"Warum sind Sie kreativ?"

Hermann Vaske stellt die Gretchenfrage

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kreativität ist auf den Hund gekommen. Besaß die menschliche Schöpferkraft einst einen exklusiven Charakter, und wurde sie entweder als göttliche Gabe oder als Eingebung einer Muse interpretiert, so ist sie heute zur pausenlos sprudelnden Inspirationsquelle geworden. Jeder, dem es danach gelüstet, darf sie anzapfen.

"Sei kreativ!", dieser Imperativ dröhnt derzeit aus allen Lautsprechern. Wir sollen Geschenke kreativ verpacken, Hochzeiten kreativ feiern und Kinderzimmer kreativ gestalten. Wir sollen kreativ kochen, malen, werken, schreiben, träumen, denken und leben. In den Agenturen tummeln sich Heerscharen von "Creative Directoren", Leuten also, die ihren Einfallsreichtum methodisch ausbeuten und ihre Ideen gegen klingende Münze zu Markte tragen. Kreativität soll unser Leben sogar einschneidend verändern können, nachzulesen in Andreas Mäcklers Krimi "Tödlich kreativ". Dort wird der Knopffabrikant Kurt Delsing mit einem Gegenstand in das Reich der hieb- und stichfesten Schatten befördert, der einer todbringenden Wirkung eigentlich völlig unverdächtig ist: einer Designerleuchte.

Höchste Zeit also, die Schleusen vor der anbrandenden Kreativitätswelle zu schließen und die schöpferische Produktivkraft wieder dort aufzusuchen, wo sie entsteht. In diesem Fall ist damit nicht etwa die Alchemistenküche der Kreativitätsforschung gemeint, sondern der unverfälschte Primärkontakt mit der kreativen Persönlichkeit selbst.

In "Why are you creative?" hat Hermann Vaske, selbst kreativer Künstler, Regisseur, Art Director, ADC-Mitglied und Gründer von "Hermann Vaskes Emotional Network", 72 Kreative aus unterschiedlichen Disziplinen wie Werbung, Film, Fotografie, Grafikdesign, Literatur, Musik, Politik, Sport gebeten, die Wurzeln ihrer Kreativität in wenigen Sätzen oder mit einem Bild zu beschreiben. Die Antworten werden durch Kurzbiografien ergänzt und von Psychologen analysiert bzw. "dekonstruiert".

Die Frage nach dem "Warum?" kreativen Tuns ist die allereinfachste und allerschwierigste zugleich. Denn sie lässt in ihrer polemischen Verknappung nur eine einzige Antwort zu. Eine Antwort allerdings, die trotz ihres fragmentarischen Charakters tief blicken lässt und alle persönlichen Motive und Stimuli mitkommuniziert. Kreativität lässt sich mit Vaske nicht nur als neu und originell definieren, als anpassungsfähig und anwendungsbezogen. Nach seinem Dafürhalten ist sie vor allem "Eigentum des Individuums". Ob die Erwiderungen der Befragten wirklich ein "Paradigma (der Kreativität) für das kommende Jahrtausend" formulieren helfen?

Die Antworten reichen von heiteren ("Fear that I'd wind up being a dentist" - Mike Tesch), selbstironischen ("aus Faulheit" - Sebastian Turner), ökonomischen ("Weil ich gut dafür bezahlt werde" - Konstantin Jacoby) und logischen ("because he is not... " Jean-Remy von Matt [über Holger Jung!]) über zweifelnde ("Ich wäre froh, wenn ich es wäre" - Richard von Weizsäcker), therapeutische ("I stop myself for going mad" - Mel Gibson), zwanghafte ("Because I have to be" - Nick Cage) und philosophische ("Creativity is my voice" - Malcolm Gaskin) bis zu religiösen ("Kreativität ist ein Geschenk Gottes" - Leni Riefenstahl).

In manchen Äußerungen entpuppt sich Kreativität als unmittelbar existenziell. "I do not act to make a living - I act to live", meint Ben Kingsley. Ohne Geschichtenerzählen gibt es kein Leben. Für manche hingegen ist Kreativität ein Weg, mit Menschen in Kontakt zu treten und mit den eigenen Gefühlen umzugehen. Für Dennis Hopper ermöglichte die Kunst die Flucht aus Einsamkeit und Verzweiflung. "For love" spielte Emily Watson in zahlreichen Filmen mit. Und Yohji Yamamoto antwortet auf die Frage nach dem "Warum?" mit einem warmen "Because I miss you".

Was wäre Kreativität ohne den Antrieb der Todesfurcht? Kunstwerke in ihrer persönlichsten Dimension sind ein Aufschrei gegen den Tod, mit ihnen errichtet sich der Künstler ein Mahnmal gegen das Vergessen. Der Werbe-Kreative Jay Chiat, der einen Grabstein mit der Aufschrift "R.I.P. - Because there was no other way" aufs Papier malt, hat also beileibe kein "Problem mit dem Tod", wie der Psychologe kommentiert. Das gleiche gilt für den Regisseur Stein Leikanger, der ein Foto mit seinem Grabstein übergibt. "Stein X Leikanger - Rest in Rage", so vermelden es die in den Marmor gehauenen Buchstaben. Der starke Raucher Roland Topor zeichnet ein qualmendes Kreuz als Signum seiner Unsterblichkeit.

Es liegt an Vaskes psychoanalytisch vorgeprägter Herangehensweise, dass das existenzielle Motivationsfeld in der abschließenden Bestandsaufnahme kreativer Stimuli weitgehend ausgeblendet wird. Neben den genannten Kategorien wie Geld, Angst, Zwang und das Bedürfnis nach metaphysischen Sinnangeboten nennt er noch "Reaktion auf Langeweile", "Leidenschaft", "Vererbung/Eltern". Und - da auch die Fähigkeit, sich spielerisch auf ein kindliches Niveau zurückzuversetzen, der Ideenfindung dienen kann - "Regression".

Nicht zu vergessen auch "Individualität" und "Sexualität/Libido". So antwortet Taseki Kitano: "Weil ich eine große Kanone habe", während Damien Hirst einen ejakulierenden Penis mitsamt weiblicher Vulva zeichnet und Nabuyoshi Araki einen multiphallischen Elefanten skizziert. Freud vertrat die Ansicht, ein frustrierter Sexualtrieb sei die Quelle vieler kreativer Aktivitäten. Mit der gleichen Berechtigung könnte man den Aufbau libidinöser Energien im schöpferischen Prozess als Ablenkungsverhalten beschreiben. Kreative Arbeit verlangt ein hohes Maß an Konzentration und Selbstorganisation. Deswegen besitzt sie eine besondere Anfälligkeit gegenüber jeglicher Art von Störungen. Auch selbst erzeugter.

Der Nachfolgeband "Standing on the shoulders of giants" ist textlich und bildlich umfangreicher; begleitend zu den Interviews dokumentieren Filmstills und Kampagnen das Treiben der 33 Werbe-Kreativen und Filmemacher. Vaskes Fragen zielen über die nach den Wurzeln der Kreativität hinaus: auf die kreative Biografie, die Firmenkultur, das Wesen der Werbung, auf Filme und Kampagnen sowie auf die Bedeutung von Awards. Der Konsens über Kreativpreise lautet, dass man sie nicht als Hauptmotivation betrachten sollte. Weitere Schwerpunkte dieses Bandes bilden die Stellung des Humors in der Werbung sowie die Schnittstellen zwischen Werbung und Kunst.

Aus den knapp 400 Seiten Interviewtext kann sich der Leser das herausfiltern, was ihn ärgert oder anspricht. Beileibe nicht jedes Gespräch ist so inspirierend wie das mit George Lois, der mit Recht von sich behauptet, Werbung jenseits der Werbung zu machen: "Direkt drauf. In die Fresse." So antwortet Neil French, Worldwide Creative Director von Ogilvy & Mather allen Ernstes auf die Frage nach seiner Bewertung der Globalisierung: "Naja, mir fällt niemand ein, der an Coca Cola gestorben ist. Ist das gut? Naja, das ist Ansichtssache." Dafür wirken das Verständnis und die behutsame Mitarbeiterführung von Dan Wieden von Wieden & Kennedy umso sympathischer: "Es ist eine sehr enge, sehr emotionale Verbindung mit Menschen, die alle sehr talentiert sind. Es gibt eine Menge Freiheit. [...] Ich glaube, dass kreative Leute grundsätzlich ihre eigenen Regeln schaffen. [...] Man kann ihnen nichts vorschreiben." In vielen deutschen Agenturen weht ein anderer Wind.

Damit steht Ed McCabe keineswegs im Widerspruch, wenn er sich über die zunehmend mittelmäßige, inhaltslose und unfokussierte Werbung beschwert. Schon viel zu lange, sagt McCabe, würde kein Qualifizierter dem bunten Treiben mehr zusehen. Da würde einfach ein Haufen "Kids" genommen, der irgendetwas austüftele. Das Ergebnis verkaufe man dann dem Kunden, der ebenfalls von einem Haufen Kids vertreten würde. Mit einem Studiengang, der die richtige Ausbildung vermittelt, will McCabe für Abhilfe sorgen.

Im Vergleich zu solchen - sicher berechtigten - Professionalisierungsbemühungen vermittelt die ältere Generation der Werber ein gänzlich anderes Bild. So meint der erklärte "Non-Performer" Jerry Della Femina: "Ich bin in die Werbung, weil ich faul war. [...] Ich hasse Leute mit Deadline-Mentalität." - Ein beredtes Zeugnis für den Eigensinn des Kreativen, seiner Unbeugsamkeit gegenüber Fremdbestimmung. Man sollte Vaskes Katalog deshalb noch um ein weiteres Motivationsmoment ergänzen: Selbstgenuss. In unseren kreativen Leistungen befinden wir uns im Einklang mit uns selbst. Mit unseren Schöpfungen begeben wir uns auf die spielerische Suche nach unserer Individualität.

Vielleicht hat sich der Schauspieler Chevy Chase deshalb mit einem Satz vorgestellt, der auf die Einzigartigkeit seiner Person verweist: "Hallo, ich bin Cheavy Chase und Sie nicht." Zuletzt noch ein Statement zu einer der wichtigsten Antriebskräfte für kreative Aktivitäten, der Glücksgewinnung. Warum sind Sie kreativ, Lee Clow? - "Weil alles andere scheiße ist. [...] Die Leute, die ihren Job nicht kreativ angehen, sind einfach die unerfülltesten, leersten, unglücklichsten Gestalten unter der Sonne. Das scheint mir der unglücklichste Weg zu sein, den man durchs Leben gehen kann."

Titelbild

Hermann Vaske: Standing on the Shoulders of Giants.
Die Gestalten Verlag, Berlin 2001.
384 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3931126676

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hermann Vaske: Why are you creative?
Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2002.
239 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 3874394999

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