Nichts so heilig als das Recht anderer Menschen

Otfried Höffes Studien zu Immanuel Kants Rechts-, Staats- und Friedensethik

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unbestritten ist, dass die Philosophie der Aufklärung im Werk von Immanuel Kant ihre höchste Entfaltung fand. Dies war schon den Zeitgenossen bewusst. Schelling vermutete daher in seinem Nachruf auf den am 12. Februar 1804 verstorbenen Philosophen aus Königsberg: "das Bild seines Geistes" werde "in seiner ganz abgeschlossenen Einzigkeit durch die ganze Zukunft der philosophischen Welt strahlen", was ihn freilich nicht daran hinderte, Kant in einem entscheidenden Punkt korrigieren zu wollen: nämlich in der Wiedereinführung des Absoluten oder Göttlichen in die Philosophie.

Dieses aber hatte Kant verabschiedet, indem er nachwies, dass die Menschen auf Grund ihrer biologischen Endlichkeit und der daher limitierten Erkenntnismöglichkeiten grundsätzlich nicht in der Lage sind, mit Bestimmtheit über Metaphysisches, also ihre Erfahrungsmöglichkeit und den dadurch bestimmten Erfahrungshorizont überschreitende Dinge urteilen zu können. Spätestens seit Kant wissen wir, dass Gott nicht bewiesen, sondern allenfalls geglaubt werden kann, was schlechterdings nicht erlaubt, aus dessen angenommener Existenz allgemein gültige Regeln abzuleiten. Vielmehr müssen die Menschen sich als Wesen sui iuris ihre eigenen Regeln des gesellschaftlichen Umgangs schaffen.

In Kants Denken spielen daher Fragen der Verrechtlichung menschlicher Verhältnisse eine wichtige Rolle. Trotzdem stehen die rechts- und staatsphilosophischen Schriften nicht oft im Mittelpunkt des Interesses (eine Ausnahme ist etwa die 1993 erschienene Studie von Wolfgang Kersting). Kants Leistungen in der Neukonzeption einer rationalen Metaphysik, in der philosophischen Begründung der Ethik und in der Ästhetik lassen die Ausführungen über juridische Verhältnisse häufig in den Hintergrund treten. Dabei sind sie zumindest mit den ethischen Problemen aufs engste verknüpft: "Kants Rechts-, Staats- und Friedensphilosophie ist eine Rechts-, Staats- und Friedensethik", schreibt Otfried Höffe im Vorwort zu seinem Buch "Königliche Völker" (2001).

Höffes Buch enthält eine Einleitung und elf Studien "zu Kants kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie", wie der Untertitel lautet. Abschnitt I enthält drei Studien zum Moralbegriff bei Kant, der im Wesentlichen im Vergleich zu den philosophischen Antipoden der Antike, besonders Aristoteles, entwickelt wird; Abschnitt II enthält drei Studien zu dem Zusammenhang von Moral und Recht, genauer gesagt von Sittlichkeit, Legalität und Moralität, politischer Gerechtigkeit, Naturrecht und öffentlichem Recht; Abschnitt III enthält fünf Studien mit Überlegungen zu dem Begriff des Friedens, der bei Kant erstmals zu einem aus globaler Perspektive konzipierten philosophischen Grundbegriff wurde.

Eingeleitet wird der Band durch Überlegungen zu "Kants Aktualität und Provokation", in denen Höffe das Anliegen seines systematisch konzentrierten wie interpretatorisch scharfsinnigen Buchs erläutert. Entgegen einem allgemeinen Trend zur Rearistotelisierung mindestens der Ethik und einer allein 'empirischen' Grundlegung des Rechts hält Höffe die Philosophie Kants und speziell sein Rechts- und Staatsdenken für "themen- und substanzreicher, in der Begrifflichkeit differenzierter und in der Begründung sowohl sorgfältiger als auch radikaler als die meisten Alternativen" aus Antike und Moderne. Kants Denken gipfelt in einer globalen Rechts- und Friedensordnung, die heute aktueller denn je sei: "Denn im Zeitalter von Waffen, die die ganze Menschheit bedrohen, ist eine Rechtsphilosophie des Friedens unverzichtbar. Und im Zeitaler der Globalisierung darf sie sich weder auf die Grenzen der Nationalstaaten beschränken, noch ist eine weltweite Friedensordnung ohne ein das Völkerrecht ergänzendes Weltbürgerrecht denkbar".

Was Kants Rechts- und Staatslehre noch heute interessant, ja zukunftsfähiger als die Alternativen von Plato über Hegel bis Habermas und Rawls macht, sind nach Höffe vier systematische Innovationen. Innovativ war Kants Denken insofern, dass er (1) als erster und bis heute einziger der großen Philosophen den Frieden in den Rang eines philosophischen (und nicht mehr theologischen) Grundbegriffs erhob; dass er (2) den Frieden mit der seinerzeit neuen politischen Innovation einer auf Menschenrechte zu gründenden Republik (USA, Frankreich) verband; dass er (3) Frieden und Menschenrecht kosmopolitisch um ein Völker- und Weltbürgerrecht erweiterte; und dass er schließlich (4) die politische Philosophie demokratisierte: nicht die Platonische Idee vom Weisen auf dem Thron verfocht er, sondern die Vorstellung von den Völkern als "Könige" (daher seine Wendung: "königliche Völker"), die "sich nach Gleichheitsgesetzen" selbst regieren.

