Kein Baum der Erkenntnis in der Wüste

Aus Toni Morrisons "Paradies" vertreiben sich die Menschen selbst

Von Monika PapenfußRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Papenfuß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte beginnt wie ein Krimi. Der erste Satz erzählt von einem Mord, am Ende des Kapitels weiß man schon, daß es sich um ein Massaker an mehreren Frauen handelt. So atemberaubend und verwirrend die Ereignisse sind, in die der Leser hineingestoßen wird, so rasant ist auch das Erzähltempo. Dennoch bedarf es knapp 500 Seiten, um die Hintergründe des Verbrechens darzulegen: Eine Fülle von Personen wird eingeführt, und nach und nach fügen sich die unterschiedlichen Lebensgeschichten zu einem zusammenhängenden Bild.

Im zweiten Kapitel wird die Gegenwartsebene verlassen. Zwei in sich abgeschlossene Erzählräume tun sich auf, schnell wird jedoch deutlich, daß diese auf geheimnisvolle Weise miteinander verwoben, ja aufeinander bezogen sind wie Magneten, die einander anziehen und abstoßen.

Ein ehemaliges Kloster in der Wüste von Oklahoma wird zur Heimat von Frauen, die aus einem Leben voller Angst, Demütigung und Gewalt geflohen sind. Fünf Frauen haben an diesem Ort fernab gängiger zivilisatorischer Regelsysteme ihren festen Fluchtpunkt, ihr Paradies gefunden, in das durch einen nicht näher erläuterten Zufall immer wieder Frauen finden, die dort Rast und Hilfe suchen, Stärkung für die Rückkehr in ihr Leben.

In der Nähe des Klosters liegt Ruby, ein Ort, der auf den ersten Blick als Inbegriff der Perfektion erscheint, als ein Paradies, wenn auch gänzlich anders geartet als das Paradies vor seinen Toren. Ruby ist die Heimat von Nachfahren aus der Sklaverei entlassener Schwarzer, ein blühender, wohlhabender Ort, der allerdings im Gegensatz zu der Klostergemeinschaft nach strengen Hierarchien und Regeln funktioniert. Auffällig ist die Schönheit, aber vor allem die tiefe Schwärze seiner Bewohner. Und hier liegt das wichtigste, wenn auch nicht offen ausgesprochene Gesetz dieser sich von allen anderen - schwarzen wie weißen - Siedlungen stolz abgrenzenden Gemeinschaft: das Gesetz der Rasse. Wilde Gerüchte ranken sich um das Kloster, es wird schließlich als sittliche Gefahr für die eigene Gemeinschaft stilisiert, Mißtrauen verwandelt sich in Haß und führt in die Katastrophe. Daß die Entwicklung eines Feindbildes vor den eigenen Toren als Ventil fungiert und im Grunde allein dazu dient, die Morbidität des eigenen Systems zu vertuschen, ergibt sich aus den vielen Lebensgeschichten, die erzählt werden. Die Lüge, mit der einer der nach außen untadligen Gründungsväter lebt, ist nur ein Hinweis darauf.

Neben der Problematik der Identitätsfindung der Schwarzen in Amerika durchzieht ein zweiter Themenkomplex Morrisons Prosa und ist auch Gegenstand dieses Romans: die Unterdrückung der Frauen, schwarzer wie weißer, ihr hilf- und schutzloses Mittreiben im Strudel der männlichen Aktivität, das gewaltsame Scheitern eigenständiger, abweichender Lebensmodelle. Wie wichtig der Autorin dieses Thema ist, zeigt sich allein daran, daß die Kapitel mit Frauennamen überschrieben sind. Schon die Überschrift des ersten Kapitels liest sich wie die Verklammerung der beiden großen Themen: Ruby bekam seinen Namen nach der ersten hier Verstorbenen. Es steht für das Urtrauma dieser schwarzen Gemeinde ebenso wie für das Leid von Frauen.

Toni Morrison hat mit ihrem Roman ein heißes sozialpolitisches Eisen angefaßt. Sie erzählt von schwarzem Rassismus, der in seiner Ignoranz und Grausamkeit dem weißen nicht nachsteht. Seine schrecklichen Auswirkungen beschreibt sie unumwunden: Mißachtung von Menschenwürde und Menschenleben und Zerstörung intakter Gemeinschaften. In die Gegenwartsebene arbeitet Morrison die leidvolle Geschichte der Vorfahren der Menschen von Ruby ein, eine kleine Gruppe ehemaliger Sklaven auf einer langen Suche nach Heimat. Der Verfall ihres Paradieses, der sich am Ende des Romans andeutet, erscheint wie eine Strafe für menschliches Versagen.

Toni Morrison, die Nobelpreisträgerin von 1993, beendet mit "Paradies" nach "Menschenkind" und "Jazz" ihre Trilogie über die Geschichte der Schwarzen in Amerika.

Ihre Erzählkunst ist unbestritten und beeindruckend, faszinierend auch, wie die Fülle der zunächst zum Teil verwirrenden Erzählstränge alle aufeinander bezogen sind und sich nach und nach zu einem Mosaik zusammenfügen.

Titelbild

Toni Morrison: Paradies. Übersetzt von Piltz, Thomas.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
480 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3498043919

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