Die subjektivierte Wirklichkeit

Olaf Schwarz über Wahrnehmungskonzepte in Literatur und Psychologie um 1900

Von Kathrin FehlbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Fehlberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet." Dieser Satz von Hermann Bahr, den Olaf Schwarz als Motto für seine Arbeit "Das Wirkliche und das Wahre. Probleme der Wahrnehmung in Literatur und Psychologie um 1900" gewählt hat, stellt nicht nur die Verbindung zu den exemplarischen Texten her, die im Hauptteil der Arbeit analysiert werden und überwiegend von Autoren der Wiener Moderne stammen, er führt unmittelbar ins Zentrum des eigentlichen Untersuchungsgebietes. Die von Bahr postulierte Begründung der 'Wahrheit' aus der 'Empfindung', welche nur als je subjektive gedacht werden könne, steht im Zusammenhang mit wahrnehmungs- bzw. erkenntnistheoretischen Überlegungen, die nicht nur in der Literatur um 1900, sondern auch in wissenschaftlichen Diskursen ihre Spuren hinterlassen haben.

Dass es sich dabei um signifikante, ja paradigmatische Änderungen in den bisherigen Auffassungen zur Funktionsweise der menschlichen Psyche und damit der Wahrnehmung handelt, macht Schwarz' Darstellung der Entwicklungen von Psychologie und Psychiatrie im 19. Jahrhundert deutlich. So vollzieht er deren Weg zu streng empirisch-begründeten Wissenschaften mit naturwissenschaftlich-materialistischer Ausrichtung nach, die an die Stelle des bisherigen naturphilosophisch-idealistischen Denkens tritt und beide Diskurse als eigenständige etabliert. Auf dieser positivistischen Basis gründen entsprechende Lehren, für die stellvertretend die Psychophysik Fechners sowie die Neurophysiologie Griesingers zu nennen sind. Letztere nimmt die anatomische und physiologische Veränderungen des Gehirns als Ursache für pathologische Veränderungen der Psyche an. Beide können als die zwei bestimmenden Paradigmen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesehen werden.

Um 1900 dagegen setzen sich verstärkt gegenläufige Tendenzen durch. Sie üben fundamentale Kritik am nahezu ausschließlich physiologisch-naturwissenschaftlichen Zugang zu den Vorgängen der Psyche, der sich immer klarer als ein unzureichender methodischer Ansatz zu erkennen gibt. Der eher isolierenden Betrachtungsweise, welche sich vorwiegend auf kleinere, empirisch detailliert nachweisbare Ausschnitte beschränkt, wird um 1900 ein ganzheitliches Denken entgegengestellt, das integrative, synthesebildende und Zusammenhang stiftende Ansätze verfolgt.

So rücken Psychologie und Psychiatrie wieder enger zusammen, beide Diskurse durchdringen einander stärker, psychische Faktoren werden auch von der Psychiatrie zunehmend berücksichtigt und der Blickwinkel generell erweitert, etwa auf die individuelle Krankengeschichte hin. Damit aber - und das ist entscheidend - geraten auch die Grenzen zwischen ,Normalität' und ,Abweichung' in Bewegung. Wo sich die Psychiatrie vermehrt auf Erkenntnisse der Psychologie beruft und eine grundsätzlich ähnliche Wirkungsweise der jeweils zu Grunde liegenden Prozesse annimmt, wo die Relevanz individueller Faktoren für eine adäquate Beurteilung psychischen (Er-)Lebens betont wird, da nähern sich auch die bisher streng voneinander abgesetzten Bereiche von ,Gesundheit' und ,Krankheit' mehr und mehr einander an. Die Grenzen werden fließend und die Vorstellung einer klaren Trennung weicht der sukzessiver Übergänge. Welche Implikationen und weit reichende Konsequenzen dies hat, wird besonders am Beispiel der Wahrnehmung deutlich, die Schwarz als Bezugspunkt zentral setzt.

