Unaufhaltsam steinschwer, grasleicht

Dem Lyriker und "Wiesenpapst" Johannes Kühn zum Siebzigsten

Von Oliver RufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Ruf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wasser aus Brunnen genügt nicht, hier tretet ein, Bier für den Herrn, Wein für die Frau und kleine Preise für beide. Und um sie ist ein heller Gasthausraum, in dem man laut lachen kann.

(Aus dem Gedicht "Einkehr")

Ein guter Ort für den Besuch beim "Winkelgast" ist das Lokal "Zur Post" im Ortszentrum von Hasborn. Gelegen im nördlichen Saarland, weit entfernt jedweder Großstadt, ein Dreitausend-Seelen-Dorf. Hier hockt Johannes Kühn, einst der "verlachte Dichter im Wirtshaus", dem Hohn entgegen schallte, "eine Meckertrompete". Er sagt: "Gestern habe ich drei Gedichte geschrieben." Das eine heißt "Herbstbild", das andre "Tanzmusik", das dritte "Tatsachenhans". Deren handschriftliche Entwürfe hat er mit Bedacht auf einer alten Schreibmaschine (in seiner Poetenstube nur wenige Straßen entfernt) nochmals bereinigt. Nun liest er sie langsam, überlegt, volltönend. So geht es jeden Tag: Überdacht wird als Erstes das dichterische Pensum vorangegangener Stunden.

"Inspiration", das Wort hat für Johannes Kühn keinerlei Bedeutung. Wie arbeitet er dann, könnte er jetzt, in diesem Moment, ein Gedicht verfassen? Munter greift er zu Block und Schreiber. "Nennen Sie mir ein Thema", bittet er. "Dichten ist für mich ein Handwerk." Nach kurzem Besinnen wird Zeile um Zeile zu Papier gebracht. Augenblicklich hat ihn ein Gedanke entflammt. Sogleich waren ihm Rhythmus, Motiv und lyrisches Prinzip vor Augen. Johannes Kühn fallen Gedichte gleichsam zu. Das sagen Irmgard und Benno Rech, die ihm - wie jeden Tag - im Wirtshaus zur Seite sitzen. Gemeinsam bereden sie die neuen, klingenden Verse.

Seit frühester Jugend sind das Germanistenehepaar und dieser scheue Lyriker freundschaftlich verbunden. Benno Rech hat mit Kühn die Enge einer katholischen Missionsschule ertragen und dessen Leben und Leid bis heute begleitet. Er stand ihm beiseite, als die anderen ihn hänselten. Die Literatur hatte beide zusammen gebracht. Klopstock, Goethe, Mörike lernten sie, die Bergmannskinder, die ohne Buch und Buchstaben aufgewachsen waren, aus Reclam-Ausgaben kennen und im Schullesebuch lieben. In der Untertertia hat Johannes Kühn den Briefroman "Hyperion. Oder: Der Eremit in Griechenland" in Schönschrift abgeschrieben und im saarländischen Gehölz "mit einem Feuer" verschlungen. Deshalb ist es heute umso mehr eine große Freude, dass er in diesem Jahr, zu seinem 70. Geburtstag, den "Friedrich-Hölderlin-Preis" der Stadt Bad Homburg erhält.

Inzwischen kann er ihn persönlich entgegen nehmen. Lange fasste er kein Zutrauen zum eigenen Schaffen, zur eigenen Existenz. Anfang der Achtzigerjahre erkrankte seine Seele. Der Mann, der bis dahin weder als Schriftsteller erfolgreich war, noch gerne den "Hügelring" seiner Heimat ("wie in einer Wiege / liegst du an den Wäldern") verlassen hatte, zog sich mit 50 Lebensjahren für ein Jahrzehnt ins Schweigen zurück.

