Andrea Paluchs und Robert Habecks neuer Roman „Der Schrei der Hyänen“

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1904 – vor hundert Jahren – erheben sich in der deutschen Kolonie Südwest-Afrika die Hereros gegen die deutsche Herrschaft. Im August 1904 kommt es am Waterberg zur Entscheidungsschlacht, doch in der Nacht kann der gesamte Stamm der Hereros – 80.000 Menschen mit Vieh und Kindern – dem deutschen Kessel entweichen und in das wasserlose Wüstengebiet der Omaheke fliehen. Es werden keine Gefangenen mehr gemacht. Erst ein Jahr später wird die Abriegelung der Omaheke aufgehoben und die wenigen Überlebenden in Lagern interniert. 65.000 Hereros überlebten den Aufstand nicht.

Als Arabella 1899 als geworbene Braut in der deutschen Kolonie Südwest ankommt, um einen der jungen Farmer zu heiraten, findet sie sich in einer rohen Männerwelt wieder. Statt Sonne nur salzige Nebelschwaden, und statt Licht und Wärme die Gewalt und Grausamkeit eines Lebens in der Savanne.

Fünf Jahre später wird Arabella, deren Mann der erste Farmer ist, der bei dem Aufstand stirbt, von den Hereros verschleppt. In der Gefangenschaft findet sie zunehmend das, was sie zuvor ein Leben lang gesucht hat. Als Arabella wieder bei den Deutschen lebt, ist sie von einem Schwarzen schwanger. Um Zeit zu gewinnen, geht sie eine Beziehung mit dem Offizier Paul von Kavea ein, der sie aufrichtig liebt. Aber die Zweifel, ob das Kind von ihm ist, wachsen. Schließlich rät ihm sein Vorgesetzter, in Ruhe abzuwarten: „Wenn das Kind weiß ist, ist es deins, ist es schwarz, wirfst du es in den Atlantik und die Frau gleich hinterher.“

Das Kind, Nele, wird geboren und ist entgegen jeder Wahrscheinlichkeit und Erwartung weiß. Auf ihm, und damit auf falschen Voraussetzungen, baut sich eine stolze und dünkelhafte Familientradition auf. Nele von Kavea ist selbst völlig von ihrem Konservatismus eingenommen. Zwei Generationen später steht sie, inzwischen Senatorin in Hamburg, am Kindbett ihrer Tochter Kriemhild und traut ihren Augen nicht, als ihre Enkelin schwarz ist. Natürlich unterstellt Nele nicht nur Ehebruch, sondern auch noch Ehebruch mit einem Farbigen. Um Schande von der Familie abzuwenden, nimmt sie ihrer Tochter, die in Vollnarkose liegt, das Kind weg und setzt es aus.

Für Cosima, die im Waisenheim groß wird, sind alle Abstammungslehren und jegliche Familientradition von vornherein nur Mittel, um andere auszugrenzen. Die einzige Familie, die sie anerkennt, ist die, die sie selbst gegründet hat. Als Nele nach 30 Jahren in ihr Leben tritt, weigert sich Cosima deshalb, sie als Großmutter anzunehmen. Nele vermacht Cosima die afrikanische Familienfarm und bittet, ihr zu verzeihen. Cosima lehnt zunächst ab, um dann doch zuzustimmen und die Farm sogleich weiter zu verschenken. Damit gibt sie den Ort auf, von dem alle Generationen annahmen, er sei das Herz und der Kern der Familie. Auf der Suche nach Cosima reist Nele nach Namibia und betritt als Greisin das Haus, in dem Arabella mit ihrem Mann, der nicht ihr Vater war, gelebt hat. Es kommt zur finalen Stunde der Wahrheit, in deren Verlauf das Haus in Flammen gerät und verbrennt – und mit ihm Nele.

Obwohl „Der Schrei der Hyänen“ über weite Strecken in Afrika spielt, ist er durch die verhandelten Themen – Gewalt, Schuld, Heimat – genauso ein Deutschland-, wie ein Afrika-Roman. Gleichzeitig ist er eine Familiengeschichte über die Unmöglichkeiten, sichere Grenzen der Abstammung zu ziehen. Er handelt von vier Frauen in vier Generationen und umfasst hundert Jahre, wird jedoch nicht kontinuierlich, sondern in Ereignissen erzählt, wobei die Lebensalter der Frauen wiederum die Gesamtheit eines Lebens darstellen (Arabella-Jugend, Kriemhild-Geburt, Cosima-Erwachsenenalter, Nele-Greisin). Die Geschichte wird ebenfalls nicht linear, sondern gleichzeitig erzählt. Die Ereignisse werden unabhängig von der Generationenchronologie nach dem Prinzip der Parallelisierung von Motiven aneinander gereiht. Auf diese Weise wird verdeutlicht, dass die vermeintlich kausale Abfolge von Ereignissen in Wahrheit der Logik von Schuld und Sühne unterliegt.

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Titelbild

Robert Habeck / Andrea Paluch: Der Schrei der Hyänen. Roman.
Piper Verlag, München 2004.
303 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3492046118

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