Ein Chronist der Abgründe

Georges Simenon lässt Kommissar Maigret auf dem Land ermitteln

Von Nikola PoitzmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikola Poitzmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er war der vermutlich produktivste Autor in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts: Georges Simenon, der am 13. Februar 1903 als Sohn eines Buchhalters im belgischen Lüttich geboren wurde, während der zwanziger Jahre in Paris für Furore sorgte und am 4. September 1989 als international gefeierter Schriftsteller in Lausanne starb.

Kaum fassbar ist allein die Zahl (mehr als 200 Romane und zahllose Kurzgeschichten) seiner milieuechten psychologischen Romane, die immer wieder von kriminellen Abirrungen ehrenwerter Bürger handeln. Oftmals sind sie in Form von Geständnissen oder Beichten geschrieben. Wegen ihrer scharf umrissenen Charakterporträts, ihrer präzisen Handlungsführung und nicht zuletzt ihrer latenten Spannung haben sie die Leser fasziniert.

Simenon wäre im letzten Jahr 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass legte der Diogenes Verlag den Krimi "Maigret und das Dienstmädchen" zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Titel des Meister-Autors wieder neu auf.

In Paris ist Frühlingsanfang. Die ganze Stadt träumt von der Liebe, auch Kommissar Maigret. Doch plötzlich wird er in die beschauliche Vorstadtsiedlung Jeanneville gerufen, um dort einen Mord aufzuklären. Der alte Buchhalter Jules Lapie, von allen nur "Holzbein" genannt, wurde von seinem Dienstmädchen Félicie tot aufgefunden. Der Menschenkenner Maigret spürt, dass allein Félicie seine Fragen zum Mord beantworten kann, aber sie hüllt sich Schweigen. Der Kommissar hatte schon hart gesottene Ganoven zum Reden gebracht, aber an dieser jungen, spröden Frau zerbeißt er sich die Zähne.

Welches Motiv könnte der Mörder haben, den alten Buchhalter zu töten? Welche Rolle spielt das Dienstmädchen Félicie? War sie seine Geliebte oder die seines Neffen Jacques? Simenon gelingt es, den Leser in das Katz- und Mausspiel zwischen Maigret und Félicie einzubinden. Dabei stellt er Maigret nie als außergewöhnlichen Helden dar, sondern als einen eher unauffälligen Menschen, der jedoch genau seine Umgebung wahrnimmt und sie analysiert. Vielleicht ist es gerade dieses unspektakuläre Vorgehen Maigrets, das Millionen Menschen auf der Welt begeistert.

Der Kommissar der Pariser Kripo gewann ein solches Eigenleben, dass das Erzählwerk seines literarischen Schöpfers schon frühzeitig in zwei Kategorien aufgeteilt wurde - die "Maigrets" und die "Non-Maigrets". Eines ist sicher: Mit diesen "Maigret"-Romanen hat Georges Simenon gleich zwei bemerkenswerte Dinge geschafft. Er hat die Kriminalliteratur auf einen neuen Weg gebracht, und er hat einen Detektiv-Klassiker ganz eigenen Typs kreiert - einen der unbestrittenen "Großen Drei" des Metiers, neben Sherlock Holmes und Philipp Marlowe.

Titelbild

Georges Simenon: Maigret und das Dienstmädchen. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober.
Diogenes Verlag, Zürich 2003.
166 Seiten, 6,90 EUR.
ISBN-10: 325786096X

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