Rebellion ist am Leben zu bleiben

Imre Kertészs meisterhafter Roman "Liquidation"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Hand hält einen Spiegel, als sei es ein Skizzenblock. Die zweite Hand ruht auf dem Spiegel, einen Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger. Im Spiegel ein ausdrucksloses Gesicht, dunkel, verschwommen. Die Augen sind nicht zu sehen. Der Mund, die kaum wahrnehmbaren Wangen - alles gleicht den entspannten Gesichtszügen eines Toten. In schwarz-weiß. Darüber in dünnen Lettern der Schriftzug "Liquidation". Der Einband des neuen Romans von Imre Kertész gibt mit seinem Schatten- und Spiegelspiel Rätsel auf. Ein Spiel, das sich in der durchdachten Partitur des Inhalts fortsetzt.

Der Verlagslektor Keserü blättert im Manuskript des Theaterstücks "Liquidation" aus dem Nachlass des Autors B., der ein enger Freund Keserüs gewesen ist. Als Keserü an jenem Morgen vor neun Jahren in die Wohnung B.s kam und den toten Körper seines Freundes neben einer Injektionsnadel und Morphiumampullen vorfand, hatte er noch so viel Geistesgegenwart besessen, vor dem Eintreffen der Polizei einen Großteil der Manuskripte aus der Wohnung zu holen, darunter das Theaterstück "Liquidation". Und als Keserü begann, das Stück zu lesen, da fand auch die Person Keserü im Stück das Theaterstück und las von seinem Schicksal. Die Geschehnisse nach dem Selbstmord B.s werden minutiös vorhergesagt: Verwirrung, private Zerwürfnisse, Vernichtung. Das Theaterstück wurde zum Spiegel Keserüs Lebens, es bestimmt sein Leben. Entsprechend packt ihn seit Jahren immer wieder eine sonderbare Besessenheit, eine Lesewut, die gleichzeitig die Wut über ein fehlendes Ende ist. Ein wichtiger Teil des Nachlasses muss fehlen, der allumfassende Roman (eine auffällige Parallele zu Kertészs "Roman eines Schicksalslosen", an dem er von 1960 bis 1973 arbeitete), auf dem das Theaterstück fußt. Die "Liquidation" betitelte Komödie sei von B. ebenso wie der Roman kurz vor dem Selbstmord beendet worden, vermutet Keserü. Nun, nach neun Jahren, ist die Handlung des Stückes beendet, aber ihn, Keserü, gibt es noch.

Während der manischen Suche des Lektors nach dem verlorenen Roman erfährt der Leser immer mehr über den verstorbenen Autor. Dessen Mutter ist schwanger nach Auschwitz deportiert worden. Durch Hilfe der Blockältesten, einer Gefangenen aus Polen, konnte sie ihr Kind in der Krankenhausbaracke des Todeslagers zur Welt bringen. Wie durch ein Wunder überlebte B. den Holocaust. Kertész schreibt, gerade das sei das Problem: "Es ist passiert und trotzdem nicht wahr. Ausnahme. Anekdote. Ein Sandkorn im Getriebe der Leichenhackmaschine."

Rebellion sei, am Leben zu bleiben, steht in B.s Nachlass - er überlebte und überwand die Vernichtung doch nicht. Nicht zufällig lässt Kertész den Überlebenden B. 1990 am Ende des totalitären Regimes ungarischer Prägung Selbstmord begehen. Denn das totalitäre Regime ist für ihn der Inbegriff der Degradierung des Menschen im modernen Dasein. Das Individuum wird folgerichtig mit dem System liquidiert. Somit stellt sich Kertész mit seinen Werken gegen das System der Diktatur im Ganzen und zu jeder Zeit. "Am besten lebt man dort unbeachtet", so Kertész in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 9. Oktober 2003. Keserü bleibt im Roman nicht unbeachtet und bietet dem Staat seine Brust. Er lehnt das Manuskript eines Schriftstellers aus der Nomenklatur ab, wird verhaftet und verliert seine Frau, die eine demütigende Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste. Sie wollte keinen Umstürzler als Mann.

Kertész selbst hat vierzig Jahre in einer Diktatur gelebt, war kein Schriftsteller der Nomenklatur und nicht unglücklich darüber: "Ich habe mich ferngehalten von der Öffentlichkeit im kommunistischen Ungarn und habe die Folgen ertragen." Nachdem Kertész 2002 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, sagte er dazu, dass er den Preis mit seiner Holocaust- und Anti-Diktatur-Literatur bekommen habe: "Das bedeutet vielleicht auch etwas Erzieherisches für die osteuropäischen Staaten überhaupt."

Zum Tag der deutschen Einheit hielt Imre Kertész in diesem Jahr eine viel beachtete Rede in Magdeburg, in der er die Erinnerung an die Teilung und die Wünsche zu einer europäischen Einigung mit einem starken Bekenntnis zur deutschen Demokratie verband. Diese sei stark und reif genug, alle Herausforderungen zu bestehen. Die Rede veranlasste viele Tagespolitiker zu Beifall, die in ihr Kritik an Regierungen und Mächtigen sahen; eine Reaktion, die Kertész nicht beabsichtigt hatte. Er sah seine Rede als persönliches Bekenntnis und weniger als Beitrag zu aktueller Politik, so betonte Kertész in dem bereits erwähnten Interview der "F. A. Z." Er habe im kommunistischen Ungarn eine tiefe Abneigung gegen die sogenannte "engagierte Literatur" entwickelt: "Mich hat die "engagierte Literatur", die ich damals las, von Jean-Paul Sartre und anderen, empört: Es ist eine falsche Literatur. Da verändert man sich selbst, da verändert man den Stil im Interesse einer politischen Linie, das ist weder Literatur noch Politik, das ist nichts."

