Die Kunst zu lügen

Ljudmila Ulitzkaja erzählt von Frauen, die ihre Schicksale selbst erschaffen

Von Evelin UrbanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelin Urban

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Shenja ist jung, Shenja ist intelligent, Shenja ist Mutter eines kleinen Jungen und kann es nicht fassen, dass sie von ihrer neuen Freundin auf so grausame Art und Weise belogen wurde!

"Sie lag im Dunkeln und untersuchte ihre seelische Wunde. Es war eine zweifache Wunde. Vom sinnlos verausgabten Mitgefühl mit den nicht existenten, genial erfundenen und unmenschlich getöteten Kindern, besonders mit Diana. Das schmerzte wie ein amputiertes Bein - etwas, das nicht mehr da war.[...]Der zweite Schmerz rührte daher, dass sie sich fühlte wie ein dummes Kaninchen, das einem sinnlosen Experiment unterzogen worden war." Voller Scham und Selbstmitleid flieht Shenja an einen anderen Ort, um ihren emotionalen Schmerz zu besänftigen. Doch auch später wird sie ständig Opfer neuer, erfundener Lügengeschichten von Frauen jeden Alters, fällt jedes Mal gutgläubig darauf herein. Und was lassen sich diese nicht alles einfallen! Ufos, verheiratete Liebhaber, reiche Verlobte... Den Höhepunkt des "Belogen-Werdens" erreicht die bereits gereifte Protagonistin beruflich, als sie eine Fernsehdokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz drehen soll: Alle erzählen ihr die gleiche Geschichte: "Der Kapitänspapa, der Stiefvater, der sie vergewaltigt hatte, der Bräutigam...". "Wahrscheinlich haben sie alle dasselbe Buch gelesen oder einen Film gesehen, der sie beeindruckt hat."

Mit der Zeit lernt Shenja die Geschichten, die sie hört, besser einzuschätzen, und lässt die Schwindeleien nicht mehr lange auf sich wirken. Doch was veranlasst die Frauen, sich solche Lügen auszudenken? Wieso braucht die eine vier tote Kinder, die andere einen verunglückten Bräutigam? Ist das Lügen eine neue Kunstform, der sich die russischen Frauen widmen?

Die 1943 in Sibirien geborene Schriftstellerin Ulitzkaja lebt und veröffentlicht seit Jahren in Moskau. Ihre Romane und Erzählungen wurden bereits in siebzehn Sprachen übersetzt. In Deutschland wurde sie 1997 zum ersten Mal mit ihrer durch den Prix Médicis ausgezeichneten Erzählung "Sonetschka" bekannt, der im jährlichen Abstand die Romane "Medea und ihre Kinder", "Das fröhliche Begräbnis", "Die Reise in den siebenten Himmel" (2001 - Booker Prize) sowie die Erzählbände "Zarte und grausame Mädchen" und "Olgas Haus" folgten.

Ulitzkajas Geschichten handeln von Menschen, meistens Frauen, die sich ihren Schicksalen fügen - in der Erkenntnis, dass jede Begebenheit im Leben ihren eigenen speziellen Sinn hat. Im Vordergrund steht die russische Gesellschaft mit den gegebenen Abhängigkeiten von Staat, Freunden, Familie. Ihre Heldinnen sind meist Außenseiterinnen, die durch Schicksalsschläge dazu gemacht wurden und eine Zeit lang versuchen, dagegen anzukämpfen. Der Leser verfolgt die Handlung aus einer von der Schriftstellerin gekonnt kreierten Distanz, die ihm erlaubt, sich selbst sein Urteil zu bilden. Keine Identifizierungsmöglichkeiten mit der Hauptperson, keine vorgefertigten Urteile, immer ein Stück Ironie und leichter Humor - das sind die typischen Merkmale für ihren Erzählstil, für den sie von der Kritik oft gelobt wird.

In ihrem neuen Roman versucht die Biologin und Genetikerin mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit Ursache und Wirkung weiblichen Lügens zu erkunden. Die darin beschriebenen Lügengeschichten hat die Autorin, eigenen Angaben zufolge, über Jahre gesammelt, mit der Absicht, sie in einen Erzählband zu verwandeln. Selbst gibt sie zu, in vielen Fällen die Zuhörerin gewesen zu sein (Spiegel-Gespräch 41/03, S.162). Im Vorwort zu der russischen Originalausgabe (2002), das der deutschen Übersetzung leider fehlt, beschreibt Ulitzkaja den Unterschied zwischen männlichen Lügen, die ein konstruktives, eigennütziges Ziel verfolgen, und den weiblichen Lügen, die eher vom Gefühl gesteuert seien.

Das Geschehen, das sich um Shenja abspielt, wird in sechs unabhängigen Erzählungen, zwischen denen meist Jahre vergehen, geschildert. Jede beinhaltet eine neue Episode und eine neue Lüge auf ihrem Lebensweg. Doch nicht die Romanheldin erzählt hier von ihrem Schicksal, sondern ein Erzähler, der Shenjas eigene Geschichte zunächst im Hintergrund belässt. Nach und nach erfährt der Leser von ihrem Werdegang und ihren privaten Misserfolgen. Shenja, die von morgens bis abends nach Perfektion strebt und alle Aufgaben gemäß ihrem "Erledigungs-Plan" meistert, hat schließlich einen schweren Autounfall und wird gelähmt. Gefangen in ihrem "leblosen" Körper verliert das Leben für sie an Sinn, und sie denkt an Selbstmord.

Erinnert man jetzt an die Lügen der Frauen - Frauen, die angesichts der heruntergekommenen Wirklichkeit im Handlungsort Russland wie gelähmt erscheinen -, bekommt man die Antwort auf die Frage: Ist es eine Kunst zu lügen? Das vielleicht nicht. Auf jeden Fall ist es eine "Kunst zu leben" für jemanden, der in seinem bitteren Schicksal gefangen ist. Die Lügen, die beim Leser jedes Mal zumindest ein Schmunzeln bewirken, da sie so leicht durchschaubar, beinahe kindlich und doch dramatisch wirken, verfolgen keinen tieferen Sinn und Zweck. Die Lügen sind eine Form von Freiheit und Unbefangenheit, und auch wenn sie nichts verändern, scheinen sie den Frauen im Roman das Leben mindestens zu erleichtern. Aber auch die ehrliche Shenja findet ihren Weg...

Man gewinnt der amüsanten und unterhaltsamen Lektüre viel Lebenssinn ab. Den eigentlich schweren Ernst der Handlung leicht und spannend zu gestalten ist eine Kunst, die Ulitzkaja meisterhaft beherrscht.

Titelbild

Ljudmila Ulitzkaja: Die Lügen der Frauen.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
165 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3446203605

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