Inszenierung einer Gesellschaft

Benjamin von Stuckrad-Barre liefert in "Deutsches Theater" eine Bestandsaufnahme unseres Alltags

Von Nicole NitscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Nitsche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ein investigativ arbeitender Journalist muss sich im Dienste der Aufklärung in Gefahr begeben, muss ständig in Grenzbereichen wildern, lehrt uns das Privatfernsehen in seinen Reportermagazinen, in denen Laiendarsteller aufgeregt herumrecherchieren."

Nach fünf qualitativ höchst unterschiedlichen Büchern erscheint nun Benjamin von Stuckrad-Barres letztes Buch "Deutsches Theater" als Taschenbuch in den Buchläden, und der Autor wirkt ernster als je zuvor.

In sarkastischer und unterhaltsamer Weise versucht er, eine Momentaufnahme der Deutschen Gesellschaft zu zeichnen, und beim Leser weicht niemals die schon fast zärtliche Aufmerksamkeit, Ernsthaftigkeit und Frische, die diesem außergewöhnlichen Stück Literatur gebührt.

Angefangen beim Einkaufsbummel mit Claus Peymann, über die Hofberichterstattung des Theaterkritikers bis hin zur Bekanntgabe der aktuellen Arbeitslosenstatistik wird all das, was die deutsche kulturelle Mittelschicht mehr oder weniger beschäftigt, auf einzigartige und faszinierende Art beschrieben, und dabei zieht Barre immer wieder seine ganz persönliche Bilanz und rechnet ab: mit "Bild"-Kodderschnauze Franz Joseph Wagner, mit Adelsherzchen Christiane zu Salm und natürlich mit Kitschmillionär Michael Leicher.

Der Autor ist gereift wie es scheint, denn in diesem Buch ist nicht mehr die Rede von verlorenen Studentenliebschaften und einsamen, gebrochenen Herzen.

"Deutsches Theater" ist vielmehr eine Inszenierung unseres Alltags. Das Buch bietet weniger einen Blick hinter die Kulissen als einen darauf. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die wichtige Frage- wer spielt was für wen? Jeder von uns spielt eine Rolle. Auch und gerade Prominente inszenieren sich. Stuckrad- Barre deckt sie auf, die Inszenierung des öffentlichen Lebens. Er macht ihr Rollenspiel für alle deutlich sichtbar. Es wird hier niemand vorgeführt, sondern vielmehr wird das Aufgeführte nachgezeichnet. Er liefert punktgenaue Szenen der allumfassenden Inszenierung.

Radikal werden die Sachverhalte für den Leser dingfest gemacht. Dabei hat der Leser oft mit dem klaren, sehr optimistischen Ton des Autors zu kämpfen. Besonders, wenn Barre sich von einem polemischen hin zum analytischen, ja fast schon didaktischen Modus bewegt. Und diesen Stil nutzt er keineswegs zur Affirmation (auch nicht seiner selbst), sondern benennt und entlarvt konkrete Sachverhalte. Er widmet sich in seinem Buch den Feinzeichen der Republik und reist auf Spesen anderer durchs Land, um das "Deutsche Theater" zu dekonstruieren.

Erfrischend wirkt dabei nicht nur sein Erzählstil, sondern auch die 'Privatgalerie' seiner zahlreichen Fotos, die der Autor akribisch über Jahre selbst zusammengetragen hat und die seine Arbeit auf kongeniale Weise ergänzen. Es handelt sich also fast um einen "Fotoroman", in dem sich alte Zeitungskommentare und neue Texte mit passenden Fotoseiten abwechseln. Dadurch wird die Qualität der feuilletonistischen Arbeiten und Essays jedoch in keiner Weise gemindert, denn die Stärke seines Wortwitzes bleibt gleich.

Barre hat einen wunderbaren Blick fürs Detail, und man liest in seinem Buch sicherlich auch einen sozialkritischen Stuckrad-Barre mit Polarisierungspotenzial. Deutsches Theater wirkt im Ganzen ziemlich rund und als Leser muss man zugestehen, dass dieses Bild Deutschlands nicht passender hätte ausfallen können. Es ist eine Bestandsaufnahme durch teilnehmende Beobachtung.

Ein Befund, ein Zeugnis, ein Programm, auch eine Liebeserklärung - und eine Kartographie des alltäglichen Terrors. Doch wo verläuft die Grenze zwischen Realität und Theater?

Titelbild

Benjamin von Stuckrad-Barre: Deutsches Theater.
Goldmann Verlag, München 2003.
285 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3442541913

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