Eine Lesbarmachung der Träume

Freuds "Traumdeutung" im Kontext ihrer Geschichte und Rezeption

Von Irina HronRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irina Hron

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht zufällig wurde Sigmund Freud von einem seiner namhaftesten Kontrahenten, C. G. Jung, als "Gedankenleser" tituliert, einem Beinamen, dem der Begriff des "Lesens" bereits unmittelbar eingeschrieben ist. Das Buch "Die Lesbarkeit der Träume", herausgegeben von Lydia Marinelli und Andreas Mayer, nähert sich der Frage nach eben dieser Lesbarkeit von ganz unterschiedlichen Perspektiven, sei es die Ungewissheit hinsichtlich der Wahl zwischen acht auseinander hervorgehenden Fassungen, einer vielgestaltigen "Pluralität der Lektüren" oder aber über das Problem der "Sagbarkeit", das in dem Moment auftritt, da der Träumer tatsächlich beginnt, sich seinen eigenen Träumen zu nähern.

Mit seinem "Portrait eines Traumlesers" skizziert John Forrester einen sehr unmittelbaren Einstieg in das vermutlich bedeutendste Werk Sigmund Freuds, die "Traumdeutung", und vermittelt auf sehr subtile aber unmissverständliche Weise die außergewöhnliche Bedeutung und Einzigartigkeit der "Gründungsurkunde" der Psychoanalyse in all ihren unterschiedlichen Facetten. Mit großer Sensibilität für das dem Sujet bereits innewohnende endlose Potential für polemische Kontroverse, entwirrt Forrester die subtilen Beziehungen zwischen Autor und Leser, die von Freud mit Bedacht und Raffinesse bereits im inneren Aufbau des Werks angelegt und gesteuert sind. Das Verständnis von Freuds implizitem Anspruch auf "Absolutheit" ist die Grundvoraussetzung für eine adäquate Auseinandersetzung mit der "Traumdeutung", nicht nur hinsichtlich der "kritiklosen Selbstbeobachtung" und "Selbstanalyse" anhand des eigenen, intimst-persönlichen Traummaterials, sondern auch in Richtung des kritischen Lesers, der gleichzeitig die Rolle des Widerstand leistenden Patienten, Zensors und Analytikers zugewiesen bekommt.

In einem beeindruckenden Beitrag ist es Lydia Marinelli und Andreas Mayer gelungen, den weit gespannten Bogen, der sich von der ersten bis zur achten Auflage der "Traumdeutung" erstreckt, überzeugend und mit großer Akribie und Detailtreue nachzuzeichnen. Der Aufbau des Essays spiegelt unverkennbar die zeitliche Struktur wider, von der die "Traumdeutung" nachhaltig geprägt ist. Hinsichtlich der sehr unterschiedlichen "Lektüren", die Freuds einflussreichstes Werk erfahren hat, grenzen die Autoren klar drei Phasen voneinander ab, während denen sich das Buch erst als "Methodenbuch", später als "Symbollexikon" und schlussendlich als "historisches Dokument" bis heute etablieren konnte. Auch werden diesen Stadien die jeweils repräsentativen und prägenden Kommunikationsformen zugeordnet, die sich von persönlichem Kontakt und der Briefanalyse über die "Zeitschriftenwissenschaft" bis hin zur "Kanonisierung" erstrecken. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren den beiden "klinischen Kulturen" in Zürich und Wien, die die Brennpunkte für die weitere Institutionalisierung der psychoanalytischen Bewegung bildeten, und die sich aus Freuds treuesten Bewunderern und schärfsten Kritikern zusammensetzten, darunter Namen wie C. G. Jung, Wilhelm Stekel oder Herbert Silberer. Der Einfluss dieser Kreise auf die textuelle und methodische Arbeit an der "Traumdeutung" kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Artikel schließt mit einem Verweis auf eine sehr spezifische Problematik, die stark an das Schleiermachersche Dilemma des "eigentlichen Übersetzen" erinnert: die Eingliederung des Freud'schen Œuvre außerhalb des deutschen Sprachraums und die Frage nach der "prinzipiellen Unübersetzbarkeit" der "Traumdeutung", denn "in jeder Sprache sollte es [Anm. das Buch] neu geträumt werden."

In einem sehr konzisen Essay zu den "Räumen der Traumforschung", beschäftigt sich Alexandre Métraux mit der "historiographischen (Teil)darstellung" einerseits und der Konfrontation der "Traumdeutung" mit ihren Vorläufern bzw. Gegenspielern andererseits. Im Vordergrund seiner Ausführungen steht der Freudsche Gedanke der Objektivierung des bis dahin als sehr subjektiv bis suspekten Phänomens "Traum". Diese Objektivierung offenbart sich als die fundamentale Vorbedingung der "Lesbarkeit der Träume", doch bevor Métraux explizit auf diese Objektivierungsstrategien zu sprechen kommt, schickt er drei Beispiele aus der Traumforschung des ausgehenden 19. Jahrhunderts voraus, um nicht nur den Kontrast, sondern auch eine Art "kleinsten gemeinsamen Nenner" mit der Freudschen "Traumdeutung" aufzuzeigen.