Irmgard und Benno Rech unterstützten die Therapie nach Kräften und sorgten sich: Mit Wehmut mussten sie dabei zusehen, wie Johannes Kühn fast völlig verstummte. Doch sein Werk, so nahmen sie sich vor, das sollte dennoch (oder gerade deswegen) Beachtung finden. Zum Glück hatte Kühn ihnen jedes Gedicht, jedes Märchen, jedes Drama zugesandt - sie besaßen letztendlich ein umfassenderes Archiv als der Autor. Erste Bände wurden in Kleinverlagen veröffentlicht. Durch Vermittlung Ludwig Harigs, der schon früh die ungeheure Pranke dieser Lyrik begriff, nahm sich Michael Krüger und damit der Münchener Hanser Verlag den Gedichten an. Peter Rühmkorf begeisterte sich. "Das ist ein Dichter!", ließ Reiner Kunze vollends beeindruckt verlauten. Und Johannes Kühn? Er gesundete allmählich, fing das Schreiben wieder an; erst unbedarft; bald energisch. Am Ende stellte der Wiedererwachte ungläubig fest, dass er über sein Schweigen hinweg berühmt geworden war. Was er immer noch bezweifelt.

20 Gedichtbände nebst Märchenbuch und Dramenbroschüre liegen gegenwärtig vor, unten ihnen "Gelehnt an Luft" (1992), "Leuchtspur" (1995), "Hab ein Auge mit mir" (1998) und "Mit den Raben am Tisch" (2000). Peter Handke wurde in den Manuskripten auf ihn aufmerksam. Seinem Vorschlag vor vier Jahren, Kühn den "Hermann-Lenz-Preis" zu verleihen, entsprach man ohne Zögern. "Habemus poetam!", riefen damals die Stifter. Übersetzungen in mehrere Weltsprachen, ins Japanische, Englische, Französische, Italienische und Spanische, folgten. Sie bedeuten internationales Ansehen. Eine "Poésie du Monde" versammelt zum Beispiel als deutsche Autoren neben Else Lasker-Schüler nur noch einen: Johannes Kühn. Jean-Pierre Lefebvre, der Herausgeber der Anthologie "billingue de la poésie allemande", begründet diesen Triumph ganz einleuchtend: Johannes Kühn könne von vielen gelesen werden, stehe in der besten deutschen Tradition und gehöre keiner poetischen Schule an.

"Gestimmt auf den Grundton melancholischer Lebensfreude und auf wissender Ironie sind die Gedichte dieses sanften Außenseiters lakonisch, im besten Sinn einfach und dem Leser zugewandt. Zugleich nehmen sie unangestrengt den Bild- und Formenkanon europäischer Daseinsdeutung in sich auf", gab nunmehr die Jury des Hölderlin-Preises bekannt. Recht hat sie. Diese Lyrik, meist reimlos, in freiem Metrum gehalten, schildert ohne Eile das Gemüt aller Dinge. Johannes Kühn bedichtet Dorf und Erde zugleich: "Mondsichelbögen sind gemalt / mit den grünen Kämmen". Das lyrische Ich blickt und studiert - unaufgeregt, einfach, auf eine Weise betörend: "Über die Wendungen des Lebens / schreiben die Hügelkämme / hügelhinauf / und hinab, unaufhaltsam / sandschwer / steinschwer / grasleicht / lufthell." Seelenlagen scheinen auf, die jedermann erfahren kann, der fühlt: Johannes Kühn, der Weltpoet.

"Ich habe viel geübt", sagt er dazu. "Ich habe gelernt, mich der Welt mit staunenden Sätzen zu nähern." Sein Stil tönt sowohl feierlich als auch derb, folgendermaßen etwa im "Hausschwein"-Hymnus: "Es ist kein Stimmbandwunder, / hat keinen Stimmbandriss. / In der Rüsselschnauze, / im Speckhals mein ich, / hat es Trompeten, / mächtige." Wie empfindet er dieses Talent? "Ich kann so viel, wie ich kann, und mehr ist da aber auch nicht zu wollen", meint Kühn. Bescheiden erwarte er die Zukunft. Schreiben möchte er noch ein wenig. Aber keinen Roman. Die kleine Form habe ihn zeitlebens überzeugt: "Was mich beruhigt, besänftigt: das Dichten."

