Nichts - und doch: fast Alles!

Über Peter Glasers "Geschichte von Nichts"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Karsten Frucht [1949-2003]

Schon der Titel dieses kleinen Bandes mit fünf Erzählungen von Peter Glaser macht deutlich, dass man sich hier nicht auf saftige short stories mit klarem Plot, nachvollziehbarer Spannungskurve oder womöglich, wie in der klassischen Novelle, auf einen Knalleffekt zum Ende hin einstellen sollte. Im Gegenteil, es handelt sich um ruhige, zurückgenommene, gleichsam nebenbei entworfene Geschichten eigenartig randständiger Existenzen, und doch geht es auch hier - um fast alles. Glaser stellt dem Bändchen ein Zitat des Großmeisters der short story, Hemingway, vorweg, in dem es kurzgesagt heißt, es ginge in allen Geschichten immer um Liebe und Tod, und dass die Liebe nie glücklich enden könne.

Trennung, Verlassenwerden, ja auch Liebesverrat und Tod, all dies findet sich auch in diesen stories, aber es wird nur sehr verhalten, fast verschämt behandelt. Die Erzählerfiguren - drei der fünf Erzählungen sind in Ich-Form gehalten - werden bewusst unvollständig beschrieben, sie sind einfach da, so wie sie sind, kleine Medien-Angestellte beispielsweise, Schrotthändler oder Hilfsarbeiter in einer Papierfabrik, jedenfalls keine Beamtenexistenzen. So unscharf und rätselhaft sie uns bleiben, so durchsetzt ist ihr Alltag von Träumen und Absencen. Und dabei spielen die Geschichten doch in einer überpräzis zu spürenden Gegenwart! Die Geschichte "Das Dreikörperproblem" etwa, die eine Art Dreiecksverhältnis entwickelt, hebt so an: "Es war das Jahr, in dem die nackten Telefonpfosten auf den Straßen wieder gläserne Seitenwände und Vordächer bekamen" - müsste also irgendwann Mitte oder Ende der 90er Jahre sein. Anderswo ist beiläufig die Rede von dem "Tag, an dem das Welthandelszentrum in New York zum Einsturz gebracht wurde". Aber alles andere bleibt in der Schwebe, die Personen- und Realitätspartikel, die wir zu fassen bekommen - und das Lesen ist hier gleichbedeutend mit dem Versuch, ein vollständiges Bild aus diesen Partikeln zu erzeugen - fügen sich nicht zu etwas Geschlossenem.

Dabei wird die Umgebung mit äußerster Hingabe geschildert. Ein Mann auf dem Weg zu seiner Nachtschicht: "Fischkorn ging am süßen Mörtelgeruch alter Häuser entlang durch den Abend zu der Fabrik. Nichts in den Händen zu tragen, nur zu gehen. Die Schatten der schmiedeeisernen Zaunspeere streiften über seine Jacke, und sein eigener Schatten überholte ihn auf dem feuchten Gehweg, wie ein riesiger Scheibenwischer." Und, ein paar Sätze weiter: "Unter dem späten Licht öffnete sich der Fluss spiegelnd zu einem tieferen Himmel. Die letzten Schwimmvögel zogen Spuren über das polierte Wasser, wie Glasschneider. Über dem Fluss lag Kälteglanz, auf dem wie in Öl gebraten die Lichter der Stadt schwammen."

Wunderbar sind viele der Metaphern, die Glaser hier erschafft. Man möchte sie am liebsten hintereinanderweg zitieren, um zu zeigen, was alles aus Sprache gemacht, was in ihr möglich ist, welche Schönheit aus ihr entsteht - und das in einer so unprätentiösen Selbstverständlichkeit, dass man als Leser fast applaudieren möchte. Es gibt Metaphern, die hinter der Bildermächtigkeit eines Arno Schmidt nicht zurückstehen. Wenn letzterer etwa schreibt, "Ein Motorrad schleppte Stahlkugeln vorbei; in der Mitte zürnend große, die sich ineinander schoben", so findet sich bei Glaser folgender Satz: "Ein kleines Mädchen fiel hin und schrie so laut, dass der Raum sich nach einem Punkt hin krümmte." Natürlich missglücken dann gelegentlich auch manche Vergleiche, wenn es nahe der eben zitierten Passage heißt: "Gern hätte er sich gefühlt wie ein langer, nachtblauer Joghurtlöffel, schlankweg den Dingen auf den Grund zu gehen". Aber das fällt dann kaum ins Gewicht, wenn wir nachvollziehen, wie seine Figuren sich um genaues Beobachten, um äußerste Schärfung der Sinne bemühen. Von den kleinsten optischen Experimenten - Fischkorn versucht die Staubkörnchen zu beobachten, die auf der Tränenflüssigkeit seiner Augen treiben - gelangen Glasers Erzähler hin zu einer wahren Schule des Sehens, die noch im Fensterglotzen des spießigsten Kleinbürgers den Beobachtungswillen würdigen kann: "Als Kind konnte ich nicht verstehen, wie jemand an einem Fenster lehnen und auf eine Straße sehen kann, auf der es nichts zu sehen gibt als eine Straße und Leute. Dann zeigte Tante Nelly mir, was es zu sehen gibt, und die offenen Augen gingen mir auf."