Kant hat seine Rechts- und Friedensphilosophie nie gesondert von anderen Fragestellungen entwickelt, insofern wird sie leicht in den Hintergrund gedrängt und es ist besonders verdienstvoll, dass Höffe sie einmal speziell betrachtet. Immerhin ist sie nicht nur ein integraler Teil, sondern vielleicht sogar die Basis von Kants Philosophie überhaupt. "Während andere Philosophen der Neuzeit durch Schweigen auffallen, bildet [...] bei Kant der Friede ein Grundmotiv nicht nur des politischen, sondern des gesamten Denkens". Ein anderes Grundmotiv ist die "Freiheit", die Kant einmal als "inneres Principium der Welt" bezeichnete. "Die Bestimmung des Menschen" sei es, so dozierte der Philosoph weiter, "seine größte Vollkommenheit durch seine Freiheit zu erlangen". Dies sei aber nur möglich, indem wir uns verpflichten, "das Recht anderer hochzuhalten und es als heilig hochzuachten. Es ist in der ganzen Welt nichts so heilig als das Recht anderer Menschen. Dieses ist unantastbar und unverletzbar".

Dies gilt besonders auch im internationalen Verkehr. Wie kein anderer forderte Kant Toleranz und Legalität auch im Verhältnis der Staaten untereinander. Seine Wunsch war es, dass auch die Völker allmählich lernten, "ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam durch einen Prozeß, nicht auf barbarische (nach Art der Wilden), nämlich durch Krieg" zu entscheiden, wie er in der "Rechtslehre" schrieb. In seiner Ethik-Vorlesung nahm er an, dass dergleichen Verhältnisse, wo statt "obrigkeitlicher Gewalt" gegen Untertanen oder andere Völker "Recht und Billigkeit" herrschten, "durchaus nach dem Verlauf vieler Jahrhunderte zu hoffen" seien. Auf die Geschichte insgesamt gesehen, müssen wir uns daher vielleicht nicht so sehr grämen, dass wir nach zwei Jahrhunderten immer noch die Barbaren sind, als die Kant auch die Europäer sah; diese empfand er kaum edler als die "Wilden" seiner Zeit, die er weder idealisierte noch verdammte. Die "europäischen Wilden" zeichneten sich im Vergleich mit Kannibalen keineswegs durch höhere Moralität aus, sondern nur durch ein Mehr an selbstsüchtiger Klugheit: während diese ihre Feinde "verspeisen", verstehen jene "ihre Überwundenen besser zu nutzen", indem sie sie zu Untertanen machen, mit deren Hilfe sie "noch ausgebreitetere Kriege" führten.

Vielleicht sollten wir, um in dieser Sache endlich weiter zu kommen, Kants Provokationen ernster nehmen als es gemeiniglich getan wird. Otfried Höffe legt uns jedenfalls die Lektüre Kants dringend ans Herz. Er nennt sechs Gründe für die Aktualität von dessen politischer Philosophie: (1) Kant ist substanzreicher als seine kanonisierten Vorgänger und Nachfolger (Hegel eingeschlossen): Zwangsbefugnis des Rechts und das Prinzip der Menschenrechte in kosmopolitischer Perspektive betrachtet gibt es sonst nicht. (2) Statt Herrschaftsfreiheit das Ideal einer Verrechtlichung sozialer Verhältnisse wird nur bei Kant als zentrale Aufgabe erkannt, die sich im Zeitalter der Globalisierung und des gewachsenen Selbstbewusstseins nicht-westlicher Kulturen stellt: die Rechtfertigung einer Form gesellschaftlicher Selbstorganisation, die für Menschen jedweder Kultur gültig ist. (3) Kant sah, dass eine Vernachlässigung dieser Legitimationsaufgabe weder aus philosophischen noch aus politischen Gründen vertretbar ist. (4) Er fragte, ob es zur Rechtsbegründung nicht einer Pflicht bedarf, die üblicherweise in der Rechtsphilosophie nicht vorkommt: nämlich eine innere Verpflichtung auf "Recht und Billigkeit", und erweiterte die Problematik der Legalität damit in Hinsicht auf Moralität und Anthropologie. (5) Kants Leitbegriff des Rechts hat seinen Platz in der reinen Vernunft und hat daher metaphysischen Charakter; Höffe schlägt vor, den metaphysischen Charakter des damit verbundenen Naturrechts gegen "das Dogma der zeitgenössischen Philosophie", das Recht nur historisch und positiv zu begründen, anzuerkennen. (6) Der internationalen Perspektive und damit dem Völker- und Weltbürgerrecht ist gegenüber nationalstaatlicher oder individueller Engführung der Vorrang gegeben und sie ist entschieden politisch gedacht.

