Bücherlesen ist gefährlich!

Cornelia Funke schickt ihre Heldin auf einen Horrortrip

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Woody Allens "The Purple Rose of Cairo" steigt ein Schauspieler aus einem Film und beeinflusst das Leben einer Zuschauerin. Der Film geht auf sensible Weise mit den Möglichkeiten des Mediums und den Träumen der Zuschauer um. Allens Tragikomödie gehört sicher zu den "besten Filmen aller Zeiten" - wie es immer auf einem Privatsender heißt, ohne dass dieses Versprechen dort erfüllt würde. Die besten Filme kommen in der Regel im Zuspätprogramm der Öffentlich-Rechtlichen.

Bei Büchern ist das anders, man kann wählen und muss nicht bis Mitternacht mit dem Lesen warten. Seit wenigen Monaten gibt es ein neues Buch im Angebot, das im Feuilleton und auch sonst hohe Wellen geschlagen hat, es erschien zeitgleich in mehreren Ländern und die Verfilmung soll bereits auf den Weg gebracht sein. Sogar die "Zeit" widmete diesem Titel eine an herausragender Stelle platzierte, fast hymnische Besprechung. Wie in Allens Film wird ein buchstäblicher Medienwechsel inszeniert, diesmal kommen Figuren aus einem Buch oder gehen hinein. Die Durchlässigkeit des Mediums ist aber nicht eine Konsequenz aus den Befindlichkeiten der Figuren. "Tintenherz" von Cornelia Funke liegt die Idee zugrunde, dass es Menschen gibt, die so vorlesen können, dass Figuren eines Buches dadurch lebendig werden. Zusatzidee: Für die aus dem Buch getretenen Figuren müssen reale Wesen ins Buch hinein. Nicht die Qualität, nur die Quantität ist entscheidend: Für einen Menschen darf es auch mal eine Katze sein.

Allen spielt durch was passiert, wenn Träume der Menschen Realität werden. Funkes Buch zeigt im Gegensatz dazu, wie Träume zu Alpträumen mutieren. Kurz gesagt: Sie nutzt ihren Einfall zur konsequenten Erzeugung von Angst. Das ist im Kinder- und Jugendbuch immer dann in pädagogischem Interesse, wenn den mehr oder weniger kleinen Lesern exemplarisch vorgeführt wird, wie man Angst bewältigen kann. Bei Funke geht es allerdings nur darum, sie auszuhalten.

Man stelle sich vor: Vater, Mutter und Baby befinden sich im gemütlichen Heim, der Vater liest etwas vor, plötzlich stehen grausame Verbrecher aus dem Buch im Raum und die Mutter ist verschwunden, scheinbar für immer. Jahre später tauchen die Verbrecher wieder auf, um das Buch und den Vater zu holen. Der Vater und die nun kurz vor der Pubertät stehende Tochter werden in einem kleinen italienischen Bergdorf gefangen gehalten, erst soll er, dann sie (beide haben die Gabe des Herauslesens) dem bösen Capricorn seinen "Schatten", ein Monster, aus dem Buch holen. Capricorn hat sowohl dem fiktiven als auch dem realen Buch seinen Namen gegeben, er ist das "Tintenherz", das schwarze Herz, das kein Mitleid hat.

Die Trennung der beiden Ebenen Wunderwelt und (fiktive) Realität hat E. T. A. Hoffmann mit seinem "Goldnen Topf" in die Weltliteratur eingeführt. In Michael Endes "Unendlicher Geschichte", eine einzigartige Apologie der Phantasie, findet sich das Motiv des Buches, in das man hineingehen kann, um dort auf eine Welt voller wunderbarer Begebenheiten zu stoßen, die sich allerdings auch gegen einen wenden können. Das Buch im Buch heißt "Die unendliche Geschichte", auf diese Weise soll sich der Leser seiner Rolle als Leser bewusst werden. Ende greift auf, was Hoffmann bereits am Beispiel des Einsiedlers Serapion in den "Serapionsbrüdern" zeigte: Wer nur noch im Phantasiereich lebt, erscheint anderen als wahnsinnig. Dagegen steht: Wer keine Phantasie hat, ist zu bedauern. Fazit: Auf die Mischung kommt es an.

