Jenseits der Identität

Ein Sammelband widmet sich jüdischen Intellektuellen im 20. Jahrhundert

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Axel Schmitt

Dietz Bering hat 1978 in seiner "Geschichte eines Schimpfwortes" die Entstehung des Wortes "Die Intellektuellen" auf die Dreyfus-Affäre datiert. Das Wort kam am Ende des 19. Jahrhunderts rasch von Frankreich nach Deutschland. Mit ihm verband man Bedeutungen wie abstrakt und instinktlos, antinational, dekadent. Vor allem aber wurde es, wie Thomas Sparr mehrfach zeigen konnte, ein Synonym für 'Juden'. Wer aber wen als Intellektuellen und damit als Juden bezeichnete, lässt sich nicht eindeutig ausmachen; die politische Rechte nannte die literarische Linke so, im Gegenzug rühmten sich konservative Schriftsteller, Intellektuelle zu sein. Der Begriff des Intellektuellen lässt um die Jahrhundertwende jede definitorische Trennschärfe vermissen; er gleicht in seiner, wie Bering es nennt, ideologischen Polysemie einem Mobile, das der politische Wind in unterschiedliche Richtungen bewegt. Der Analogisierung von Intellektuellen und Juden arbeitet um die Jahrhundertwende eine semantische Schwäche im Begriff des 'Juden', des 'Jüdischen' entgegen, Begriffe, die ganz Unterschiedliches bezeichnen konnten, deren Konnotationen willkürlich waren. Jacques Le Rider hat es für die Wiener Moderne gezeigt ("Das Ende der Illusion. Zur Kritik der Moderne", 1990) und Shulamith Volkov die grundlegende Begriffsverschiebung unter dem Titel "Die Erfindung des modernen Judentums" (1991) dargestellt. Die Jahrhundertwende ist eine Ära begrifflicher Neuschöpfungen, rasch aufblühender Kunstworte, wetteifernder Bezeichnungen für Stile, Bauformen, Krankheiten, soziale Phänomene, technische Entdeckungen, die sich ebenso rasch verflüchtigen wie sie entstehen, eine "Zeit der anderen Auslegung", wie Rilke sie prägnant in seinen "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" nannte.

Dreyfus wird auch in der Geschichte der jüdischen Selbstinterpretation seit der Jahrhundertwende zum entscheidenden Fixpunkt: Er war das Modell, nach dem man das Bild des modernen Juden schuf, als Fremdbild wie als Selbstbild. Anhand des Begriffs der 'Intellektuellen' lässt sich die schwankende, unsichere, schließlich willkürliche Bedeutungszuschreibung erkennen, die dem Begriff von 'Juden' und 'Jüdischem' seit der Jahrhundertwende überhaupt widerfährt. Zu einem ähnlichen Befund gelangen die Beiträge des von Ariane Huml und Monika Rappenecker herausgegebenen Sammelbandes "Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert", die ihren Fokus allerdings primär auf die Verarbeitung der Shoah legen. Wenn diese auch weiterhin eine äußerst wichtige, wenn nicht die zentrale Stellung der intellektuellen Auseinandersetzung vieler jüdischer Denker des 20. Jahrhunderts einnimmt, so ist doch das Ringen um den Erfolg einer gesellschaftlichen und künstlerischen Neuorientierung bereits vielfältig und oft eindrucksvoll zu erkennen, wie die beiden Herausgeberinnen in ihrer Einleitung unterstreichen. "Jenseits von ausgetretenen Pfaden ist nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues, selbstbewusstes europäisches, amerikanisches und israelisches Judentum entstanden, das ohne Zweifel nach wie vor behaftet ist mit allen Problemen, aber auch versehen mit allen Chancen, die sich aus dieser neuen Rolle ergeben haben und noch ergeben werden." In literatur- und kulturwissenschaftlichen Einzelstudien wird die Arbeit an der Shoah in Literatur, Musik, Malerei, Soziologie und Theologie im Blick auf das jüdische Selbstverständnis zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur und dessen Neubewertung in Emigration und Exil untersucht. Zentral für alle Beiträge ist die Frage nach dem Standort des jüdischen Denkens und Schreibens im Übergang zum 21. Jahrhundert. Gemeinsames Ergebnis ist die Feststellung, dass jüdische Identität niemals fest umrissen war und ist. Man sollte daher, wie es Ariane Huml und Monika Rappenecker einleitend betonen, "die schmerzhaften Folgen von Vertreibung und Exil jedoch nicht auf Kosten einer positiv verstandenen Weiterentwicklung des jüdischen Intellektualitätsbegriffs beschönigen oder verwässern. Die mögliche Freiheit von Juden und Nicht-Juden liegt im beispielhaften Umgang mit eben dieser Freiheit auf der Basis des jeweils vorhandenen intellektuellen Fundaments." Dieses intellektuelle Fundament, das zeigt die Geschichte der Engführung des Begriffs der 'Intellektuellen' mit jüdischem Denken, bedarf - je nach historischem Kontext - unterschiedlicher Materialien und ist keineswegs so stabil wie gerne suggeriert wird.

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Ariane Huml / Monika Rappenecker (Hg.): Jüdische Intellektuelle im 20. Jahrhundert. Literatur- und kulturgeschichtliche Studien.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
296 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826023102

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