Archäologie des Ich

Wolfgang Hilbig schreitet die Räume der Erinnerung ab

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pointiert ließe sich formulieren, dass Wolfgang Hilbig mit allen seinen Büchern an einem einzigen großen Text schreibt. Seit er 1979 mit dem Lyrikband "abwesenheit" in der Bundesrepublik reüssierte, erkundet dieser Archäologe des modernen Bewusstseins in Gedichten, Erzählungen und Romanen die psychischen Deformationen der Unterprivilegierten und zeigt die Hilflosigkeit randständiger Figuren vor der (sozialistischen) Wirklichkeit. So konstituiert sich aus dem Mosaik seiner Texte eine Gegengeschichte der DDR, eine literarische Geschichtsschreibung von unten. Da Hilbig selbst jahrelang u. a. als Heizer gearbeitet hatte, sich also, wie Reinhard Jirgl einmal bemerkt hat, "in ein Jobmilieu abgeduckt hat", bevor er sich als Schriftsteller etablieren konnte, liegt hierbei eine autobiographische Lesart seiner Bücher nahe - doch darf trotz der auffälligen und konstitutiven Implementierung autobiographischer Versatzstücke in den jeweiligen Erzählmikrokosmos nie die Differenz zwischen Autor und Erzähler übersehen werden, da Hilbigs Texte sich gerade durch die unauflösliche Spannung von autobiographischer und fiktionaler Dimension auszeichnen.

Auch in seinem neuen Erzählband "Der Schlaf der Gerechten" sind die Grenzen zwischen den einzelnen Texten durchlässig, ja es ergibt sich aus deren Zusammenspiel fast so etwas wie ein Roman. Die sieben Erzählungen des Bandes, die bis auf eine Ausnahme in den 90er Jahren entstanden sind, sind in zwei Blöcken gruppiert: Die vier Erzählungen des ersten Teils nehmen hauptsächlich Erinnerungen an die unmittelbare Nachkriegszeit und damit Perspektiven der Kindheit in den Blick, während die Geschichten des zweiten Teils in der Nachwendezeit situiert sind. Innerhalb des Bandes verläuft also eine zeitliche Bewegung der Geschichten von der fernen bis in die unmittelbare Vergangenheit, die sich für den Leser schließlich zur Geschichte eines Ich zusammenfügt. Allerdings darf dieses Zusammenfügen nicht so verstanden werden, dass sich dadurch schließlich ein harmonisches, geschlossenes Selbstbild eines Erzählers konstituieren würde - dieses bleibt für die Protagonisten Hilbigs grundsätzlich unerreichbar, sie bleiben örtlich wie psychisch rastlos, unbehaust.

Das thematische Gravitationszentrum, um das diese finsteren Erzählwelten kreisen, bildet die Erinnerung. Erinnert wird eine Vergangenheit, die nie abgeschlossen und bewältigt werden kann und die damit unvollendet in die Erzählgegenwart reicht. In der "Die Erinnerungen" betitelten Geschichte heißt es dazu: "Oh, diese Erinnerungen führten schon lange ihr eigenes Leben, das ein selbstmörderisches war und das nach und nach in den Wahn überging." Und in "Der Nachmittag" ist programmatisch die Bahnhofsuhr in der Stadt M. schon vor Jahren auf drei Uhr stehen geblieben: "Seitdem war man ausgeschlossen aus der unaufhaltsam und weich fließenden Fortbewegung der Zeit". Das Bild der stehen gebliebenen Uhr verdichtet das Gefühl der Erzähler, in einem Zustand des Dazwischen gefangen zu sein, aus dem sich ihnen kein Ausweg bietet.

In der Auftakterzählung "Ort der Gewitter" gelingt es Hilbig besonders bildkräftig, dieses Gefühl des Dazwischen zu schildern: Ein quälend heißer Nachkriegssommer in einer Stadt wird evoziert, die vom Tagebau lebt und daher wie unter einer Ascheschicht liegt. Dass die Vergangenheit hier immer präsent ist und somit machtvoll für einen Alltag zwischen den Zeiten sorgt, macht gleich der Erzähleingang deutlich: Die Stadt ist nur zu einem Teil bewohnt, der (auch symbolische) Bahnübergang markiert die Grenze zur Vergangenheit: "[H]inter dem Bahnübergang lagen nur noch, rechtsseitig jedenfalls, unübersichtliche Trümmerfelder, aus denen schwarze Gebälke und Ruinen ragten: es waren die Reste ehemaliger Munitionsfabriken, in denen während des Krieges die Gefangenen eines Konzentrationslagers gearbeitet hatten."

