Geschichten vom Mittelpunkt Europas

Bernhard Setzweins Roman "Die grüne Jungfer"

Von Walter FantaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Fanta

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Mittelpunkt dieses prächtigen neuen bayerisch-böhmischen Heimatromans steht ,der Mittelpunkt'. Die Topographie ist hier Topos im doppelten Sinn. Auf drei Zeitebenen entfaltet sich die Suche nach dem Mittelpunkt Europas. Im Jahre 1865 trifft eine Gruppe von Geodäten - Erdvermessern - am Hirschkogel nahe dem böhmischen Ort Hlavanice, unweit der böhmisch-bayerischen Grenze ein, um auf diesem Hügel mit einer eingesetzten Granitstele den Mittelpunkt Europas zu kennzeichnen. Im Herbst 1938 wird der Schlossherr Petr Graf Hlavácek von deutschen Annexionstruppen von seinem Schloss vertrieben, was einen gewaltsamen Verlust der Mitte - nämlich zwischen den Bevölkerungsgruppen - zum Ausdruck bringt. An einem Tag nach der tschechischen Wende 1989/90 schließlich soll die verlorene Mitte wieder hergestellt werden, unter anderem durch den Besuch des Unternehmers Zacharias Multerer aus dem benachbarten bayerischen Städtchen Wutzelshofen in Hlavanice; er möchte das verfallene Schloss kaufen, um es zu einer Hühnerfarm mit einer Million Legebatterien umzubauen. Für topographische Stabilität längs der politischen und sozialen Wendeereignisse sorgt die "Grüne Jungfer", das schäbige Wirtshaus am Marktplatz von Hlavanice; das ist die eigentliche Mitte des Geschehens in dem Roman, das zum Großteil - unterbrochen nur von den beiden Rückblenden nach 1865 und 1938 - an diesem gewissen einen Tag nicht allzu lang nach der Wende 1989/90 abrollt.

Das Lesevergnügen stellt sich als Folge der komischen, manchmal grotesken Situationen ein, die der Roman in einem fort entwirft. Die Erzählung verzichtet auf Spannungsbögen im herkömmlichen Sinn, obwohl es an Konfrontationen und Konflikten, die auf einen spannenden Ausgang hinzulaufen scheinen, nicht fehlt. Konflikte zwischen dem protzigen Bayern und den Tschechen, die fürchten müssen, wieder von den Deutschen kolonisiert zu werden. Das Drama der jüngsten tschechischen Vergangenheit, die Befreiung vom Kommunismus, die Konfrontation zwischen den Befreiten und den ehemaligen Unterdrückern. Das große Debakel der Geschichte, der deutsche Einmarsch ins Sudetenland 1938 und die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945 - und die schwierige Aufarbeitung. Das alles liegt den Situationen dieses Romans zugrunde. Aber der Showdown, die große Abrechnung, der gerechte Urteilsspruch der Geschichte, die Entladung, sie kündigen sich zwar an, bleiben dann im Finale aber überraschend aus und werden im allgemeinen Besäufnis aller und einem ersatzweise niedergehenden Wolkenbruch weggespült. Die Erzählweise Setzweins löst die dramatischen Konflikte im Schwank und in der Groteske auf. Nach dem Muster des braven Soldaten Schwejk und der Prosa Hrabals. Geschrieben auf Deutsch und von einem Deutschen, imitiert das Buch eine tschechische Erzähltradition. Wie wohl das tschechische Lesepublikum eine Übersetzung aufnehmen würde? Wie würde es sich in diesem Blick über die Grenze wieder erkennen?

Eine Stärke des Romans liegt in der satirischen Figurenzeichnung. Mosaikartig setzen sich Einzelstriche zu Miniporträts zusammen und Stück für Stück enthüllte Situationen aus der Vergangenheit fügen sich zu Biographien mehr oder weniger fragwürdiger Helden. Am ehesten außer Streit stehen die Qualitäten des Schlossherrn Petr Graf Hlavacek, dessen weltfremde Naivität nach seiner Vertreibung durch die Nazis bemerkenswert produktiv zu werden beginnt. Die Figur des Dissidenten Vancura scheint für die Rolle des Helden der Geschichte designiert zu sein; sein Sarkasmus und vor allem seine resignative Untätigkeit lassen es aber nicht zu, dass sich das Opfer der Unterdrückung und Bespitzelung zum Wortführer der neuen gewendeten Zeit in dem tschechischen Ort aufschwingt. Mit seinem Gegenspieler Lovec, dem Nachbarn und Spitzel, der jahrzehntelang seine Berichte über die verbannten und verstummten Schriftsteller abgeliefert hat, bildet Vancura ein merkwürdig unzertrennliches Paar. Neben Lovec bevölkert das Geschehen noch eine Reihe weiterer Silhouetten der Diktatur, wie der alte Koloušek, den die Geister der Vertriebenen quälen, und der kommunistische Altbürgermeister Urbánek, gegen den der tollpatschige junge Neu-Bürgermeister Mucha nur ungern antritt.

Es handelt sich bei all dem um eine Annäherung an die jenseits der nun offenen Grenze liegende Terra inkognita 1945-1989 vom Diesseits her. Wie authentisch die beschriebenen Situationen und Biografien sind, würden wir wissen, wenn das auf Deutsch vorgestellte Tschechisch der Bewohner von Hlavanice ins echte Tschechische übersetzt wäre und tschechische Leser und Kritiker ihr Attest abgegeben hätten. Solange dieses nicht vorliegt, bleibt ein leiser Zweifel daran bestehen, ob ein Deutscher die Stimmen aus Hlavanice denn richtig hören und wiedergeben kann.

Titelbild

Bernhard Setzwein: Die grüne Jungfer. Roman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2003.
281 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3852184266

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