Im Alkoven seiner Dichterklause, am Tisch der Gaststätte "Zur Post" (oder im Schlupfwinkel seines anderen Stammlokals, dem "Huth"), wirkt er aufgeräumt und angekommen; da ist er zu Hause und ganz bei sich selbst. Nahezu ungestüm liest er dort die neuen Gedichte. Und auffallend laut. Zwei Tische beiseite ruhen Arbeiter aus. Die stört das nicht. Die Hasborner wissen um den behäbigen Mann in ihrer Mitte, der heuer als einer der brillantesten Dichter Deutschlands gilt. Bewusst haben Irmgard und Benno Rech als Herausgeber von Kühns Büchern diese stets zuerst in Hasborn vorgestellt. Der Spott vergangener Jahre ("armer Irrer, trink Bier") ist Gott sei Dank vorüber. Kürzlich wurde Johannes Kühn Ehrenbürger der Gemeinde Tholey, zu der auch Hasborn zählt. Eigentümlich dörfliche Ehren werden ihm seither zuteil. Von der Dorfbevölkerung wird er häufig zu Brunneneinweihungen und Sängerfesten eingeladen.

Diesen Leuten gehört sein Herz - beispielsweise wenn er ihnen die großartigen Mundart-Gedichte des Bandes "Em Guguuck lauschdre" (mit Holzschnitten von Heinrich Popp) widmet. Johannes Kühn lebt ganz allein aus der Sprache heraus, auch im saarländischen Dialekt. Gerade dadurch gelingt ihm Poesie. Meist nimmt er sich den eigenen Lebensraum zum Thema. Die Natur des Saarlandes spielt seit jeher die größte Rolle im gewaltigen Oeuvre des "Wiesenpapstes", das der Hanser Verlag dieser Tage mit einer frühen Erzählung aus den Jahren 1956/57 erstmalig prosaisch fortsetzt.

"Ein Ende zur rechten Zeit" ist ein träumerisches Prosastück. Ein Student, "Narr, der ich bin", gerät außer sich beim Ferienjob im Sägewerk: "Da stehen ringsum wie aufgestellte Götzenbilder [...] schrankartige Maschinen, ganz Eisen, öffnen lange Rachen, in die dann Mädchen die Holzklötze stopfen [...] sie gleiten in die Maschine hinein, werden zerfressen von scharfen Messern [...]" Grauen packt den "Dämmelhannes". Aufgerieben von der Furcht vor Atombomben und atomarem Zwischenfall wagt der Erzähler die Flucht aus der Arbeit im Werk. Sein Klagen gilt der untergehenden Schönheit wipfelnder Bäume, braunender Landschaft. Diese Trauer, sein Entsetzen teilt er dem Denker Cicero mit. "Denn nicht alle kann ein und derselbe Gegenstand [...] zu jeder Zeit und in demselben Grade interessieren", heißt es in dessen "Drei Büchern von den Pflichten".

"Ein Ende zur rechten Zeit" wurde - wie so oft bei Johannes Kühn - biographisch gebeizt. Kühn hat Ende der fünfziger Jahre in einer Spanplattenfabrik gejobbt, jedoch "alle Schichten" abgeleistet. Das betont er vehement; als "Faulenzer" will er nicht dastehen. Johannes Kühn war an keiner Universität, sondern an der Schauspielschule in Saarbrücken eingeschrieben. Eine Rippenfellentzündung hatte ihm das Abitur verwehrt. Als studentischer Gasthörer folgte er allerdings Benno Rech nach Saarbrücken und Freiburg. Zehn Jahre malochte er später in der Tiefbaufirma seines Bruders - der Rente wegen.

Stämmig ist er davon geworden. Im Gasthausraum hockt ein struppiger Dichter, mit feinen Sinnen, von robuster Gestalt. Wie er so da sitzt und aufhorcht: ein Trugbild im Kneipendunst; eine Legende, bereits zu Lebzeiten. Sicherlich, der Besuch beim "Winkelgast" bleibt Stippvisite. Der Eindruck aber dauert an. Morgen wird er wieder Platz nehmen. Er wird in seiner abgegriffenen Aktentasche kramen, ein Bündel Blätter herausziehen und sagen: "Gestern habe ich drei Gedichte geschrieben."

Titelbild

Johannes Kühn: Mit den Raben am Tisch. Ausgewählte und neue Gedichte. Mit einem Nachwort von Ludwig Harig.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
208 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3446199292

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Titelbild

Johannes Kühn: Ein Ende zur rechten Zeit. Erzählung.
Mit einem Nachwort von Wilhelm Genazino.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
144 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3446204598

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