In dieser vergangenheitsgesättigten Stimmung bringt der Erzähler seine Zeit mit dem Warten darauf zu, endlich nicht mehr nur nutzloses "Zwischenwesen" zu sein, also endlich erwachsen zu werden und nicht mehr "ein ewiges Neutrum", "das Kind" zu sein. Einen Ausweg aus der bleiernen, sozusagen aschegrauen Atmosphäre bietet ihm schließlich die Literatur. Zunächst flüchtet er in die Lektüre von Abenteuergeschichten, bevor er entdeckt, dass er in die ihm fremde Welt vielleicht "eindringen" könnte, wenn er selbst über sie schriebe. Zu den stärksten Passagen des beeindruckend intensiv geschriebenen Buches gehört das Initationserlebnis des Schreibens, in dem Freischwimmen und Freischreiben zusammengeschlossen werden: "[H]atte man den Kopf erst einmal über Wasser, hatte man mit dem Schwimmen begonnen, dann war es unmöglich, wieder damit aufzuhören, bis man endlich den Sand des anderen Ufers spürte. Auf ähnliche Weise schwamm man mit den Sätzen fort, man wurde getragen von den brühwarmen Sätzen der Schrift, wie über die Oberfläche eines nach Kohle und Moder riechenden Tagebaus..."

Wenn dieses Erlebnis der zweifachen Weltbemächtigung auch kurzzeitig ein großes Glücksgefühl hervorruft, so bemerkt man doch bald, dass auch die Literatur keine dauerhafte Glücksgarantie geben kann. Prägnant zeigt sich dies vor allem in der abschließenden Erzählung "Der dunkle Mann", die deutlich an die Romane "Ich" und "Das Provisorium" erinnert. Wiederum ist der Protagonist ein Schriftsteller, der bindungslos und -unfähig zwischen verschiedenen Städten pendelt. Weder ist er im Westen heimisch geworden, noch bietet ihm das heimatliche, bei Hilbig notorische M. einen Geborgenheit stiftenden Rückzugsort. Und dann sucht ihn die Vergangenheit auch noch heim in Gestalt eines ehemaligen Stasispitzels, der die Unausweichlichkeit der Vorzeit verkörpert.

Ruhe findet der Erzähler nur am Küchentisch seiner Mutter: "Wenn ich die Stadt M. aufsuchte, dann wollte ich nichts, als so schnell wie möglich zurückzukehren unter eine brennende Lampe, die über einem Küchentisch hing, in einer winzigen verqualmten Wohnküche, die mir von Kindheit an bekannt war" - ein für Hilbig fast schon anheimelndes Bild. Hier kann der 'Held' der Erzählung weiterhin versuchen, die Wirklichkeit hinter dem "Nebel von Wörtern" schreibend zu erreichen. So schließt sich der Kreis der Geschichten, von dem schriftstellerischen Urerlebnis bis zu dem von Selbstzweifeln, Schlaflosigkeit und Einsamkeit geplagten erwachsenen Schriftsteller.

Wieder einmal zeichnet Hilbig beklemmende Bilder aus dem verstörten Leben, wieder werden dem Leser eindrucksvolle Psychogramme von Figuren vorgeführt, die am Rand der Gesellschaft leben und denen jede Form von bürgerlicher Sicherheit fehlt. Leicht und erfreulich zu lesen sind diese Erzählungen daher sicherlich nicht, doch gewähren sie ein paradoxes Glück, dass wohl nur Kunst stiften kann: beinahe vollendet vom zwangsläufig Unvollendeten des Lebens zu schreiben.

Titelbild

Wolfgang Hilbig: Der Schlaf der Gerechten.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
190 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3100336240

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