Zurück in die Zukunft

In seinem Debüt-Roman "Die 27. Stadt" skizzierte Jonathan Franzen bereits Ende der 80er Jahre das "Neue Amerika"

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die 27. Stadt" hatte bei der deutschen Kritik einen schweren Stand. Immer wieder verglich man den Erstling mit Franzens späterem Bestseller "Die Korrekturen" und es ist fraglich, ob das Buch jemals auf Deutsch erschienen wäre, umflorte ihn nicht der Name seines Autors. Als positiv wurde ausschließlich empfunden, was dem populären Bild Franzens entsprach. Wiederholt stellte man fest, "Die 27. Stadt" sei im Grunde ein Familienroman, der schon auf "Die Korrekturen" vorausweise. Beklagt wurde hingegen die geradezu absurd anmutende Handlung, die nicht zu der gewählten Form der "great american novel" zu passen schien: Dass eine amerikanische Stadt wie St. Louis - zur Entstehungszeit des Buchs im "national ranking" der Großstädte weit abgeschlagen auf dem 27. Platz - die Inderin S. Jammu als Polizeichefin engagiert, um aus der Krise zu kommen, erschien einfach nur abwegig.

Geradezu obsessiv stürzt sich Jammu auf die Zerstörung der unbescholtenen gut-amerikanischen Familie Probst. Es geht ihr darum, Martin Probsts Unterschrift und Unterstützung für ihr Projekt zur Wiederbelebung der Innenstadt zu bekommen. Probst ist die Seele der Stadt und Erbauer des "Gateway Arch", einem kalten Triumphbogen mitten in St. Louis - einem Sinnbild gescheiterter Aufbruchsversuche. Tatsächlich ist Franzens Grundton Melancholie angesichts des Niedergangs der Familie und des Verlusts von Geborgenheit.

Dennoch ist das Thema der "27. Stadt" vor allem das "neue Amerika". Für Franzen ein Amerika, das "mit einer Reife, die auf bitterer Erfahrung beruhte", weiß, "dass gewisse Kämpfe nicht den glücklichen Ausgang nahmen, den man einst erträumt hatte." Gleichwohl seien die Vereinigten Staaten dazu verurteilt, "ewig fortzubestehen" und "in immer neuer metamorphotischer Gestalt alle Lösungsversuche zu vereiteln". Eine neue Generation von Amerikanern hätte "der Welt abgeschworen", um "im Gegenzug Einfachheit und Selbstgenügsamkeit" zu erlangen. "Es winkte das Nirwana." Dass Jammu ausgerechnet aus Indien kommt, dürfte indes kein Zufall sein. In die Entstehungszeit des Romans fällt schließlich auch Indiens ökonomischer Aufschwung vor allem im Bereich neuer Computertechnologien. Doch dieser Aufstieg hatte seine Schattenseiten: dubiose Machenschaften und Brutalitäten, wie etwa die Vertreibung unliebsamer Bewohner aus ihren Wohnungen, um Platz für neue Geschäfte zu machen. Einen städtebaulich motivierten Terror inszeniert Jammu nun auch in St. Louis. Kaum im Amt, beginnt eine Serie von Terroranschlägen und konspirativen Machenschaften.

Die Stoßrichtung von Franzens Kritik scheint zu sein: ein solcher Modernismus, wie er durch das aufstrebende Indien repräsentiert wird, führt - übertragen auf amerikanische Verhältnisse - unweigerlich zur Zerstörung der schützenden Familie, er ist in einem hohen Maß inkompatibel mit den ,american family values'. Die politische Lektion lautet: der ökonomische Erfolgsdruck befördert den Willen, sich drastischerer Mittel zu bedienen, die nur das Leid verschlimmern, aber nichts bringen. Interessant erscheint höchstens, dass Jammu durch Bombenanschläge einen permanenten Ausnahmezustand herbeiführt und letztlich die Geister, die sie ruft, nicht mehr los wird. Das Chaos entwickelt eine nicht mehr steuerbare Eigendynamik. Doch letztlich bleibt die Verschwörung von St. Louis "substanzlos". Franzen listet die Gründe selbst auf: "Der ausgeklügelte Bombenanschlag auf das Stadion, der gesamte damit verbundene Aufwand ergaben keinen erkennbaren Sinn....St. Louis fehlte die international-strategische Bedeutung, um für das Reich des Bösen eine verlockende Zielscheibe abzugeben [...] Das Rätsel blieb ungelöst: warum St. Louis?[...] Konnte das Geld (dieses Edelgas) Gegenstand der Bio-Logik dieser Zeit und dieses Zeitalters sein?"

Womit wir es hier also zu tun haben, ist linke Mainstream-Kritik an konservativen Politikern der Reagan-Ära, welche die indischen Methoden den USA anempfehlen. Die Entwicklung hin zu einer solchen Politik - wie sie uns nach dem 11. September 2001 immer stärker begegnet - wird hier nicht als eine Zwangsläufigkeit des kapitalistischen Systems, sondern als Opportunismus beschrieben. Problematisch erscheint auch Franzens Umgang mit dem "Anderen". "Indian" meint hier den ausgerotteten Indianer ebenso wie den brutal-modernisierenden Inder. Die Metapher weist also ambivalent in Richtung einer neuen Archaik und Brutalität.

Titelbild

Jonathan Franzen: Die 27ste Stadt. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Heinz Müller.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
704 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498020870

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