"Sein Werk ist nur eines des Einflusses…"

Werner Hamachers Textsammlung vereint wegweisende Nietzschelektüren aus Frankreich

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 1986 erschien im Verlag Ullstein zum ersten Mal die Anthologie "Nietzsche aus Frankreich". Der Herausgeber Werner Hamacher reagierte damals auf die bereits seit vielen Jahren in Frankreich sich vollziehende 'Nietzsche-Renaissance', im Zuge derer Deutschlands schwieriger Sohn - diesmal nicht wie 1889 als psychisches Wrack, sondern als intellektuell vitales Kraftzentrum - aus einem milderen Klima Europas reimportiert wurde. Das Gros der Texte geht auf die denkwürdige Nietzsche-Konferenz, "Nietzsche aujourd'hui", in Cerisy-la-Salle im Juni 1972 zurück, auf der unter anderem Jacques Derrida seinen wirkungsmächtigen Vortrag über "Die Stile Nietzsches" hielt, in dem nicht nur eine wegweisende poetologische Lektüre von Nietzsches 'feminin'-polysemantischem Schreibstil vorgelegt wurde, sondern implizit den auch in Frankreich noch grassierenden Ausläufern einer lebensphilosophisch imprägnierten Lesart des allzu Unzeitgemäßen eine Absage erteilt wurde. Wie erzählt wird, ärgerte sich der Nietzsche-Herausgeber Mazzino Montinari noch lange Zeit über seine Entscheidung, Nietzsches Notiz "Ich habe meinen Regenschirm vergessen" in die Edition der Nachlassfragmente aufzunehmen: Derrida nämlich, dem dieser Satz ins Auge gesprungen war, befand, nicht nur dieser Satz - der bar eines Kontextes, nur durch Anführungszeichen in den Rang eines möglichen Zitats aus fremder Feder gehoben wurde - sei zu lesen wie eine Mannigfaltigkeit an Verweisen oder noch unbekannten Bedeutungsschichtungen, sondern jeder Satz Nietzsches ist von nun an in solcher Vielstimmigkeit zu lesen. - Leider kam es nie dazu, dass sämtliche im Tagungsband abgedruckten Vorträge der spannungsreichen Konferenz nebst ihren Protokollen ins Deutsche übertragen wurden. Zwei weitere Texte der Tagung, von Eugen Fink und Jean-Michel Rey, sind schon 1981 in Alfredo Guzzonis Band "90 Jahre philosophische Nietzsche-Rezeption" erschienen.

Dieses Manko ist dem Sammelband jedoch nicht anzulasten. Schließlich will der Band ein Studien- und Dokumentationsbuch sein, das genau diejenigen Texte bringt, die insofern Rezeptionsgeschichte schrieben als sie "ein verändertes Verhalten zu Nietzsches Denken" bewirkten. Die neue Ausgabe im Philo Verlag ist um drei Texte erweitert. Zu ihnen gehören ein Aufsatz aus der Feder Georges Batailles und zwei Texte von Michel Foucault: "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" von 1971 (Foucaults Hommage an den drei Jahre zuvor verstorbenen Lehrer Hyppolite) war bereits bei Guzzoni veröffentlicht. Neu hinzu gekommen ist der in den gesammelten "Schriften" vor kurzem erstmals auf deutsch publizierte 'Roundtable-Beitrag', "Nietzsche, Freud, Marx", (bei Hamacher leider ohne Diskussion abgedruckt) den Foucault 1964 auf dem gleichfalls rezeptionsgeschichtsträchtigen Nietzsche-Kolloquium in Royaumont gehalten hatte. Dort war auch das Editionsprojekt von Colli und Montinari mit seiner französischen Ausgabe im Verlag Gallimard vorgestellt worden, welche die damaligen Herausgeber Gilles Deleuze (der das Kolloquium ausrichtete) und Michel Foucault verantworteten. Während Foucault einen dritten Weg zwischen rhetorischer und lebensphilosophischer Handhabe Nietzsches anbietet, indem er die Methode der 'Genealogie' neben diejenige der Psychoanalyse und der (strukturalistisch verstandenen) Analyse der Produktionsmittel als grundlegend neue, antihermeneutische Formen der Interpretation stellt, ist Deleuze - trotz seiner später zusammen mit Félix Guattari im Jahr von Cerisy-la-Salle veröffentlichten Synthese von Marxismus und Psychoanalyse auf Nietzschescher Grundlage im "Anti-Ödipus" - als Vertreter einer inhaltlich ausgerichteten Nietzschelektüre einzustufen, die sich im Gegensatz zu Derridas Interpretationen nur schwer aus dem Heideggerschen Bannkreis lösen kann. Jedoch stellt Deleuzes 72er Vortrag "Nomaden-Denken" einem Meilenstein der französischen Nietzsche-Rezeption dar, auch und gerade, weil er zu einer anderen, mithin weniger erwünschten Haltung gegenüber Nietzsche beitrug. Vielleicht in Teilen naiv - oder vielmehr agitatorisch - ist er dennoch repräsentativer für die Stimmung nach der Revolte als die kühlen, theoretisierenden Texte Foucaults. Noch extremer fiel gar der Vortrag eines später nicht minder berühmten Mitglieds der Gruppe "Sozialismus oder Barbarei", Jean-François Lyotard, mit seinen "Bemerkungen über die Wiederkehr und das Kapital" aus - ein Pamphlet am Rande des Aufrufs zum Terrorismus, wie man heute wohl sagen würde. Beide Texte, die einen unmittelbaren Eindruck von Nietzsches Wirkung 'auf der Strasse' vermitteln, fehlen in der Erst- wie in der Neuauflage der Anthologie von Hamacher. (Bis heute sind sie auf deutsch nur in Sammelbänden des Berliner Merve Verlag zugänglich.) Anders als in Frankreich kam es in Deutschland zu keinem antifaschistisch motivierten Enthusiasmus hinsichtlich Nietzsche. - Dies ist nur verständlich und sicher auch nicht der größte Mangel des deutschen Rezeptionsverlaufs, ein Mangel der Anthologie ist es jedoch. Neben den fehlenden Protokollen ist es aber ihr einziger.

