Innerer Amoklauf

Gregor Hens' drittes Buch "Matta verlässt seine Kinder"

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor gerade mal zwei Jahren hat Gregor Hens die literarische Bühne mit seinem ersten Roman betreten. "Himmelssturz" hieß sein Debüt, das als "meisterhafter Roman" (SZ), "Meisterwerk" (NZZ) und als "das beste Debüt des Jahres" ("Die Welt") enthusiastisch begrüßt und gefeiert wurde. Und das in einer Zeit, da die deutsche Literatur wahrlich nicht arm an Talenten ist, in einer Zeit, da der Hype und der Rummel um ,Fräuleinwunder' und Pop-Literatur sich wieder ruhigerer und seriöserer Bewertung von Literatur unterordnen müssen. Die Spreu hat sich (oder wurde) vom Weizen getrennt, viele Namen aus den späten 90er Jahren kennt heute kaum noch einer (wie einst beim Phänomen Neue Deutsche Welle).

In 2003 veröffentlichte Gregor Hens, unter der Herausgeberschaft des emsigen Denis Scheck, Erzählungen unter dem Titel "Transfer Lounge", denen ähnlich deutliche Lobesworte zuteil wurden, und seit Ende Februar liegt nun Hens' drittes Buch vor. Darüber hinaus ist der seit 1989 in den USA lebende und dort als ordentlicher Professor lehrende Autor ein gefragter Beiträger für hiesige Zeitungen und Zeitschriften. Gregor Hens' Omnipräsenz im deutschsprachigen Literaturbetrieb wird vervollständigt durch seine Teilnahme an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt 2003, wo er den Text "John F. Kennedy und der Ausbruch des Irazú" las.

Nun also "Matta verlässt seine Kinder", ein Text, der ohne Kennzeichnung seiner Form vorliegt, es handelt sich möglicherweise um einen Kurzroman oder um eine lange Erzählung, doch das ist ohne Belang. Karsten Matta ist die Hauptfigur, er ist "vierzig Jahre alt, Reisender seit fünfzehn Jahren für einen kleinen, hocheffizienten Think Tank, der von einem Londoner Vorort aus geleitet" wird. Es ist Freitag Vormittag, er sitzt in der pakistanischen Botschaft in Berlin und wartet auf die Bearbeitung seiner Einreiseunterlagen nach Pakistan. Während dieser ihn demütigenden Prozedur, in der er in einem inneren Monolog wahre Hasstiraden gegen seine Peiniger formuliert, birst etwas in ihm. Ohne Papiere, schweißnass und rasend vor Wut, verlässt er die Botschaft, stürzt nach Hause, wo er Rotwein trinkend seine fristlose Kündigung per Email verfasst. Seine Frau Rebecca und die Söhne Chris und Malte (der eigentlich Friedrich heißt) haben kaum Gelegenheit, mit ihm in Kontakt zu treten, viel zu aufgewühlt ist Matta, der zudem mit seiner schwedischen Freundin Malin (die die ganze Familie kennt und schätzt) telefoniert hat, um sich mit ihr in Hamburg zu verabreden. Mit den Worten "Ich komme nicht in dieses Leben zurück" verlässt Karsten Matta, dieser Mann, der in seinem Leben so viele unsagbare Gräuel in den Krisen- und Kriegsgebieten der sogenannten Dritten Welt erlebt zu haben scheint und der nun genug hat von alldem, seine Familie. Er und Malin treffen sich in Hamburg, sie gehen in ein Hotel, fahren am nächsten Tag weiter und geraten auf dem Land in eine Hochzeitsfeier. Das leidenschaftliche Vakuum der Liebenden wird jäh beendet, die Ereignisse überschlagen sich, das Buch endet überraschend und dramatisch. In einer Art Epilog, gehalten im Stil eines mit technischen Begriffen gespickten Polizeiberichtes, erfährt der Leser von einem Autounfall, nichts Eindeutiges jedoch vom Schicksal Mattas und Malins.

Wie in den Erzählungen in "Transfer Lounge" befinden sich auch in "Matta verlässt seine Kinder" die Protagonisten in einer schwierigen, wenn nicht gar Extremsituation, deren Hergang, Verlauf und Ausgang Gegenstand des Buches ist. Und Gregor Hens gelingt es, diese Komplexität präzise und auf das Nötigste beschränkt wiederzugeben. Hens reißt eine Fülle von Themen an, beispielsweise den Umgang von Kindern mit ihren im Alter erkrankenden Eltern oder die psychische Verrohung von Menschen, die, wie Karsten Matta, an den Brandherden der Welt arbeiten. Im Zentrum seiner Themen steht aber eindeutig die Frage, wie und ob (Zweier-)Beziehungen dauerhaft funktionieren. Matta und Rebecca führen eine sogenannte offene Ehe, doch das Buch offenbart an mehreren Stellen, dass diese Idee wenig erfolgreich umgesetzt wurde.

Der Literaturprofessor Hens hat eine Vielzahl von literarischen Verweisen in seinen Text eingearbeitet, so z. B. kann der Name Malin durchaus in Beziehung gesehen werden zu Ingeborg Bachmanns "Malina". An einer Stelle reden Matta und Malin über das Buch "Krieg" von Rainald Goetz, was zu einer heftigen Kontroverse zwischen den beiden führt. Und möglicherweise lässt sich der Zustand der Titelfigur in Beziehung setzen zu Friedrich Glausers Roman "Matto regiert", in welchem Matto als Geist des Wahnsinns bezeichnet wird.

"Matta verlässt seine Kinder" wird in diesem Frühjahr ganz sicher für Gesprächsstoff sorgen. Wie "Purpurland" von Horst Eckert oder "Das Handwerk des Tötens" von Norbert Gstrein ist auch Gregor Hens' neues Buch ein Beleg dafür, dass Literatur auf die großen Kriege reagiert, seit deutsche Truppen darin involviert sind.

Und mit S. Fischer könnte Hens, nach den Stationen btb und marebuchverlag, seine literarische Heimat gefunden haben.

Titelbild

Gregor Hens: Matta verlässt seine Kinder. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
144 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3100325818

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch