Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus

Ein wichtiger Sammelband zur Geschichte der Germanistik

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Schlagwort von der Germanistik als einer "deutschen Wissenschaft" ist seit dem einprägsamen Buchtitel von 1967 Gemeingut geworden, und dies, schaut man sich den überwiegenden Teil der Fachgeschichte vom Beginn der Institutionalisierung in der antinapoleonischen Reaktion nach 1806 bis mindestens zur deutschen Niederlage von 1945 an, gar nicht zu Unrecht. Das Problemfeld ist deshalb mit moralischen Vorwürfen an einzelne Personen nicht abzumessen. Bereits die Forschungen jüngerer Wissenschaftler in den sechziger und frühen siebziger Jahren, die erste wissenschaftsinterne Diskussionen erzwangen, zielten denn auch auf strukturelle historische Erkenntnis. Sie konnten freilich Skandalisierung individuellen Fehlverhaltens schon darum nicht umgehen, weil die Verantwortlichen der NS-Germanistik zum Teil immer noch Ordinariate besetzt hielten.

Hier kann man bereits innehalten und fragen, was eigentlich der Terminus NS-Germanistik bezeichnet. Die Germanistik überhaupt zwischen 1933 und 1945, also ein institutionelles Gefüge? Jene Germanisten, die ihre Arbeit in diesem Zeitraum national ideologisierten? Oder nur jene, deren Bemühungen von den Machthabern anerkannt wurden? Worauf sich angesichts des Gegeneinanders verschiedener NS-Machtzentren in der Wissenschafts- und Kulturpolitik die Zusatzfrage ergibt, wessen Anerkennung da eigentlich zählen soll.

Die Frage, was nationalsozialistische Wissenschaft sei, ist nicht erst eine heutige. Holger Dainat und Lutz Danneberg, die Herausgeber vorliegenden Sammelbandes zu "Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus", stellen denn auch Beiträge an den Beginn des Buchs, die übergreifende Probleme behandeln. Michael Grüttner konstatiert in seinem Aufsatz zu nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik und Geisteswissenschaften die Unzufriedenheit wichtiger Wissenschaftspolitiker des Regimes über das Erreichte. Das bedeutet freilich nicht, dass sich nicht viele Wissenschaftler mehr oder minder freiwillig angepasst hätten, dass in manchen Bereichen wie der Kriegspropaganda Unterstützung in großem Ausmaß geliefert wurde - während sie in Hinblick auf die Rassenpolitik vereinzelter vorkam. Zum Teil wirkt die Klage, eine nationalsozialistische Wissenschaft sei noch nicht vorhanden, wie das Gerede von reich Beschenkten, die nicht begreifen, dass die kontinuitätsbezogenere Ideologieproduktion etablierter Wissenschaftler in Vorkrieg und Krieg mindestens so wirksam mobilisierte, wie es eine enger definierte NS-Wissenschaft hätte tun können.

Präzise zeigt Grüttner die verschiedenen Grade politischer Anpassung oder Übereinstimmung. Warum es zu keiner kompletten Durchherrschung der Wissenschaften kommen konnte, wäre sie nun nützlich oder kontraproduktiv gewesen, veranschaulichen Lutz Danneberg und Wilhelm Schernus: Weder Wissenschaftspolitikern noch jenen Forschern, die eine ideologische Führungsrolle anstrebten, gelang es, einen brauchbaren Begriff von nationalsozialistischer Wissenschaft zu entwickeln. Immerhin aber vermochte man sich auf das zu einigen, was es auszugrenzen galt; auch ein völkischer Relativismus, der, wie Danneberg und Schernus überzeugend ausführen, einen "absolutistischen Geltungsanspruch" in sich birgt, war eine Konstante der Wissenschaftsverständnisse - hier ist der hässliche Plural erforderlich - im "Dritten Reich".

Eingangs war von der Notwendigkeit struktureller Erkenntnisse statt moralischer Verurteilung die Rede. Mitte der sechziger Jahre interessierte zum Beispiel, dass Gerhard Fricke, Ordinarius in Köln, mit seiner wissenschaftlichen Arbeit den deutschen Faschismus unterstützt hatte. Die Angriffe bewegten oder zwangen ihn, als immerhin einer von wenigen sich einer öffentlichen Diskussion zu stellen. Heute sind die Protagonisten fast alle tot, und die Aufregung über einen Parteieintritt von fast noch Jugendlichen um 1944, wie sie der "Spiegel" angesichts des von Christoph König herausgegebenen Germanistenlexikons inszenierte, wirkt angesichts des fachgeschichtlichen Forschungsstands eher peinlich, lenkt zudem von der historischen Problematik ab. Die Funktionen des Fachs indessen, um die es gehen muss, sind dann doch nur durch den Blick auf die Geschichte einzelner Personen und Institutionen zu erhellen. Der Großteil des Bandes ist mit Beiträgen gefüllt, die dieses leisten. Erkenntnisse zur Neugermanistik in Münster und Berlin (Wolfgang Höppner, Andreas Pilger), zum Goethe-Jahrbuch (Burkhard Stenzel), zu Theoriedebatten und -entwicklungen (Petra Boden, Rainer Rosenberg), zur Umwertung einzelner Epochen wie der Romantik (Ralf Klausnitzer), zur Rezeption eines NS-nahen Autors wie Hans Friedrich Blunck (Bettina Hey'l) und eine exemplarische Studie zu Auswirkungen auf den schulischen Deutschunterricht (Bettina Goldberg) liefern dafür wertvolles Material. Die Studie des Mitherausgebers Holger Dainat zur Berufungspolitik im Bereich Neuere deutsche Literatur erhellt nicht nur institutionelle Vorgänge; der Forschungsgegenstand erlaubt auch Einblicke in das Ineinander- und Gegeneinanderwirken verschiedener Institutionen und eine Phaseneinteilung der NS-Politik zur Germanistik.