Deswegen schrieb B. in "Liquidation" für sich, nicht für ein Publikum. Das Schreiben war seine Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten. Das wahre Ausdrucksmittel des Menschen aber sei, so erfährt der Leser, das Leben. Die Schmach des Lebens über sich ergehen zu lassen und dabei zu schweigen, das sei die größte Leistung. Franziska Augstein schrieb in der Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung vom 6. Oktober 2003 sehr treffend, "Liquidation" handele nicht so sehr vom Leben, sondern davon, wie man am Leben bleibt. Kertész wirft einen letzten Blick auf den Holocaust. Er ist noch nicht verarbeitet, er scheint nicht verarbeitet werden zu können. Die Handlung des Romans spielt in der Zeit der Wende, der verstörten, plötzlichen Freiheit, die mit Erleichterung von B.s Geliebter empfangen wurde; einer Zeit, in der die Vergangenheit liquidiert und Biographien geändert werden. Nichts scheint mehr gültig, die Zukunft fraglich. Von diesem Bruch, den man im Ostblock als tiefes Trauma erlebte, wird erzählt, und wie man sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen muss. Der Blick auf den Holocaust ist nicht mehr nur der Blick auf die Überlebenden, die - so im Buch festgehalten - täglich um ihren gesunden Menschenverstand ringen müssen, sondern auf die zweite Generation, auf die Nachgeborenen, die scheinbar ratlos mit der Vergangenheit umgehen, dem Prozess der Verarbeitung entfliehen oder ihn auf sich nehmen. Die Nobelpreis-Jury betonte 2002, Kertészs literarisches Werk erforsche die Möglichkeit, noch als Einzelner in einem Zeitalter zu leben und zu denken, in dem die Menschen sich immer vollständiger staatlicher Macht untergeordnet hätten. Auschwitz ist für ihn keine Ausnahmeerscheinung, die sich gleich einem fremden Körper außerhalb der normalen Geschichte des Abendlandes befinden sollte. Es ist die letzte Wahrheit über die Degradierung des Menschen im modernen Dasein.

Keserü beobachtet Obdachlose, ihre Rituale. Die Pausenbeschäftigung Keserüs, dessen Büro die Beobachtung der Straßenbewohner zulässt, stellt Kertész an den Anfang und an das Ende seines Romans. Keserü glaubt, dass hinter seiner voyeuristischen Leidenschaft ein Sinn steckt. Ein Sinn, der ihn sein Leben besser begreifen lassen würde. Am Ende erkennt er, dass die rauen Gesichter nie melancholisch wirken, dass es nichts gibt, das diese Menschen dazu bringen könnte, melancholisch zu sein. Sie haben keine Erinnerungen mehr - sie haben sie entweder verloren oder annulliert. Deshalb besitzen sie keine Vergangenheit, allerdings auch keine Zukunft. Keserü erkennt, dass die Obdachlosen in einem Zustand dauernder Gegenwart leben, Menschen ohne Geschichte. Diese Erkenntnis weckt in Keserü Mitgefühl - und Angst, dass er bald zu diesen Menschen gehören könnte, weil ihn während seiner Arbeit nur noch bleierne Lustlosigkeit erfasst. Ausgerechnet eine Fehlermeldung des Computers steht am Ende des Romans: "Gehe weiter - Abbrechen".

Dieses finale Emblem des Cursors bündelt die drohende Orientierungslosigkeit in einem Dschungel der Lebensmaximen zwischen Verarbeitung und Vernichtung. Der Titel des Buches "Liquidation" muss demnach wörtlich genommen werden: Es geht um die selbstgewählte Liquidation eines Menschenlebens, einer Identität, eines Staates, damit zusammenhängend eines staatseigenen Verlages, eines Textes im Kaminfeuer, einer Liebe und als Folie dieser verschiedenen Auflösungen um das Verschwinden der Wirklichkeit. Dem Leser wird eine Aufforderung zur Entscheidung zwischen "Weitergehen" oder Suizid entgegengeschleudert.

Kertészs "Liquidation" ist durch diese Radikalität ein meisterhaftes Bekenntnis zum Leben, eine Aufforderung zum Leben. Geschickt spielt er mit den Ebenen des Plots, lässt Roman- und Dramenhandlung ineinander fließen. Das sprachlich geniale neue Werk des Literaturnobelpreisträgers zwingt nach dem Lesen zur tagelangen Reflexion und verlangt nach Konsequenzen im eigenen Leben. Nicht nur Kertész-Kenner werden dieses Werk verschlingen. Ein Muss für jeden, der Freude am Lesen hat!

Titelbild

Imre Kertész: Liquidation. Roman.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Christina Viragh.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
141 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3518414933

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