Höffe entfaltet in seinem Buch die Komplexe ausführlich. Er geht von einem Einverständnis mit Kant aus und polemisiert dabei gegen die aus den angelsächsischen Ländern stammende Mode, die Texte gleichsam auf die Anklagebank zu setzen und vor allem auf Widersprüche abzuklopfen. Er will den Texten zunächst einen rational vertretbaren Sinn abgewinnen, um sich erst danach auf Kritik im Detail einzulassen (die angebliche Friedfertigkeit von Republiken, die Unschlüssigkeit bei der Alternative 'Völkerbund oder Weltrepublik', das mangelnde Widerstandsrecht, das fehlende Menschenrecht auf Leib und Leben und andere Details kritisiert Höffe durchaus). "Dabei handelt es sich um eine 'Feindebatte mit Kant', während seine kosmopolitische Grundrichtung überzeugt."

Höffes These ist, dass sich gegenwärtig aktuelle Sachdebatten sinnvollerweise durch Kant inspirieren lassen sollten. Er konzentriert sich auf die Punkte, wo dies besonders fruchtbar wäre, hat also keine systematische Gesamtdarstellung im Sinn. Auch eine Einführung ist das Buch nicht, tatsächlich eher ein Dialog mit Kant, vor allem aber auch eine Auseinandersetzung mit dessen Exegeten und eine Verteidigung des Philosophen gegen Kritiker in Geschichte und Gegenwart. Ihnen wird häufig selektive Lektüre und einseitige Interpretation vorgeworfen. Umgekehrt könnte man natürlich fragen, ob Höffe an einigen Stellen Kant nicht als Stichwortgeber für eigene Ideen missbraucht, etwa an dieser Stelle: "Auch wenn eine Demokratisierung aller Staaten durchaus hilfreich, sie überdies aus rechtsmoralischen Gründen geboten ist, kann man ohne global gültige Regelwerke, ohne ebenso globale Organisationen und ohne deren Recht auf öffentliche Gewalt mit einem Weltfrieden kaum rechnen". Immerhin muss man aber einräumen, dass Höffe an solchen Stellen nicht so tut, als interpretiere er Kant; vielmehr ließ er sich, wie explizit gewünscht, von Kant inspirieren. In diesem Fall wurde Kant ihm zum Begründungsgehilfen für eine starke UNO. Allerdings vermisst man eine Reflexion Höffes darauf, dass in der gegenwärtigen Weltlage die UNO keineswegs eine Vereinigung gleichberechtigter Verlagspartner ist, so dass Kants Idee einer Verrechtlichung globaler Verhältnisse eher utopisch zu nennen wäre; die Frage nach der historisch konkreten Machtverteilung und den dadurch zugelassenen Chancen, die in Kants systematischer Überlegung vielleicht entbehrlich war, sollte der aktualisierende Interpret zweihundert Jahre später wohl doch stellen.

Bemerkenswert ist Höffes Hang, inhaltlich Polaritäten zu meiden oder abzubauen. Im ersten Teil werden die gewöhnlich als Antipoden gesehenen Philosophen Kant und Aristoteles erstaunlich weit angenähert; im dritten Teil besonders wird betont, dass Kants rechtsstaatliches Denken keineswegs in ein kritisches und vorkritisches Stadium unterteilt werden kann. Sein republikanisches Philosophieverständnis reiche weit in die sogenannte vorkritische Zeit zurück, die rechts- und staatsphilosophischen Katgeorien hätte er dann mit einem "langen Atem" allmählich entfaltet, seinen Gipfel erreicht die Theorie im Spätwerk. Der Ansatz, das Oeuvre Kants "in seiner ganz abgeschlossenen Einzigkeit" (um Schellings Formulierung vom Anfang zu zitieren) wahrzunehmen und weder vorkritisches gegen kritisches oder das metaphysische Hauptwerk gegen das angeblich vom Verfall gezeichnete Spätwerk auszuspielen, ist eine der herausragenden Qualitäten des Buchs.

Eine andere Qualität ist "die Leichtigkeit und Annehmlichkeit des Vortrags", die (wie Fichte über Kants "Friedens"-Traktat schrieb) niemanden dazu verleiten solle, der Schrift "nicht die Wichtigkeit beizumessen, die sie unseres Erachtens hat" - das gilt nun freilich auch für Höffes Studien und wurde 2002 mit dem Karl-Vossler-Preis für die Fähigkeit, komplexe wissenschaftliche Gedankengänge sprachlich ansprechend und allgemein verständlich darzustellen, auch anerkannt.

Titelbild

Otfried Höffe: Königliche Völker. Zu Kents kosmopolitischer Rechts- und Friedenstheorie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
281 Seiten, 11,50 EUR.
ISBN-10: 351829119X

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