Denn was zusätzlich zur Unterscheidung zwischen ,normaler' und ,abweichender' Wahrnehmung zur Disposition steht, ist nichts Geringeres als die grundsätzliche Möglichkeit von Erkenntnis bzw. die Frage nach der Existenz einer subjektunabhängigen äußeren Wirklichkeit. Wird dem subjektiven Bewusstsein eine wichtige Funktion innerhalb des Wahrnehmungsprozesses zugesprochen, insofern es diesen etwa in Form von Selektionsmechanismen, Erwartungshaltungen oder individuellen Ergänzungen der Sinneseindrücke beeinflusst - ohne damit gleich unter Pathologieverdacht zu geraten! -, dann zeigt sich Wahrnehmung eher als subjektiv-psychische Konstruktion denn als Spiegelung eines objektiv Gegebenen. Deklarierten also frühere Konzepte Wahrnehmung dort als ,abweichend', wo die ,objektive' Wirklichkeit nicht als solche erkannt wurde, ist nunmehr überhaupt infrage gestellt, ob eine ,ungebrochene' Wahrnehmung der Wirklichkeit tatsächlich möglich ist. Von hier aus wäre es dann schließlich nur noch ein Schritt zur generellen Infragestellung der Existenz einer so verstandenen ,Wirklichkeit'. Dieser Schritt jedoch wurde von den Wissenschaften nicht vollzogen; die Annahme einer subjektinvarianten Wirklichkeit blieb weiterhin unumstößliche Setzung. Einzig der Philosoph und Naturwissenschaftler Ernst Mach brach in seiner empiriokritizistischen Theorie mit diesem Dogma. Und nicht zufällig ist es seine Philosophie gewesen, die in so umfassendem Maße ihre Wirkung auf die Literatur der Jahrhundertwende ausübte.

Denn hier, im Bereich der Literatur, spielten neuartige Modelle der Wahrnehmung ebenfalls eine wichtige Rolle und wurden mit der größeren Freiheit, die dieses Medium gewährt, literarisch erprobt. So wird in ihr nicht nur die Wahrnehmung als eine nahezu ausschließlich vom Bewusstsein des Subjekts bestimmte psychische Leistung dargestellt, sondern auch die Geltung der Kategorien ,Wirklichkeit' und ,Wahrheit' neu verhandelt. Versteht man die Wirklichkeit - ganz im Sinne der Mach'schen Erkenntnistheorie - als an den Akt und die Funktionsweise der subjektiven Wahrnehmung gebunden, so dass sie letztlich als Konstruktion, ja ganz als Hervorbringung der Psyche angesehen werden muss, kann auch 'Wahrheit' nur mehr in dieser subjektivierten Form vorliegen. Wirklichkeit und Wahrheit - beide unterliegen in dieser Konzeption einzig der psychischen Disposition des wahrnehmenden Subjekts und sind insofern - gemäß des Bahr'schen Ausdrucks - "Wahrheit, wie jeder sie empfindet."

Wie nun konkret eine derartige Setzung literarisch vermittelt wird und welche Implikationen damit verbunden sind, untersucht Olaf Schwarz anhand fiktionaler Erzähltexte von Autoren der Wiener Moderne - Richard Beer-Hofmann, Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian. Die Wahrnehmungshaltung ihrer Protagonisten - durchweg Ästheten und Décadents - ist ebenso bestimmend wie charakteristisch für ihr Verhältnis zur Außenwelt. Denn was sie wahrnehmen, ist eine in höchstem Maße subjektivierte Wirklichkeit; die Außenwelt erscheint darin lediglich als reizauslösendes Element bzw. Material, das mit Hilfe innerpsychischer Transformationen dem eigenen Weltbild einverleibt wird oder dem wahrnehmenden Subjekt als Projektionsfläche seiner psychischen Verfassung dient. Der Leser erfährt diese Form der Wahrnehmung auf subtile, dabei jedoch höchst wirkungsvolle Weise, indem er gewissermaßen nicht nur von außen beobachtender Zeuge ist, sondern in eben jene Perspektive versetzt wird, die auch die Figuren innehaben. Insbesondere der "Tod Georgs" von Beer-Hofmann ist für eine solche erzählerische Wirkungsübertragung beispielhaft, wie Schwarz überzeugend darlegen kann. So vermittelt sich hier die Sichtweise der solipsistischen Existenz, die sich ihre eigene Wirklichkeit mit Hilfe des erschaffenden bzw. umschaffenden Blickes konstruiert, über eine fast ausschließlich personale Erzählweise, die den innerpsychischen Vorgängen eine klare Dominanz über etwaige äußerliche einräumt und das Erzählen selbst als subjektivistische Wirklichkeitsanverwandlung inszeniert.

