Satyrische Kriegskritik

Andreas Merzhäusers Studie zu Grimmelshausens "Simplicissimus"

Von Stefanie ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Bonner Germanist Andreas Merzhäuser greift mit seiner Untersuchung zu einem der bekanntesten Romane der Frühen Neuzeit in eine schon lange geführte Diskussion um das Verhältnis zwischen Moderne und Tradition im Spiegel der Literatur des 17. Jahrhunderts ein. Sein Anspruch ist es, den Grenzcharakter des "Simplicissimus" an der Schwelle zur beginnenden Moderne aufzuweisen. Dabei vertritt er einen in der Forschung nicht mehr so ungewöhnlichen Standpunkt, der sich jedoch in monographischer Form selten so deutlich dargelegt findet.

Merzhäusers Untersuchung nimmt sich vor, entgegen den Konventionen einer, wie er meint, eingefahrenen, an anachronistischem Objektivismus und Traditionsgeschichte ausgerichteten Forschung die Strategie heterogener Schreibstile und Lektüren offenzulegen, die bewusst angelegt seien. Dies diene einer gerechteren Annäherung an den Roman und seine Eigenarten und dem von der traditionellen Forschung nicht gern gesehenen Versuch, "dem Simplicissimus im Gegenwärtigen Geltung zu verschaffen". Der Roman adaptiere nämlich vordergründig überlieferte Traditionen des Schreibens, breche aber auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig mit ihnen. Äußerlich würden zwar "Topoi und Konzeptionen" übernommen, je in den Roman integriert, gleichzeitig offenbare sich aber der "Grenzcharakter" des Textes, ja seine Modernität, indem die ästhetischen Verfahren mit genau diesen Traditionsbeständen spielen und sie brechen, neue "ethisch-ästhetische Entwürfe lancieren". Merzhäuser umreißt klar und deutlich in einem recht ausführlichen Vorwort seinen Anspruch: Nicht geht es ihm wie seinem Feindbild darum, "traditionsgeschichtliche Fakten anzuhäufen", sondern ein "neues, facettenreicheres Bild der Epoche" zu erstellen, indem das Reflexionspotential des Romans auf seine Entstehungszeit der Diskontinuitäten, Widersprüchlichkeiten und Pluralitäten offengelegt wird. Methodisch bekennt sich Merzhäuser dabei zu Benjamins kritischer Hermeneutik, und unübersehbar ist die Intention, die Anlage des Trauerspielbuches zu imitieren, wenn er auf die "sprunghafte Laune des Ganges" seiner in fünf Kapitel gegliederten essayistisch anmutenden Untersuchung vorausweist und sie damit begründet, dass sie dem Stil auch des Erkenntnisobjektes enspreche. Denn dessen "konkrete ästhetische Erfahrung" entwinde sich einem systematischen und historisch klaren Zugriff.

Das Kapitel "Der verborgene Autor" geht zunächst von Grimmelshausens vorher erschienenem Roman, dem "Satyrischen Pilgram", aus und legt dar, wie an den Rändern des Haupttextes, etwa durch Anagramm und Vorrede, an die Stelle des traditionellen gelehrten Autors, der weise und von einem erhobenen Standpunkt gelehrten Wissens aus die moralische Unterweisung der Leser leistet, änigmatisch ein neuer Typ des Autors eingeführt wird, der sich bei gleichzeitiger Einbettung in traditionelle Konzepte als Ungelehrter, illiteratus, inszeniert und der subjektiven ,Erfahrung' des erzählten Ich gerecht zu werden sucht. Das "weite Feld der Erfahrung" liefert einen neuen Grund und fordert neue Methoden des Schreibens heraus, jenseits von Gelehrsamkeit und überlieferten christlichen Normensystemen, die traditionell den Horizont bilden. Besonders deutlich wird das an der Kriegskritik im Roman selbst, die nicht in traditioneller Manier abwägt, das Für und Wider antithetisch diskutiert und so letztlich nach einer (göttlichen) Rechtfertigung sucht, sondern unverhohlen der Grausamkeit des Kriegs Nachdruck verleiht. Der "Satyrische Pilgram" eröffnet, so die These, eine Programmatik, die der "Simplicissimus" weiterführt. Die änigmatische Prädominanz der Erfahrung führt auf verschiedenen Ebenen zu einer Sprengung eines traditionell didaktischen Diskurses.

Im Kapitel "In der Maske des Satyrs" verfolgt Merzhäuser seinen Ansatz weiter und versucht nachzuweisen, wie sich sowohl im "Satyrischen Pilgram" wie auch im "Simplicissimus", wiederum bereits poetologisch programmtisch in Vorreden, Nachreden und Titelkupfern angelegt, strukturell bei gleichzeitiger vordergründiger Akzeptanz der tradierten Gattung der Satyre deren heimliche Unterwanderung durch die eigentliche Dominanz der subjektiven Erfahrung und des Polyperspektivismus findet. Denn es bleibt nicht bei dem traditionellen verspottenden Gestus und der satyrischen Kritik an der verkehrten Welt, die schließlich wieder die moralische Didaxe zum Ziel und eine festgefügte christliche Ordnung als Ausgangspunkt hätten. Die für die Satyre typische ungezwungene freie Rede wird nicht funktionalisiert um einer monologischen Urteilspraxis willen, sondern im Gegenentwurf zur traditionellen Satyre erweist sich schließlich besonders der "Simplicissimus" als dialogisch angelegt, indem er Widersprüchlichkeiten und Uneindeutigkeiten zulässt und herausfordert. Dieser Roman geht so weit, der "polyperspektivischen Betrachtung" eine "Degradierung autoritäter Strukturen" hinzuzufügen.