In Fällen, wo sich Dinge und Menschen der Wahrnehmung des Erzählers erschließen, kommt es gar zu Momenten jähen Glücks, zu Epiphanien, zu Augenblicken der Erleuchtung. Im Anschluss an die oben zitierte Beschreibung des kalten Flusses heißt es: "Während Fischkorn weiter in die Größe der Verkehrsbewegung und der fahrenden Lichter ging, stieg davon ein Jubel in ihm auf, dass er an etwas Grandiosem teilhatte."

Glasers Figuren sind in all der Dürftigkeit ihrer Existenz zu solchen Ausbrüchen von Pathos imstande. Es blitzt gar etwas von dem auf, was man vor einiger Zeit vielleicht eine Ästhetik des Widerständigen genannt hätte. "Das Dreikörperproblem" endet mit der Beschreibung von Fischkorns euphorischem "Gefühl, in einer Armee der Gerechten im Stillen für eine gute Sache zu kämpfen: für das Ende des Kampfs, und sei es vergebens."

Das Existenzialistische dieser pathetischen Einschübe wird noch dadurch verschärft, dass Glasers Figuren auf der schmalen Scheide von überscharfer Wahrnehmung und Irrsinn entlangwandeln. Nachdem wir die Geschichte des Hilfsarbeiters Fischkorn 40 Seiten lang verfolgt haben, setzt ein Abschnitt unvermittelt so ein:

"An der Rezeption eines Eishotels stritten sich ein Mann und eine Frau, ob es sich im Einzelschlafsack angenehmer nächtige als im Doppelschlafsack. Der Mann gab nach, Einzelschlafsäcke wurden in die gefrorenen Zimmer gebracht. Während die beiden hinter einem großen Eisblock vorbei aus dem Foyer gingen, verwandelten sich ihre Gesichter in eine dunkle Flüssigkeit, die unter den großen Facetten auf dem Block hindurchgegossen wurde, und in dem kurzen Dunkel leuchteten ein paar quer stehende Bruchflächen in dem Eis auf. Ehe sie in einem Tunnelgewölbe aus Eis verschwanden, sah man sie noch einmal, ihre Schatten wie aus einer Stahlform ausgestanzt und ihre Gesichter klingenscharf in dem klaren Licht. Gefrorene Blitze tauten auf."

Ein stilles, präzise beschriebenes Umkippen in eine Wahnwelt. Büchners Lenz grüßt von ferne ("Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte"), wenn es bei Glaser heißt: "Er wunderte sich, dass die Leute alle so am Boden hafteten."

Es handelt sich hier jedoch nicht um klinische Studien, sondern um das Einnehmen schräger Perspektiven, von denen aus ein überscharfes Licht auf das Reale fallen kann. Die surrealistischen Einbrüche ziehen dabei dem notgedrungen um Plausibilität bemühten Leser, der sich um das Füllen der Lücken in dem porösen Zeit-Raum-Gefüge, in dem er sich hier bewegt, den Boden unter den Füßen weg. Manche Rezensenten haben den Einfluss Musils oder Pynchon/DeLillos darin sehen wollen, mich erinnert diese Prosa mehr noch an die Spracherotik einer Brigitte Kronauer, an die glasklar-scharfe Prosa Kafkas, und die Kipp-Effekte lassen an die Kurzgeschichten etwa eines Ror Wolf denken. Aber anders als die merkwürdigen Herren eines Ror Wolf, die in einem Zeitraum um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert um die Welt reisen oder stürzen, nehmen Glasers Figuren auf ihre Weise an der Gegenwart teil. Teilweise sind es Hacker, die die Monopolstellung eines Bill Gates zu knacken versuchen. Die Erzählung mit dem ironischen Titel "Raumpflege" etwa beschreibt den Versuch, mittels komplizierter Manipulationen an den in den Tiefen der Rechnernetze implementierten Umsetzungen der Zahl Pi die Systeme zum Absturz zu bringen. Glasers Erfahrungen aus der Zeit der Arbeit beim Chaos Computer Club und als Redakteur von Computerzeitschriften spielen hier herein und sorgen dafür, den Geschichten den Eindruck der Weltferne auszutreiben.

Wenn man überhaupt einen Einwand gegen das Bändchen erheben könnte, dann vielleicht den, dass das hier Fragmentarisierte und wie in Versuchsanordnungen Durchgespielte - viele Motive des Buches werden variiert, tauchen in wechselnder Form auf - zu einer größeren Form zusammenschießen möge. Glaser soll angeblich seit zehn Jahren an einem großen Roman sitzen, zu dem sich diese Erzählungen wie Ausschnitte, kleine Vorformen verhalten. Die Themen Liebe, Trennung, Tod, die hier im Hintergrund immer mitspielen und fast wie unter Verschluss gehalten werden - wie werden diese sich in Romanform erst entfalten! Aber auch als solche können die kleinen Geschichten für sich stehen. Man halte sich vorerst an das, was sie als Schule des Sehens lehren:

"Es waren seine Blicke, von denen die Welt zusammengehalten wurde, sie stützten die Dinge wie ein Mieder aus Achtsamkeit, und er bemühte sich, seine Umgebung durch Anschauen am Auseinanderbrechen zu hindern. Jemand schüttete ihm einen Eimer warmes, glosendes Licht ins Gesicht." Das für den Moment aufblitzende Glück, scheint Glaser anzudeuten, ist alles, was wir fassen können. Aber ist das wenig?

Titelbild

Peter Glaser: Geschichte von Nichts. Erzählungen.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003.
192 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3462033107

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