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Hans-Jürgen Wirths Reader über "Hitlers Enkel" als Kinder der Demokratie

Von Kristina HeinzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristina Heinz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Hitlers Enkel - oder Kinder der Demokratie? Die 68er-Generation, die RAF und die Fischer-Debatte" ist die erweiterte Neuasgabe des bereits 1997 im Psychosozial-Verlag erschienenen Buches "Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld". Die kontrovers diskutierte Sponti-Vergangenheit des Bundesaußenministers Joschka Fischer war der Anlass, es um einige Beiträge zu erweitern.Die Autoren von Annette Simon, Horst-Eberhard Richter, Gerd Rosenkranz, Birgit Hogefeld, Hubertus Janssen bis Carlchristian von Braunmühl ergeben den Anspruch eines Verständigungsversuches. Motive und Hinter-gründe des Umschwungs von 1968, der Protest-Bewegungen und der nachfolgenden "revolutionären" Gewaltwelle der RAF sollen am Beispiel Birgit Hogefeld veranschaulicht werden.

Zu Beginn der Beitragsreihe erörtert der Herausgeber Hans-Jürgen Wirth die Proteste gegen das bürgerlich-faschistische Gesicht des 60er-Jahre Staates, die Auflehnung gegen das alte Wertesystem einer Generation sowie die Ziele der 68er-Bewegung und die Aktualität des Themenkomplexes. Eine seiner psychoanalytischen Thesen, mit der Wirth die enorme Gewaltbereitschaft der Roten Armee Fraktion (RAF) erklärt, ist die Ausführung eines unbewussten elterlichen Rollenauftrags. Die Kinder agieren als sogenannte Delegierte ihrer Eltern. Und die ehemaligen Mitläufer des NS-Regimes strafen sich durch ihre Kinder selbst, um dann als Staat die Kinder wieder zu bestrafen. Die Söhne und Töchter zeigen nun wiederum ihren Eltern, wie man einen Terror-Staat bekämpft. Wirth unterteilt das politische Podium sehr strikt - und teilweise auch unreflektiert - in links/rechts und liberal/konservativ. Seine Argumentationslinie dominieren aktuelle tagespolitische Ereignisse und parteipolitische Vorlieben, die nicht immer transferierbar sind, auf die Geschehnisse von 1968 bis zur Auflösung der RAF 1998. Der Versuch einer objektiven und historisch motivierten Herangehensweise schlägt fehl, der Leser findet sich wieder in einem Dschungel von Parteitagspolemik.

Eine andere Perspektive, die Gewaltbereitschaft auch der Nachachtundsechziger zu hinterfragen, wird von Annette Simon verfolgt. Sie vergleicht die Generationskonflikte von Ost und West. Ausgangspunkt ihrer Erörterung ist die zentrale Frage der ersten heranwachsenden Generation im nachfaschistischen Deutschland: "Wie sich einbringen in eine Gesellschaft, der man gleichzeitig mit großer kritischer Distanz gegenübersteht?"

Weitaus aufschlussreicher für eine Auseinandersetzung mit der RAF oder einen Dialog über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die "Rechtfertigung" politischer Gewalt, sind die bemerkenswert selbstreflektierten Beiträge von Birgit Hogefeld über die Haftbedingungen, die Geschichte der RAF und ihre sehr persönliche Prozesserklärung von 1995 zu 20 Jahren RAF.

"Auch wenn ich heute denke, daß wir viele Fehler gemacht haben - unser Aufbruch und Kampf für eine andere Welt war zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt, und ein solcher Kampf muss konfrontativ geführt werden. Jetzt geht es darum, daß wir Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen ziehen, weil sie für die Bestimmung zukünftiger Kämpfe wichtig sind und weil es auch darum gehen kann, daß andere unsere Fehler wiederholen, weil wir nicht darüber reden."

Gerd Rosenkranz und der Pfarrer Hubertus Janssen, der die Familie Hogefeld gut kennt, berichten über ihre Eindrücke bei dem Prozess gegen Birgit Hogefeld, der am 15. November 1994 vor dem Oberlandesgericht Frankfurt beginnt - 1996 lautet das Urteil lebenslänglich. Birgit Hogefeld wird von einem System, das sie selbst bekämpfen wollte, für ihre Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen. Sie selbst kann das Urteil nicht nachvollziehen. Welche Strafe wäre gerechtfertigt für eine Person, die in ihrer Vergangenheit die Tötung von Menschen rechtfertigte und aktiv förderte?