Wie dieser Text Zweifel an einem providentiellen Geschichtsverlauf und der Sinnhaftigkeit des Geschehens anmeldet, ist Thema des dritten Kapitels "Die neue Zeit". Darstellungen von Brutalität und Gewalt, der atrocitas des Krieges, werden nicht aufgehoben in der Rückbindung in eine Geschichte, die so und nicht anders verlaufen soll, vorherbestimmt ist. Strukturell findet sich das schon bekannte Muster. Kommentare, die das Geschehen in eine Geschichtstheologie einbetten und so auch Leiden als Bewährungsproben funktionalisieren und Didaxe betreiben, werden immer wieder durch die Erzählungen des Geschehens und das subjektive Erleben des jungen Simplex selbst gebrochen. Auch hier gilt der Primat der Erfahrung: Die tradierte christliche Heilsgeschichte gilt nicht weiter als der zuverlässige Bezugsrahmen für das irdische Geschehen. Satyrische Kriegskritik in simplicianischer Form, wie oben angedeutet, offenbart nurmehr die Heillosigkeit der Welt als Signum einer neuen Zeit und stellt eine christliche Ordnung nicht als eine tradierte gegebene, sondern als eine vorerst für die neue Zeit zu erstreitende dar.

Das vierte Kapitel "Der Fall Simplicius" zeigt, wie das schwankhafte Element durch Erzählstrategien von seiner traditionellen Funktion der moralischen Beurteilung gelöst wird. Es schafft zwar Distanz, dient aber nicht dazu, richterliche Didaktik zu lancieren, sondern die Komik bietet auf besondere Weise Einblick in die Reflexionen und Entscheidungsprozesse eines listiges Subjekt, das den Ansprüchen der christlichen Werte nicht gerecht werden kann, sondern rational den Anforderungen der Welt trotzen muss, um sich zu behaupten. Durch die Komik gewinnt Simplex mit der kritischen Distanz auch eine "Komplizenschaft", da er nicht "moralsatyrisch" verdammt, sondern ganzheitlich beurteilt wird und sich so als ein modernes eigensinniges Individuum offenbart. Der humoristische Einblick in seine subjektiven Erfahrungen wirkt einer Vorabverurteilung seines Handelns entgegen. Die Tradition erscheint dabei noch hintergründig als Korrektiv, das Handlungen in Frage stellt und die Zweifel an ihnen wachhält, ohne aber eindeutige Ansprüche im Sinne eines verbindlichen allen Geschehnissen vorausliegenden Systems zu stellen. Der Erzähler erweist sich als ein moderater Richter, der wiederum den subjektiven Erfahrungen des Lebens in seiner Haltung Rechnung trägt, polyperspektivisch agiert und nicht dogmatisch eine Position einnimmt. Insofern handelt es sich beim "Simplicissimus" um einen eminent modernen Roman, der den Spannungen seiner Entstehungszeit gerecht wird.

Das letzte Kapitel "Schlüsse" deckt das Spiel mit den Erwartungen eines traditionell kompositorisch abgeschlossenen Romanendes auf. Zwar werden mehrmals ab dem Ende des fünften Buches Schlüsse in Form einer angedeuteten Wandlung bzw. Einsicht des Protagonisten in die Notwendigkeit, sein Leben zu ändern, an die Hand gegeben, jedoch handelt es sich bei den vorgetragenenen Entschlüssen zum Rückzug aus der Welt, zur Pilgerschaft und zum kontemplativen Leben in der Inseleinsamkeit lediglich um vorübergehende Rollenspiele. Überall trifft man "auf jene Textstrategie der diskreten Subversion" eines Erzählers, der das Subjekt, seiner Erfahrungswelt ausgeliefert, letztlich als labil entlarvt. Jeweils finden sich nur "vorläufige Schlüsse, die durch neue Erfahrungen und fremde Perspektiven jederzeit überholt werden können". Der Text "öffnet [...] sich dem Vielsinn des Lebens und der Pluralität der Perspektiven", eben dem Prinzip der Erfahrung. Die grundsätzliche Unabgeschlossenheit entspricht auch der zyklischen Ordnung der gesamten Simplicianischen Schriften.

Merzhäusers Untersuchung liest sich anregend und passioniert, weil sie eine deutliche Gruppierung zwischen Traditionalisten und Modernisten annimmt, sich auf seiten letzterer positioniert und den Anspruch erhebt, den Roman deutlich als Manifest der beginnenden Moderne zu deklarieren. Sie nimmt somit an einer Diskussion teil, die seit langem in der Barockforschung generell geführt wird, die aber vielleicht nicht mehr so stark polarisiert, wie es die Arbeit nahe legt. Dies mag methodisch begründet sein. Ihr essayistischer Stil schließt eine subtile Auseinandersetzung mit den Forschungspositionen aus und dient in überzeichneter Form dem Erkenntnisziel. Deshalb ist für Spezialisten die Lektüre durchaus anregend und herausfordernd. Diese können das Erkenntnisziel auch in seiner methodischen Verankerung in der mittlerweile langen Forschungstradition zur Barockliteratur beurteilen.

Titelbild

Andreas Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung. Innovation und Tradition in Grimmelshausens "Abentheurlichem Simplissimus Teutsch".
Wallstein Verlag, Göttingen 2002.
256 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3892446199

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