Der folgende Abschnitt, der einer "Metalektüre der Freud'schen ,Lesbarmachung der Träume'" gewidmet ist, gibt einen treffenden Überblick sowohl über die Beschaffenheit der Freudschen "Oneirothek", als auch über die Problematik bezüglich der Klassifikationssysteme, der Herstellung der Traumverschriftung und der Besonderheit der dyadischen Traumanalyse. Der Essay schließt mit einer Gegenüberstellung von "Traumdeutung" und experimenteller psychoanalytischer Traumforschung nach 1900 und konfrontiert und komplettiert auf diese Weise das Werk durch sein davor und danach.

In seinem sehr theoretisch und auf dem Postulat eines fundierten methodischen Hintergrundwissens angelegten Essay, beschäftigt sich Hans-Dieter Gondek auf sehr "komparatistische" Art und Weise mit der "verzögerten" Rezeption der "Traumdeutung" in Frankreich seit Mitte der fünfziger Jahre. Zu diesem Zweck gruppiert der Autor drei der bedeutendsten französischen Theoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts um einen Mittelpunkt: die "Traumdeutung". Allen drei ist, so Gondek, nicht nur die Vorstellung des "Traum[s] als Begegnung mit dem Tod" gemeinsam, sondern auch der "Durchgang durch die Heideggersche Existenzialontologie", wobei Zweiteres nicht näher ausgeführt wird. Von weit größerer Bedeutung als die Berührungspunkte sind jedoch die Unstimmigkeiten hinsichtlich des Zugangs und der Kritik an der "Gründungsurkunde" der Psychoanalyse. Für Foucault sind in diesem Zusammenhang zwei Momente entscheidend: zum einen die unzureichende und inadäquate Behandlung des Todes, der für ihn "in allen Fällen [...] der absolute Sinn des Traumes" ist, und zum anderen die mangelnde Unterscheidung zwischen image und imagination, die in letzter Konsequenz jedoch wieder in den Tod mündet: den Tod der Imagination in der Erstarrung zum Bild.

An Lacans Auseinandersetzung mit Freud interessieren den Autor vor allem die terminologischen Revisionen und partiellen Missdeutungen, die Lacan ganz dezidiert an der "Traumdeutung" vornimmt, und die Gondek anhand dreier Beispielträume, die Lacan selbst der Traumdeutung direkt entnommen und "reanalysiert" hat, praktisch vorführt. Für Derrida schlussendlich fungiert das Werk Freuds gleichzeitig sowohl als Gegenstand als auch als Ressource seiner terminologischen und konzeptuellen Ausarbeitung der Dekonstruktion.

In einem knappen und doch eindringlichen Entwurf zur Konzeption der Freudschen "Traumrede", versteht es Karl Stockreiter meisterhaft, die Anbindung der Traumvorgänge an das Repertoire der Rhetorik nicht nur glaubhaft, sondern durch und durch plausibel zu machen. Nach einer Rekapitulation der essentiellen Terminologie und einer knapp gehaltenen Hinführung zu den wesentlichen Stationen der "Traumdeutung als Verfahren", widmet sich Stockreiter einer detaillierten Aufschlüsselung der Traummechanismen nach "allen Regeln der Rhetorik" - und er kann sich auf wortgewaltige Wegbereiter berufen: bereits Lacan wies dezidiert auf die Analogie zwischen den Mechanismen des Traums und den rhetorischen Tropen und Figuren hin. Im Mittelpunkt von Stockreiters Ausführungen steht der Tropus der metaphorà, der Übertragung, denn erst diese ermöglicht eine Verbindung von Unbewusstem mit Bewusstem.

Der Autor differenziert klar zwischen einer "ersten" und einer "zweiten Rhetorik" des Traums, wobei erstere auf der Basis der Übertragung einer unbewussten Vorstellung auf vorbewusstes Material den "Wunsch aus dem Unbewussten als Sprache codiert", damit den Traumgedanken hervorbringt und diesen zu einer Traumerzählung ordnet.

Im Anschluss daran wird diese figurative Narration durch die "zweite Rhetorik" zum manifesten Traum umgewandelt, der die Zensur und damit die Mechanismen der Traumarbeit durchlaufen muss, um schlussendlich vom "Erwachenden" nachträglich vergegenwärtigt zu werden. Auf diese Weise konstruiert Stockreiter die Freudschen "Traumtermini" analog zu jenen der Rhetorik und weist der bedeutungserzeugenden Metapher einen Platz an der Schnittstelle zwischen Unbewusstem und Bewusstem zu. Mit Bezug auf ein Zitat Freuds, dem zufolge "[d]er Träumer [...] in seinem Verhältnis zu seinen Traumwünschen nur einer Summation von zwei Personen gleichgestellt werden" kann, schließt der Essay mit einem Verweis auf den von Ogden geprägten Begriff des "intersubjektiven analytischen Dritten", der aus der dialektischen Spannung zwischen Analytiker und Patient herrührt, und mit der Erkenntnis, dass die unbewusste Phantasie immer nur als Stoff und niemals als Autor unserer Träume fungiert.

Titelbild

Lydia Marinelli / Andreas Mayer (Hg.): Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds Traumdeutung.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
14,80 EUR.
ISBN-10: 3596145201

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