Dafür bekommt der Leser gleich nach Hamachers Einleitung den Text Batailles, "Nietzsche im Lichte des Marxismus" zu lesen, der als Hebamme von Deleuzes und Lyotards Nietzscheverständnis gelten kann, jedoch aus heutiger Sicht geradezu zahm anmutet. Er entstammt einem Buchprojekt über 'Nietzsche und der Kommunismus', an dem Bataille in den 50er Jahren arbeitete, das er aber nie fertig stellte. Anschließend sollten sie im dritten Band des 'Verfehmten Teils' über 'Die Souveränität' aufgehen, der ebenfalls unvollendet blieb. Als Einzelpublikation schon 1951 erschienen, erlaubt er einen Einblick in den Kern des Bataillschen Denkens der Souveränität, die er in Nietzsches Herrenmoral verwirklicht sieht, welche sich vor Affektionen durch die ressentimentgeleitete Moral der Sklaven mittels radikaler Selbstbeherrschung frei hält. "Niemand kann Nietzsche authentisch lesen, ohne Nietzsche zu 'sein'," lautet Batailles enigmatische Quintessenz. Er selbst folgte in seinem "Nietzsche-Memorandum" (fertiggestellt 1944, publiziert 1945) diesem Credo, indem er 280 ausgewählte Aphorismen Nietzsches publizierte, in denen er seinen Nietzsche las. Dies kommt der Invertierung der Aussage gleich, die Hamacher eingangs zitiert: Der große Literat der frühen Nietzscherezeption in Frankreich, André Gide, nämlich schrieb, dass Nietzsches Werk "nur eines des Einflusses sei". So bringt Bataille die Wirkung Nietzsches zurück auf das Wirken seiner Texte in ihrer metaphorisch-aphoristischen, bis heute nicht gänzlich kategorisierbaren Ausdrucksform.

Immer wieder lesenwert ist dazu Pierre Klossowskis Vortrag am College de France 1957 über Nietzsches subversiven Humor und den Sinn der Parodie. Gleiches gilt für Maurice Blanchots Meditationen über fragmentarische Form und die Inhalt von Nietzsches Aphorismen. Schon in der Erstauflage waren auch die Texte der Straßburger Philosophen Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy enthalten, die abermals Nietzsches 'Sprache' unter veränderten Vorzeichen in den Blick nehmen. Von Letzterem stammt der jüngste Beitrag der Anthologie. Nancys Einsatz steht für den mit der Edition der Basler Vorlesungen wichtig gewordenen Rückgriff auf Nietzsche als klassischer Philologen und Kenner der antiken Rhetorik. In seinem Züricher Vortrag von 1980 entdeckt Nancy im Hinweis auf die implizite Moralität der 'Redlichkeit' eine Variante der Kritik am überkommenen Wahrheitsbegriff. Germanisten und Philosophen ist das qualitativ hochwertig und preislich akzeptable Taschenbuch restlos zu empfehlen.

Kein Bild

Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Essays von Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat.
Philo Verlagsgesellschaft, Berlin 2003.
251 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-10: 3825703096

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch