Anwendungsorientierte Wissenschaft?

Ein Sammelband zu den Geisteswissenschaften 1933-1945

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein beliebter Topos will, dass Bildung gegen Verführung immunisiere. Wer sich mit der Rolle der Wissenschaft im deutschen Faschismus befasst oder wenigstens die herbstliche Debatte um Einträge im Germanistenlexikon verfolgt hat, weiß indessen, wie wirkungsmächtig NS-Ideologeme gegenüber Intellektuellen waren. Vielfach ist von Verführung nur deshalb nicht zu spechen, weil die Wissenschaftler durchaus zutreffend die Verwandtschaft ihrer Positionen mit denen des Regimes erkannten.

Unterhalb dieser allgemeinen Aussage sind jedoch Fragen zu beantworten, die erst das Feld interessant werden lassen. Wer machte mit, und warum? Wer nicht, und wer wollte, aber durfte nicht? Wie bewegten sich Wissenschaftler, die sich nicht einem Machtzentrum gegenübersahen, sondern jener Vielfalt von NS-Akteuren, mit denen je sich zu verbünden Aufstieg oder Abstellgleis bedeuten konnte? In welches Verhältnis gerieten ideologisches Auftrumpfen einerseits, die Notwendigkeit einer funktionierenden Wissenschaft im modernen Staat andererseits?

Angesichts solcher Probleme trägt der von Frank-Rutger Hausmann herausgegebene Band zur "Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945" zur Klärung bei. Otto Gerhard Oexle zeigt in einem philosophisch akzentuierten Beitrag, wie die Sehnsucht nach der Überwindung historischer Relativierungen zugunsten eines ganzheitlichen Erlebens der Wirklichkeit vielen Wissenschaftlern den Schritt zur NSDAP nahelegte; Lothar Mertens' institutionengeschichtlicher Beitrag ist der Rolle der "Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft", d. h. ab 1935 der DFG im "Dritten Reich" gewidmet. Die anderen Autoren beschäftigen sich mit einzelnen Geisteswissenschaften.

Hausmanns Auswahl der Fächer orientiert sich an verschiedenen Gesichtspunkten. Zugunsten selten behandelter Fächer wie Keltistik, Slawistik oder Sportwissenschaft bleiben Disziplinen wie Romanistik oder Soziologie beiseite, zu denen aktuelle Studien bereits vorliegen; insgesamt wurden Philologien und verwandte Fächer bevorzugt.

Je nach Temperament der Verfasser und nach fachgeschichtlichem Forschungsstand sind die Beiträge durchaus unterschiedlich geraten. Holger Dainat etwa kann für die germanistische Literaturwissenschaft bereits Resultate langjähriger Diskussionen zusammentragen. Andererseits hat sich die Vor- und Frühgeschichte, die wie kaum ein anderes Fach nach 1933 gefördert wurde, sich lange um die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit gedrückt; noch vor einer Analyse wissenschaftlicher Inhalte widmet sich Wolfgang Pape dem Organisationsgrad der Fachvertreter, der mit 86 % (NSDAP) und wohl etwa 20 % (SS) außerordentlich hoch war.

Interessant ist, wie sich Fremdsprachenphilologien im Kontext eines Regimes verhielten, das den Nationalismus bis zu seiner äußersten Konsequenz steigerte. Helmut W. Schaller musste für sein Fach, die vor 1945 recht überschaubare Slawistik, Pionierarbeit leisten, da fachgeschichtliche Forschungen, wie er etwas allgemein darlegt, in der DDR "wohl noch nicht oder nur sehr schwer möglich", in der BRD hingegen "einfach nicht üblich" waren. Das Misstrauen, das gerade letztere Formulierung zu wecken geeignet ist, scheint unbegründet, und nur in Ausnahmefällen beteiligten sich Universitäts-Slawisten an der Abwertung des Slawischen, die die Massenmorde flankierte. Im Gegenteil scheinen sprachwissenschaftliche Forschungen zum Sorbischen die Fiktion eines geschlossen germanischen Deutschland zum Unwillen von NS-Ideologen gestört zu haben.

Düsterer ist das Bild im Falle der Anglistik (K. Ludwig Pfeiffer), die sich bereits im Ersten Weltkrieg für die nationale Auseinandersetzung mobilisieren ließ, und bei der gleichfalls notorischen Keltologie. Letzteres Fach stützte die erwünschten Fremdnationalismen von Iren und Bretonen, die die feindlichen Staaten Großbritannien und Frankreich zersetzen sollten. Joachim Lerchenmüller zeichnet nach, dass Keltologen wie Ludwig Mühlhausen und Leo Weisgerber nicht nur ihre Wissenschaft politisierten, sondern sich geradezu dem Besatzungsregime und Institutionen wie dem SS-Ahnenerbe und dem SD zur propagandistischen Unterstützung einer mörderischen Politik anboten, die ihnen nicht verborgen bleiben konnte.

Unter anderem auch Weisgerbers Bedeutung für die Linguistik noch der Nachkriegszeit beleuchtet Clemens Knobloch in seinem Beitrag zur Sprachwissenschaft. Knobloch demontiert freilich nicht nur Mythen der ohnehin seit vielen Jahren aus dem wissenschaftlichen Feld geschlagenen Sprachnationalisten, sondern auch die ihrer Überwinder. So vermag er zu zeigen, dass die deutsche Sprachwissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre keineswegs auf Kenntnisnahme des Strukturalismus verzichtete, dass faschistische Instrumentalisierung der Wissenschaft und Schärfe der Argumentation einander keineswegs ausschlossen. Gleichzeitig zerstört Knobloch die Vorstellung, die Orientierung an gesellschaftlich positiv gewerteten Leitbegriffen sei Kennzeichen allein einer Wissenschaft im Totalitarismus: "Daß es inzwischen eine ,ökologische', eine ,natürliche' Linguistik, Psychologie etc. gibt, versteht sich von selbst, aber eben nicht aus binnenfachlichen Beweggründen, sondern aus solchen der (außerfachlichen) Resonanzfähigkeit."

Die Parallelisierung ist illusionslos, was die Funktionsweise von Wissenschaft anbelangt, jedoch nicht notwendig ethisch indifferent; vielleicht trägt ja eine ökologische Linguistik mehr zum allgemeinen Wohl bei als eine nationale. Dies zu werten, verlangt jedoch den Mut zum heutigen Standpunkt, einem Anti-Historismus, der unter den Beiträgern durchaus umstritten ist. Eine Extremposition nimmt in dieser Hinsicht Jürgen Elvert ein, der in seinem im übrigen materialreichen Beitrag zur Geschichtswissenschaft sich nachdrücklich dagegen wendet, das Verhalten der Historiker an jenen menschenrechtlichen Forderungen von 1789 zu messen, die sie explizit ablehnten. Es ergibt sich die paradoxe Konstellation, dass ein Historist seine ganzheitlichen Schützlinge gegen Angriffe von Historikern verteidigt, die vergangenes Verhalten zwar am damals immerhin Möglichen, doch vor allem am heutigen Wissen messen. Elverts Ansatz, das Verhalten der Historiker mittels Prägungen aus der Weimarer Zeit zu erklären, überzeugt zwar. Statt seinen Protagonisten "Naivität" zuzuschreiben, könnte er seinen Gedanken freilich radikalisieren: dass eben weder Verführung noch Anpassung vorlagen, sondern, jenseits wissenschaftlicher Konflikte im Detail, die große Mehrheit der Geschichtswissenschaftler mit dem deutschen Faschismus in den Grundzügen übereinstimmte. Unterschiede, die Elwert zu Recht zeigt, hielten jedenfalls viele der Historiker nach 1933 offensichtlich für zu vernachlässigen.

Mehr Mut zur Kritik am eigenen Fach als Elvert haben etwa neben Knobloch, Pape, Lerchenmüller oder Dainat der Philosoph Hans-Joachim Dahms, der personenzentriert die Philosophiegeschichte nach 1933 als Wettlauf um die Position des einzigen Staatsphilosophen nachzeichnet und der Psychologe Mitchell G. Ash, der sein Fach im Spannungsfeld zwischen Ganzheitsideologie und praktischer Umsetzung situiert. Der Sportwissenschaftler Jürgen Court stellt schließlich anhand der Olympischen Spiele von 1936 klar die politische Funktionalisierung von Sport und Sporttheorie nach 1933 heraus.

Über solch unbequeme Erinnerungen geht der Musikwissenschaftler Gerhard hinaus, der sich nicht allein der unerfreulichen Geschichte, sondern auch einer unerfreulichen Gegenwart zuwendet. Sein Fach kennt mit Hans-Joachim Moser einen Buhmann, gegen den abzugrenzen bereits in den fünfziger Jahren die Legitimität eines führenden, dabei doch nicht weniger belasteten Fachvertreters wie Friedrich Blume zu garantieren hatte. Gerhard akzentuiert die soziologischen Besonderheiten eines "kleinen" Fachs, in dem jeder jeden kennt und persönlicher Kontakt ein entscheidender Faktor war - und ist. Darin ist die Musikwissenschaft repräsentativ für viele der überschaubareren Geisteswissenschaften - und wer in einem solchen Kontext arrivierte, vielleicht auch nur die lebensrettende Freistellung vom Kriegsdienst verlängern konnte, vermochte dann eben prägend zu wirken. Dies zu berücksichtigen, ohne in Anekdötchen abzugleiten, führt Gerhard exemplarisch vor. Indem er die noch gegenwärtige Abwehr einer kritischen Diskussion benennt, verweist er auf langwirkende Traditionen und Loyalitäten.

Vielleicht aber ist ein solches Kampffeld untypisch, indem es mit der hemmenden Ebene menschlicher Beziehungen verbunden ist. Die Blüte fachgeschichtlicher Aufarbeitung der NS-Zeit seit einigen Jahren ist zwar unter anderem dadurch zu erklären, dass mittlerweile auch die Schülergeneration der Belasteten in den Ruhestand tritt, vielleicht aber gewinnt eine Organisation heute an Status und an Freiraum, indem sie die Verbrechen einer schon lange vergangenen Zeit einräumt. Solcher Funktionalismus fällt großen Fächern wie der Germanistik leichter (und der Rezensent, ein Germanist, hat als Doktorand daran mitgewirkt). Das Wissen, das Ergebnis solcher Bemühung ist, hat freilich nicht nur seinen Eigenwert als historische Erkenntnis, sondern führt auch zu Modellen, wie Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Kontext funktionieren; reizvoll wäre es, diese Modelle einmal auf die Geisteswissenchaften im so ganz anderen Umfeld des Neoliberalismus anzuwenden.

Titelbild

Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933-1945. Schriften des Historischen Kollegs Band 53.
Oldenbourg Verlag, München 2002.
373 Seiten, 64,80 EUR.
ISBN-10: 3486566393

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