Vom Reichtum nächtlicher Welten

Über Tzotcho Boiadjievs "Die Nacht im Mittelalter"

Von Kristine HannakRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristine Hannak

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der ersten Szene von Shakespeares "Hamlet" vertreibt der Schrei des Hahns den nächtlichen Besuch des Geists vom toten König. Zu Recht, denn als Verkünder des Morgens trennt dieser die geordnete, überschaubare und hierarchisch strukturierte Tagwelt des mittelalterlichen Menschen von jener Seite des Anderen, Dunklen und Un-Heimlichen der Existenz, die sich in den Vorstellungen von der Nacht und ihren Bewohnern manifestiert. Diese Vorstellungen über die dunkle Seite des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Alltags sind Gegenstand der Studie Tzotcho Boiadjievs, wobei sich zeigt, dass in der Zeit der Dunkelheit keineswegs alle Katzen grau sind. Im Gegenteil: Dem aufmerksamen Blick in die Finsternis enthüllen sich eine Fülle nächtlicher Wesen, Verhaltensweisen und Vorstellungen, die den nächtlichen Raum in seiner Fantastik und in seiner Alltäglichkeit erfahr- und begreifbar machen.

Mit dieser kulturanthropologisch ausgerichteten Studie über die Nacht im Bewusstsein des mittelalterlichen Menschen legt Boiadjiev eine umfassende Untersuchung vor, die sich selbst zur Aufgabe gesetzt hat, eine "Phänomenologie des Andersseins" in mittelalterlichen Vorstellungen zu versuchen. "Anders" ist die Nacht im noch dicht bewaldeten und dünn besiedelten mittelalterlichen Europa - und damit mehr als nur ein Naturphänomen: Als Verwandte des Todes und Reich der Schatten ist sie von hohem Symbolgehalt. Einerseits ein Ort der Ruhe und der Unterbrechung tätigen Lebens, ist sie andererseits in der ängstlichen und abergläubischen Fantasie eines "hochgradig magischen Bewusstseins" mit allerhand Unholden bevölkert, die dem Menschen bedrohlich an den Grenzbereichen seines alltäglichen Lebens auflauern.

In bewusst breit gewählter Perspektive wertet Boiadjiev eine Vielzahl von Quellen aus. Es findet weder eine Beschränkung auf eine bestimmte Gattung, noch auf die so genannte Hochkultur, noch auf einen bestimmten Kulturraum statt. Stattdessen untersucht er theologische und kosmologische Traktate, astronomische, medizinische und visionäre Schriften, Gerichtsakten und - protokolle, Statute der Zünfte und Städte, Ordensregeln und alle Formen der religiösen und weltlichen Dichtung vom Abenteuerroman bis zum Tagelied, immer auf der Suche nach jenem Grundgerüst an Denkmustern, die der dunklen Welt des Anderen ein Gesicht verleihen. Zitiert werden die Quellen in neuhochdeutscher Übersetzung, wobei in den Fußnoten das Original auf mittel- oder althochdeutsch, -englisch, -französisch, isländisch oder lateinisch angegeben wird. Auf diese Weise werden wissenschaftlicher Anspruch und Lesefreundlichkeit aufs angenehmste miteinander kombiniert. Auch zeitlich spannt sich der Bogen weit: Obwohl der Fokus der Studie eindeutig auf der mittelalterlichen Vorstellungswelt liegt, erlauben Ausblicke auf frühneuzeitliche Autoren wie Thomas Nashe, Paracelsus oder Shakespeare, die Langlebigkeit der geschilderten Ideen zu verfolgen und machen die Beobachtungen auch für die Frühe Neuzeit fruchtbar. Ein Exkurs zur Ikonographie der Nacht rundet die Reise in die Mentalitätsgeschichte ab.

Inhaltlich gliedert sich die Untersuchung in drei große Abschnitte: Erfolgt zunächst ein Versuch der Seinsbestimmung der Nacht, widmet sich das zweite Kapitel ihren Bewohnern, bevor das dritte Kapitel die Position des Menschen in der Nacht untersucht. Exkurse und schwarz-weiß Illustrationen vervollständigen das Bild.

