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Rudolf Hirschs "Aus einer verlorenen Welt" - die Lebensgeschichte eines Juden und Kommunisten im 20. Jahrhundert

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst auf Drängen der Leser begann der ehemalige Prozessberichterstatter Rudolf Hirsch im hohen Alter von 89 Jahren die Geschichte seines eigenen Lebens auf Papier zu bringen. Er hatte sich lange davor gedrückt, so dass der Tod den Schriftsteller letztendlich noch vor Vollendung seiner Memoiren dem Diktat der Worte entzog.

Das bis dahin entstandene erste und zweite Buch mit seinen in spartanische Worte gehüllten Unterkapiteln bieten aber dennoch eine Übersicht über die verschiedenen Lebensabschnitte des jüdischen Remigranten von den unbeschwerten Kindheitstagen im Arme des holländischen Kindermädchens Nelly, der Boykottierung seines Schuhgeschäftes nach Machtergreifung der Nationalsozialisten, den darauf folgenden zahlreichen Emigrationen bis hin zu seiner Rückkehr nach Deutschland Ende Oktober 1949.

Von Freidenkern 1907 geboren, wuchs Rudolf Hirsch als Sohn "aus einer wohlbehüteten, wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie" in dem kleinen, am Niederrhein gelegenen Ort Krefeld auf.

Der latent in der Bevölkerung vorhandene Antisemitismus ließ den Autoren bis zum Besuch der Oberrealschule während des Ersten Weltkriegs noch unberührt. Hirsch und seine Familie fühlten sich als Patrioten, nicht minder kaisertreu als die anderen Deutschen. Auch er glaubte - wie er dem Leser versichert - an die 1918 grassierende Dolchstoßlegende, bis plötzlich die Juden neben den Novemberverbrechern als angebliche "Vaterlandsverräter" der Mittäterschaft bezichtigt wurden. Womöglich war es diese Begebenheit, die Hirschs kritischen Augen den Blick öffnete.

Um das Schuhgeschäft des Vaters zu übernehmen, begann Hirsch Ende der 20er Jahre eine Lehre in einer Schuhfabrik im westfälischen Hagen. Längst schon hatte sich der Nationalsozialismus mit der Zeitschrift "Eisenhammer" Raum geschaffen, der sich bis 1933 jedoch noch ins Außergewöhnliche ausweiten sollte. Es machte auch vor der Tür des unlängst zum Schuhgeschäftsleiter empor gesprossenen Hirschs keinen Halt. Ihn, der neben seiner jüdischen Herkunft noch durch seinen Beitritt in die kommunistische Partei den willkürlichen Herrschern die freie Stirn provokativ darbot, brachten sie durch Boykottierung um das rühmliche Krefelder Familiengeschäft und zwangen ihn zu unverzüglicher Ausreise.

Erster Halt: Amsterdam. Die politische Couleur des deutschen Juden gefiel den Holländern nicht, sie schoben den Flüchtling nach Belgien ab. Sein illegaler Aufenthalt hatte "acht Tage hinter belgischen festen Gardinen" zu Folge, bevor die Kripo ihm den Weg in das französische Nachbarland wies. Von Allen ungewollt, kehrte der Abgeschobene 1934 für drei Jahre noch einmal zurück nach Deutschland. Hirschs Anwalt hatte sich für ihn "bei der Gestapo erkundigt, sie sagten, ja, sie hätten diesen Hirsch liebend gern 1933 verhaftet, wenn sie seiner habhaft geworden wären, aber jetzt sei die Sache so, er könne doch zurückkommen."

1937 dann beantragte der gelernte Schuhverkäufer einen Pass zur Ausreise nach Palästina, der ihm umgehend ausgestellt wurde, "denn nach der Naziideologie gehörten Juden grundsätzlich dorthin."

