ausgerechnet in Moshes Geburtsstadt Berlin) ums Leben. Vielleicht etwas zuviel an Handlungssymbolik, die der ansonsten gefühlvoll nachgezeichneten Beziehung zwischen Moshe und Jean abträglich ist.

Von geheimnisvollem Nebel eingehüllt bleibt auch Sophies Schreibimpuls. Ihre eigene Biografie weist kaum scharfe Konturen auf, eine christlich-deutsche "Büßerrolle" gegenüber einem Juden scheint daher auszuscheiden. Die aktuellen politischen Ereignisse (wie beispielsweise die Ermordung Rabins) spielen sich lediglich auf einer wechselnden Hintergrund-Leinwand ab, so dass sich am Ende immer stärker ein (frei von politisch-religiösen Beweggründen) ur-menschliches Motiv in den Vordergrund schiebt - "eine Art Liebe" zwischen der jungen Sophie und dem über 70-jährigen Moshe. Ein Roman tiefer Emotionen, großer Erinnerungsanstrengungen und schwerer Erschütterungen - getragen von einer aufrichtigen Versöhnlichkeit.

Titelbild

Katharina Hacker: Eine Art Liebe. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
280 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3518414607

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