Dementsprechend gibt es für den Leser so wenig objektive Differenzkriterien wie für die Protagonisten. Eine Realität ist durch den alleinigen Blick der wahrnehmenden Person nur noch in subjektivierter Form vorhanden und überindividuell gültige Maßstäbe in diesem Mikrokosmos also nicht mehr auszumachen. In diesem Sinne ist ihr Verhältnis zur äußeren Realität als eine radikale Abkehr, eine umfassende Rückzugsbewegung nach innen, in ein artifizielles Refugium der Schönheit zu verstehen.

Dass diese Lebensform mit ihrem Abschluss gegen die äußere Realität jedoch eine zutiefst gefährdete ist, wird in allen Texten deutlich. Das zeigt sich beim zunächst harmlos scheinenden Ineinanderfließen von Traum und Realität, die sich objektiv nicht mehr voneinander trennen lassen, da beide Zustände gleichermaßen psychische Leistungen des Subjekts sind. Diese Unfähigkeit zur Unterscheidung jedoch, die Parallelen zu psychopathologischen Phänomenen aufweist, kann zu geradezu alptraumhaften Szenarien auswachsen, in denen gewissermaßen die verdrängte Wirklichkeit wiederkehrt und zerstörerisch in die nur allzu fragile Kunstwelt eindringt. Vollends wird das Lebenskonzept des Ästhetizismus von den Texten als letztlich nicht lebbares verworfen, indem ihre Vertreter darin zu Tode kommen, wie etwa in Hofmannsthals "Märchen der 672. Nacht" drastisch geschildert.

Die Art und Weise, in der die geschilderten Figuren Wirklichkeit wahrnehmen, spiegelt einen wahrnehmungstheoretischen Sachverhalt wider, der in den psychologischen und psychiatrischen Überlegungen am Ende des 19. Jahrhunderts schon angelegt, jedoch von ihnen nicht gänzlich zu Ende gedacht worden war. Ähnliches gilt für die Literatur des Späten Realismus, wie Schwarz in einem Rückgriff auf Jensens "Gradiva" und Raabes "Deutscher Mondschein" zeigt. Bereits hier ist die spezifische Wahrnehmung der Protagonisten eine Projektion ihrer Befindlichkeit; auch hier stehen sich Kunst und Realität in Form zweier Lebensbereiche gegenüber. Anders jedoch als in den späteren Texten gibt es noch eine klare Bewertung ,abweichender' Wahrnehmung, die als pathologisch (ab-)qualifiziert wird. Dahinter steht - so Schwarz - die weiterhin gültige Annahme einer subjektinvarianten und damit objektiv erfahrbaren Wirklichkeit sowie das bürgerlich-realistische Werte- und Normsystem, das als Maßstab für die Unterscheidung zwischen ,normal' und ,abweichend' bzw. ,gesund' und ,krank' dient und psychische Gesundheit mit ,normaler' Wahrnehmung in eins setzt.

Dass sich dennoch auch in diesen Texten schon Brüche innerhalb des Systems andeuten, indem die als pathologisch klassifizierten Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen als das Resultat einer verabsolutierten Anpassung gezeigt werden, die bestimmte individuelle Anteile der Person als sozial nicht kompatibel ausschließt bzw. unterdrückt, macht die beiden Erzählungen zu Schwellentexten. Denn die Spannung zwischen diesen Polen, zwischen individuellem Selbstverwirklichungsanspruch und gesellschaftlichen Normvorgaben, die in den Texten des Späten Realismus noch in Kompromisslösungen zugunsten bürgerlicher Werte endet, spitzt sich dann im Kontext der Frühen Moderne zu Reaktionsformen zu, die sich als signifikante Änderungen im Bezug zur äußeren Realität, wenn nicht als radikale Abwehrbewegungen ihr gegenüber interpretieren lassen.