In Deutschland häufte sich ein staatlich legitimiertes Gewaltverbrechen auf das andere - Reichskristallnacht und Zwangsdeportationen in Konzentrationslager. Auch die Mutter, berichtet der Erzähler, transportierten die Nationalsozialisten nach Auschwitz. Die tröstend gemeinten Zeilen einer Freundin, der Mutter "Tod [...], dessen sie wahrscheinlich kaum oder nur im letzten Moment gewahr wurde, war noch der beste, den wir ihr unter diesen Umständen wünschen konnten", vermochten die jahrzehntelangen Selbstanklagen des Hinterbliebenen nicht zu schmälern, die durch die Einflechtung des mehrseitigen Kondolenz-Briefes und das offene Reflektieren die bis in die Ruhelosigkeit gesteigerte Verlust-Intensität auf den Rezipienten überspringen lässt.

In Palästina kämpfte Hirsch in kleinem Kreis gegen den Faschismus in Deutschland an. Sie "waren entschlossen, nach dem Krieg in die Heimat zurückzukehren, um für ein besseres Deutschland zu wirken." Die Tagungen der Gruppe hielt man geheim - "bei dem Nationalismus, der in Palästina und später auch im Staate Israel herrschte, wäre schon die Absicht einer Rückkehr von deutschen Juden nach Deutschland als Vaterlandsverrat betrachtet worden", erläutert der Schriftsteller. Ebenso die tätlichen Übergriffe von rechtsradikalen Zionisten auf Arnold Zweig - nach einer auf Deutsch gehaltenen Rede gegen den Faschismus - sowie die nicht minder gewaltlos verlaufene Neugründung des Staates Israel enthalten in Hirschs Autobiographie einen leichten apologetischen Anklang in Referenz auf seine ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus.

Ende Oktober 1949 tritt Rudolf Hirsch seine Heimreise in die DDR an. Hier enden seine Aufzeichnungen. Eine Erläuterung und Fortsetzung seines bisherigen Lebens übernimmt von dort an Hirschs Freund Walter Nowjoski mit dem ihm gewidmeten Nachlass "Das Leben - was sonst".

Erst hier erfährt der Leser von Hirschs journalistischer Tätigkeit als Gerichtsreporter bei der "Wochenpost" seit den Fünfziger Jahren, seinem Wirken 1963 als Chronist im ersten Ausschwitz-Prozess, wo er vor allem dadurch die Aufmerksamkeit der Menschen erregt, dass er "nicht bei der [schlichten] Wiedergabe des Protokolls verharrt", sondern die einzelnen Mord-Geschichten der angeklagten SS-Ärzte in der Öffentlichkeit wieder aufrollt, um die viel zu mild ausgefallenen Urteile der Geschworenen zu diffamieren.

Ad perpetuam rei memoriam - das schien sich der nach Deutschland Remigrierte zum Lebensinhalt gemacht zu haben. "Die Stunde Null, den Schlußstrich", hat es für Hirsch nie gegeben. Immer wieder konfrontierte er mit publizierten Prozess-Berichten wie "Um die Endlösung" (1982), Romanen und Fernsehspielen sich und die deutsche Bevölkerung mit der schwarzen Milch der Nazi-Vergangenheit.

Als Genre Autobiographie speist sich "Aus einer verlorenen Welt" weniger aus der literarischen Darstellung von Rudolf Hirschs eigenem Schicksal in seiner stilistisch kurzen, berichtartigen Abhandlung. Weit mehr sind es die ausgedehnten Schilderungen über die ihm Nahestehenden und die zeitgeschichtlichen Vorgänge, die ihre Plastizität aus den eingearbeiteten Dokumenten, Briefen und alten Aufzeichnungen gewinnen und von dem eigens dem Ich-Erzähler Widerfahrenen schon durch ihr Ausmaß in grotesker Weise abstechen.

Man kann nur spekulieren, wie der damals schon 90-Jährige seine Memoiren fortgesetzt hätte. Das bisher literarisch Fixierte wird zumindest dem Vergessen noch lange vorbeugen.

Titelbild

Rudolf Hirsch: Aus einer verlorenen Welt.
Herausgegeben von Walter Nowojski.
Das Neue Berlin Verlag, Berlin 2002.
224 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3360009797

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