Für die war der Kampf der RAF gegen ein "menschenfeindliches System" gerichtet, gegen die autoritären Gesellschaftsformen, gegen Kapitalismus, Vereinzelung und Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Keinesfalls wollten sie die Fehler ihrer Eltern wiederholen. Tötung im Interesse einer Idee erschien ihr legitim. Kann eine Idee die Tötung von Menschen legitimieren? Hat kein Mensch das Recht, für seine Ziele das Leben eines anderen zu opfern? Wer gab Birgit Hogefeld die Legitimation, diese Menschen auszuwählen und über ihr Leben zu urteilen? Eine Gruppe, die für humanere Strukturen eintreten will, verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie einen blutigen Krieg führt und Hinrichtungen als notwendig betrachtet. Schwarz-weiß-Denken, die Unterteilung in "Mensch und Schwein" ermöglichte den Hass gegen einzelne Personen und forderte deren Tod. Birgit Hogefeld versucht eine Aufarbeitung ihre Vergangenheit und eine Neudefinition ihrer Person - keinesfalls ein leichter Weg. Die Familienangehörigen der Opfer versuchen zu vergessen und zu verstehen, so Carlchristian von Braunmühl, der in seinem Beitrag die Emotionen, Gedanken und Gefühle von Betroffenen schildert.

Eine Auseinandersetzung mit dem Thema RAF und BRD ist notwendig, und einzelne Beiträge dieses Buches sind hilfreich für den Versuch einer objektiven Herangehensweise an diesen Themenkomplex - die psychoanalytischen Deutungsversuche eher hinderlich. Beide Fronten sollten aber ihren Blick für die Fortschritte und Annäherungen der anderen Seite sensibilisieren. Es hat sich viel getan in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1968 und 2003. Versöhnungsversuche, zum Beispiel von Seiten der Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl und Innenminister Klaus Kinkel, sollten aufgegriffen werden. Im Gegenzug dürfte die Regierung die Dialogbereitschaft einzelner ehemaliger Mitglieder der RAF nicht ignorieren. Die Liste der Opfer der RAF ist lang, zu lang, um Fehler dieser Art ein zweites Mal in Kauf zu nehmen. Norbert Schmidt (Polizist 1971), Paul A. Bloomquist (US Offizier 1972), Clyde Bonner (US Soldat 1972), Ronald Woodward (US Soldat 1972), Charles Peck (US Soldat 1972), Günter von Drenkmann (Richter 1974), Baron Andreas von Mirbach (Militärattaché Botschaft Stockholm 1974), Dr. Hillegart (Wirtschaftsattaché Botschaft in Stockholm 1974), Siegfried Buback (Generalbundesanwalt 1977) mit ihm Georg Wuster (Chef der Fahrbereitschaft) und Wolfgang Göbel (Chauffeur), Jürgen Ponto (Bankier 1977) und Hanns-Martin Schleyer (Arbeitgeberpräsident 1977). Bei seiner Entführung starben Reinhold Brändle, Roland Pieler, Helmut Ulmer (Personenschützer) und Heinz Marcicz (Chauffeur). Witere Tote waren Hans-Wilhelm Hansen (Polizist 1978), zwei niederländische Zöllner (1978), eine unbeteiligte Frau bei einem Banküberfall 1979, Ernst Zimmermann (MTU Vorstandsvorsitzender 1985), Edward Pimental und zwei weitere US Soldaten (1985), Karl Heinz Beckurts (Siemens Vorstandsmitglied 1986) und Eckhard Groppler (Chauffeur), Gerold von Braunmühl (Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt 1986), Alfred Herrhausen (Deutsche Bank Vorstandsvorsitzender 1989), Detlef Karsten Rohwedder (Treuhandchef 1991), Michael Newrzella (GSG9 1993). Eine traurige Bilanz bei der die Toten der RAF nicht einmal angeführt sind.

Titelbild

Hans-Jürgen Wirth (Hg.): Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Die 68er, die RAF und die Fischer-Debatte.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2001.
240 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3898060896

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