Von weitergehenden Reflexionen wie dieser hält Funke offenbar nicht viel. Sie übernimmt lediglich den Einfall des Buches als Schleuse zwischen zwei Welten und setzt darauf eine Mischung aus Horror- und Kriminalgeschichte. Vater Mo (von Mortimer) und Tochter Meggie werden gefangen gehalten und bedroht, können einmal fliehen und werden wieder eingefangen, diesmal mit dem Autor von "Tintenherz", also des Buches im Buch, der schließlich den rettenden Einfall hat. Von den versprochenen Grausamkeiten trifft gottseidank nichts ein, es bleibt bei einem Ankündigungsstil, der Angst erzeugt, um die Leser bei der Stange zu halten.

Hier beginnen die ernsthaften Probleme von Funkes Roman, die in dem Einfall gipfeln, dass Meggies Mutter von einem unbegabten Vorleser wieder aus dem Buch geholt wurde und seit geraumer Zeit Capricorn als Magd dient. Weil der Vorleser so unbegabt war, ist sie nicht wie früher, kann sie nicht mehr sprechen. Dazu kommen Andeutungen, dass Capricorn und seine Männer nicht nur die Arbeitskraft von Frauen ausbeuten. Ebenso erfährt man in einem Nebensatz, dass der Vater, wiewohl trauernder Strohwitwer voller Hoffnung auf eine Rückkunft der Frau, diverse Freundinnen hatte.

Das alles macht die Geschichte sicher etwas realistischer, aber nicht besser, im Gegenteil. Eine schöne Frau, die jahrelang bei grausamen Verbrechern lebt und von ihnen sexuell missbraucht wird, muss eine gebrochene Figur sein. Bei Funke ist sie es nicht. Wenn hier Traumatisierungen vorgeführt werden sollen, damit Kinder und Jugendliche sich damit auseinandersetzen, bitte gern, aber dann auch konsequent. Am Schluss des Romans ist die Familie wieder beisammen, alles ist wie vorher, und dass die Mutter nicht sprechen kann, macht sie mit ihrer zügigen Art zu Schreiben wieder wett.

So wird deutlich, dass es eben primär nur darum geht, Spannung zu erzeugen. Dabei gibt es durchaus gelungene Figuren, die des fanatischen Autors, der Figur Staubfinger, die zurück in ihr Buch möchte, und vor allem der Tante Alinor, die von ihrem bücherbesessenen Vater keine Liebe bekam und sich jetzt deshalb selbst hinter und in Büchern vergräbt. Sie ist die einzige wirklich schlüssig motivierte Figur des ganzen Buches, ihre Obsession wirkt glaubwürdig.

Bücher stiften Sinn, welchen stiftet dieses? Vielleicht: Wer seine Familie liebt, sollte ihr nichts vorlesen. Zugegeben, das ist unfair, also vielleicht eher: Auch Kinder und Jugendliche müssen begreifen lernen, dass es Menschen gibt, die einfach böse sind, die man nicht bessern kann. Nach dem 11. September und diversen Kindesentführungen mit Vergewaltigung und Mord ist die Gesellschaft an einem Punkt angelangt, an der es ihr geboten erscheint, statt Toleranz wieder Härte zu zeigen. Gegen einen solchen Sinn ist nichts zu sagen, zumal er in eine spannende Geschichte verpackt wird. Dennoch bleibt dem einen Leser, der dies schreibt, der Eindruck zurück: Aus dem Einfall von "Tintenherz" hätte man mehr machen können.

Titelbild

Cornelia Funke: Tintenherz.
Dressler Verlag, Hamburg 2003.
575 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3791504657

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