Das Schicksal des Traums

Peter-André Alt über Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur schwer lösen wir uns oft aus dem letzten Traum am Morgen, manchmal folgt er uns in den Tag und wirkt noch lange nach. Gleichwohl vermögen wir nicht einmal ansatzweise Tempo, Intensität und Vieldeutigkeit des Traumerlebnisses in adäquate Worte zu fassen. Jean Paul wusste: "Eine verträumte Nacht erfordert mehr als einen erzählenden Tag." Die Religion und die Wissenschaft versuchten schon früh, das Bedrängende, Unfassbare zu deuten: als göttliche oder teuflische Heimsuchung, als Gären der Körpersäfte, als Orakel, als Abbild des Unbewussten, zuletzt als Neuronengewitter. Immer begleitete die traumverwandte Literatur diese Theorien und lernte von ihnen mehr als nur Seinsmetaphern wie Pindars Wort: "Eines Schatten Traum ist der Mensch".

Aller Ehren wert ist Peter-André Alts groß angelegte Studie "Der Schlaf der Vernunft" schon, da sie materialreich und quellennah die Abfolge von Traumkonzepten in Wissenschaft und Literatur seit der Frühen Neuzeit vorstellt. Doch damit will sich der Akribiker und Theoriefex nicht begnügen. So widmet er sich den antiken Fundamenten abendländischer Traumforschung und analysiert methodisch überzeugend, umfassend (bis auf das weibliche Träumen) und intellektuell reizvoll die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Wissenschaften auf diesem unsicheren Terrain: Wie die Kunst eines Shakespeare, Gryphius, Goethe, Kleist, Poe, Nerval, Kafka, Schnitzler neue theoretische Erkenntnisse verarbeitet und zu einem autonomen Traumwissen gelangt; wie die Idee der Individualität untrennbar mit der Emanzipation des Traums vom Status einer überpersönlichen Erscheinung verbunden ist; wie das Sprechen und Wissen über Träume die Träume selbst formt und begrenzt, so dass Alt zu dem Schluss kommt: "Es existiert keine die Kulturgeschichte übergreifende Sprache des Traums, statt dessen eine Vielfalt der Redeweisen, deren Regeln den diachron variablen Modellvorgaben der wissenschaftlichen Diskurse gehorchen. Die Literatur kommuniziert mit ihnen, auch wenn sie sich den Homogenitätsforderungen gelehrter Denkstrukturen zu allen Zeiten auf produktive Weise entzogen hat."

Titelbild

Peter-André Alt: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
464 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3406493378

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