Der Schlussteil des Bandes ist Beiträgen gewidmet, die über die Orts- und Zeitgrenzen des deutschen Faschismus hinausweisen. Klaus Weimar bleibt mit seinem Aufsatz über die Schweizer Germanisten Emil Ermatinger und Emil Staiger noch im deutschsprachigen Raum und unternimmt eine - auch methodische - Ehrenrettung des vielfach zum werkimmanenten Watschenmann reduzierten Staiger. Gilbert Merlio und Elisabeth Décultot demonstrieren in ihren Beiträgen zur französischen Germanistik die Problematik einer Auslandsgermanistik, die sich zwischen kultureller Vermittlung und nach 1933 politischer Warnung bewegt; deutlich wird auch, dass sich im fraglichen Zeitraum die französische Germanistik keineswegs nach einem Rechts-links-Schema unterteilen lässt, dass politisch bewusste Sozialisten ebenso wie an Maurras orientierte Nationalisten vor Deutschland warnen konnten, während ein durch den Ersten Weltkrieg legitimierter Pazifismus zum Fehlurteil führte, eine Verständigung mit dem Deutschen Reich sei möglich.

Zeitlich über den Gegenstand im engeren Sinne weisen zwei Aufsätze hinaus. Gunter Schandera vermeidet in seinen Überlegungen zum Diktaturenvergleich zwischen der Germanistik im "Dritten Reich" und in der DDR totalitarismustheoretische Banalisierungen. Ohne mit der DDR zu sympathisieren, weist er derart deutliche Unterschiede auf, dass zu fragen ist, ob ein derartiger Vergleich überhaupt weiterführt. Schließlich konnten sich die Nazis auf vielen Politikfeldern auf eine weitgehende Übereinstimmung mit der nationalkonservativen Professorenschaft verlassen. Die Exilanten hingegen, die zurückkamen, um in Deutschland einen Sozialismus aufzubauen, mussten mit einer feindseligen universitären Bildungselite rechnen. Hier könnte man überlegen, wie dennoch das belastete Personal zum Teil integriert wurde, was im westlichen Teil Deutschlands nach dem Abbruch der Entnazifizierung weitaus zwangloser möglich war. Leider wählt sich Johannes Volmert, der diesen Aspekt behandelt, mit dem Vergleich zweier Universitätsreden von Jost Trier von 1938 und 1947 keinen günstigen Gegenstand. Der Nationalkonservative Trier, so konzediert auch Volmert, hielt vor 1945 erkennbar Distanz zum Regime, selbst wenn einzelne Formulierungen heute zweideutig wirken. Die Rede von 1947 schließlich legt es den Studierenden nahe, die akademische Freiheit produktiv auszunutzen und wirkt deshalb gegenwärtig als Einspruch gegen bürokratische Bildungsmodernisierer, wie ihn im aktuellen Herrschaftssystem kaum noch ein Germanistikprofessor wagen würde; vor allem aber liegt der Text zeitlich vor der bundesrepublikanischen Restaurationsphase und erlaubt es schon deshalb nur sehr eingeschränkt, Kontinuitäten zu untersuchen.

Der Band, durch eine ausführliche Bibliographie und eine Liste von zwischen 1915 und 1950 erschienenen literaturwissenschaftlichen Selbstthematisierungen ergänzt, bietet durchweg erkenntnisreiche Beiträge und wird für die weitere Forschung unverzichtbar sein. Er erlaubt auch Rückschlüsse, welche Fragestellungen neben weiter willkommenen Studien zu einzelnen Personen und Institutionen produktiv sein werden. Weniger als der Diktaturenvergleich auf institutioneller Ebene dürfte interessieren, welche Forschungsansätze auf welche Weise in Ost und West über das Jahr 1945 hinaus verteidigt wurden. Auch was die konflikthafte Position nicht nur der französischen und schweizerischen Auslandsgermanistik angeht, ist zu wenig bekannt. Das gilt zudem für die noch unzureichend erforschten Auslandseinsätze deutscher Germanisten, die per se politische Missionen darstellten.

Titelbild

Holger Dainat / Lutz Danneberg (Hg.): Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2003.
452 Seiten, 76,00 EUR.
ISBN-10: 3484350997

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