Literarisch gestaltet haben sie unter anderem die genannten Autoren des Jungen Wien. Epistemologisch formuliert wurden sie von Ernst Mach. Seine Theoreme gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit als eine rein subjektiv-psychische Konstruktionsleistung zu betrachten bzw. die Welt überhaupt nur als subjektive zu denken ist, also im Sinne einer "Wahrheit, wie jeder sie empfindet". Damit sind die wahrnehmungstheoretischen Ansätze der psychologischen, psychiatrischen und philosophischen Diskurse des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wie sie vorher beschrieben wurden, laut Schwarz konsequent zu Ende gedacht. Eine derartige Welt jedoch, in der alles je nach Betrachterstandpunkt variiert oder seine subjektiv empfundene Wahrheit hat, verfügt in allen Bereichen nur noch über relative Größen. Das betrifft nicht nur die Unterscheidung zwischen ,normaler' und ,abweichender' Wahrnehmung, zwischen ,gesund' und ,krank', sondern generell das gesamte Bezugssystem von Mensch und Welt: die Vorstellungen von Wirklichkeit und Wahrheit ebenso wie gesellschaftlich relevante überindividuelle Wert- und Normvorgaben. In diesem Sinne spiegeln sowohl die in den wissenschaftlichen als auch im Bereich der Literatur um 1900 vorherrschenden Diskurse Entwicklungen wider, die von der Orientierungssuche des modernen Subjekts, seiner krisenhaften Identität und einem tief greifenden Wandel seines Selbstverständnisses zeugen.

Olaf Schwarz rekonstruiert in seiner Arbeit die Genese der um 1900 in Wissenschaft und Literatur verhandelten Modelle zur menschlichen Wahrnehmung im Sinne eines denkgeschichtliches Problemfeldes, dessen Wirkung über die Einzeldiskurse hinausreicht und sich so als Teil des kulturellen Wissens dieser Epoche ausweist. Die umfassende Betrachtung und Auswertung der Entwicklungen auf den Gebieten von Psychologie und Psychiatrie sind nicht nur für speziell an diesen Bereichen Interessierte überaus aufschlussreich und zum Teil ausnehmend spannend zu lesen, sie liefern auch die Basis für ein tiefer gehendes Verständnis der späteren Modelle und der denkgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen sie stehen. Insbesondere die genuin philosophische Dimension der Wahrnehmungskonzepte, die epistemologische Fragen ebenso beinhaltet wie normative, ist dabei interessant und wird von Schwarz anhand erkenntnistheoretischer Positionen der zeitgenössischen Philosophie reflektiert. Dergestalt ergibt sich ein detailliertes und gleichzeitig raumgreifendes Bild des um 1900 diskursivierten Wissens zum Problembereich der Wahrnehmung.

Inwiefern auch die Literatur an diesem Prozess teilhat, und welche Verbindungen zwischen den Formen der Figurenwahrnehmung, der für die Texte der Jahrhundertwende zentralen Identitätsproblematik und den psychologisch-psychiatrischen Diskursen der Zeit besteht, erweist Schwarz' überzeugende Analyse exemplarischer Texte der Wiener Moderne. Wie sich der explizite Rückgriff auf historisch Vorgängiges schon bei der Betrachtung der psychologischen und psychiatrischen Positionen als äußerst ergiebig erwiesen hatte, schafft entsprechend in diesem Teil der Arbeit die Bezugnahme auf spätrealistische Texte die notwendigen Voraussetzungen dafür, Entwicklungslinien, Kontinuitäten und Modifikationen nachzuvollziehen, die sich hinsichtlich literarischer Wahrnehmungskonzepte und ihrer Implikationen beobachten lassen. So kann Schwarz gewinnbringend die literarische Produktion um 1900 mit den wahrnehmungstheoretischen Entwürfen der Epoche in Beziehung setzen. Damit stellt die vorliegende Arbeit über ihre literaturwissenschaftliche Relevanz hinaus einen wichtigen wissenschaftshistorischen Beitrag dar, der unter besonderer Berücksichtigung von Psychologie und Psychiatrie die komplexen Beziehungen zwischen Literatur, Philosophie, Wissenschaft und dem zeitgenössischen Denken um 1900 erhellt.

Titelbild

Olaf Schwarz: Das Wirkliche und das Wahre. Probleme der Wahrnehmung in Literatur und Psychologie um 1900.
Verlag Ludwig, Kiel 2001.
416 Seiten, 30,20 EUR.
ISBN-10: 3933598346

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