Obwohl die Nacht, wie der erste Abschnitt zeigt, in der mittelalterlichen Vorstellungswelt wie der Tag Gottes Werk ist, treffen sich doch ein Schaudern vor der noch unbeherrschten Natur mit christlichen Vorstellungen einer dichotomen Einteilung der Welt in Hell und Dunkel zu einer weit verbreiteten Nyktophobie. Wie ist die Dunkelheit zu denken, die zwar aus Gottes Hand kommt, aber gerade die andere Seite des zuerst geschaffenen Lichts repräsentiert? Hat sie eine eigene Substanz, oder existiert sie nur als Negation und Ableitung des Geschaffenen? Boiadjiev zeigt an einer Fülle von religiösen und säkularen Quellen, wie die zweite Vorstellung charakteristisch für die mittelalterliche Mentalität ist.

Neben theologischen Auseinandersetzungen über die Substanz oder Substanzlosigkeit der Finsternis finden ebenso schon früh praktische Bemühungen statt, die nächtliche Zeit durch Messungen in ein den Menschen zugängliches Phänomen zu verwandeln, so zum Beispiel durch die Einteilung der Nacht in Stunden oder durch die Entwicklung von Uhren. Während die Mehrzahl der ausgewerteten Quellen jene bedrohliche, desintegrierende Qualität der Nacht betont, stellen sich damit auch Stimmen dieser vorwiegend negativen Konnotierung entgegen. So entsteht der Eindruck einer Polyphonie an Vorstellungen zur Nacht, wobei sich die Studie immer wieder dezidiert von einer dem Mittelalter unangemessenen Einebnung ontologischer Ordnungen oder anderen perspektivischen Verfälschungen distanziert.

Der zweite Abschnitt widmet sich den Bewohnern der Nacht, die sämtlich der "anderen Seite" des Menschenlebens in frommer Gemeinschaft und abgeschlossenen Räumen entspringen. Es sind Wesen aus dem Grenzbereich zwischen Diesseits und Jenseits, begabt mit der Fähigkeit, natürliche Ordnungen zu überschreiten. Nach einer Analyse nächtlicher Orte (Weg, Ödnis, Wald, Insel), wendet sich die Studie den realen oder eingebildeten Gefahren in Form ihrer Bewohner zu. Anhand von Kräuterbüchern, Bestiarien, Mythen und Prozessakten gegen Hexen werden die magischen Fähigkeiten von Nachtpflanzen, Nachttieren, einer Vielzahl von Nachtgeistern, Dämonen und Toten vorgestellt. Methodisch werden die Charakteristika sowohl im motivgeschichtlichen Vergleich, als auch in sprachlich-etymologischen Herleitungen begründet. So entsteht ein schillerndes Bild des Lebens in den nächtlichen Räumen, das seine Farben aus der wissenschaftlichen Literatur der Zeit wie aus dem Aberglauben des Volkes bezieht.

Schließlich richtet sich im dritten Abschnitt die Aufmerksamkeit auf den Menschen in der Nacht, auf seine Aktivitäten und Ängste. Zwar ist die Nacht die eigentliche Zeit der Ruhe von der Arbeit, doch bedeutet dies kein Ende der menschlichen Aktivität. Im Gegenteil: Die Nacht ist die Zeit des Gebets, der Lustbarkeiten, des Verbrechens, des Schlafs, der Liebe und der Träume. Es ist die Zeit, in der die Seele sich Gott öffnen soll und die Zeit, in der der Teufel dies zu verhindern sucht. Der Versucher ist in der Dunkelheit ganz in seinem Element. Die Anstrengungen, ihm zu widerstehen, spiegeln sich in einer Fülle an Zunftordnungen, Mönchsregeln und Texten zur Traumdeutung, die zusammen das nächtliche Empfinden der Epoche lebendig werden lassen.

Insgesamt fügen sich die einzelnen Bausteine zu einem großen, in sich differenzierten Ganzen zusammen. Der Fokus auf der Interpretation von Quellen und der Versuch, den mittelalterlichen Vorstellungen mit ihren eigenen Kriterien gerecht zu werden, ermöglichen einen umfassenden Einblick in die Mentalität der weit gefassten Epoche. Einnehmend ist auch die breite Auswahl der Quellen, die die Grenzen zwischen Wissenschaft und Volksglauben, zwischen Alltäglichkeit und Fantastik durchlässig werden lässt. Schließlich lassen auch die angenehme Zitierweise, der flüssige Stil und die offensichtliche Freude am Thema, die immer wieder in den einzelnen Kapiteln hervorblitzt, über eine bedauerliche Häufigkeit an Tippfehlern hinwegsehen und machen das Buch zu einem anregenden und kurzweiligen Lesevergnügen - nicht nur für Mediävisten!

Kein Bild

Tzotcho Boiadjiev: Die Nacht im Mittelalter.
Übersetzt aus dem Bulgarischen von Barbara Müller.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
476 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-10: 3826023862

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch