Das Germanistenlexikon und das Leben

Eine Veranschaulichung

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lebensnah ein Germanistenlexikon sein kann, das haben die heftigen Debatten der letzten Wochen gezeigt. Mit ihnen werde ich mich im folgenden nicht beschäftigen. Die aktuellen Kontroversen, die das Lexikon ausgelöst hat, besitzen ganz zweifellos ihre Berechtigung; für sie war das Lexikon aber gleichsam nur ein Anlass, und daher verfehlen sie denn auch die Bedeutung, die das "Internationale Germanistenlexikon" besitzt und in den nächsten zweihundert Jahren immer deutlicher entfalten wird. Dieses Lexikon ist ein unersetzliches Nachschlagewerk für alle an der Germanistik, der Wissenschafts,- der Gelehrten- und Kulturgeschichte Interessierten, es ist, das darf ich aus der Perspektive des nüchternen Hanseaten und einiger Entfernung sagen, eine wissenschaftliche und kulturelle Großtat, und Sie können sagen, Sie sind dabeigewesen, Sie haben es erscheinen sehen. Der langfristige Nutzen solcher Großprojekte ist, das lehrt die Geschichte, niemals vorauszusehen, und so will ich mich über ihn auch nicht in Spekulationen verlieren.

Mit dem Titel "Das Germanistenlexikon und das Leben" möchte ich auf einen anderen Aspekt gerade dieses Werks aufmerksam machen. Im Lexikon finden sie nach einem aus geklügelten System schematisierte biographische Basisdaten und ebenso schematisierte Angaben zu Werken und sonstigen Leistungen der dort aufgeführten Gelehrten. Stets aufs neue wird bei derartigen Lexika die Sterilität der Angaben, das Mausoleenartige ihrer Konzeption beklagt. Der bedeutende Pädagoge Theodor Litt nannte biographische Lexikoneinträge einmal "Ein verkürzendes, zusammendrängendes, durch Vereinfachung und Weglassung gewonnenes Schema einer Lebensfülle, die als solche jede erdenkliche Fassung in Begriffen überströmt; ein Unendliches eingefangen in einem Fachwerk endlicher Formeln". Die besondere Leistung des Marbacher Germanistenlexikons besteht nun darin - das wollte ich durch den Titel meines Vortrags unterstreichen - dass das "Fachwerk endlicher Formeln" besonders glücklich gewählt ist. Es ermöglicht den Nutzern nämlich, eine mehr oder minder anschauliche und genaue Vorstellung von der einstigen "Lebensfülle" des jeweiligen Wissenschaftlers zu gewinnen. Einfacher gesagt lassen sich aus den nüchternen Angaben des Lexikons ganze Lebens-, Werk-, oder auch Theoriegeschichten und Traditionen wiederherstellen, wenn man den dort gebotenen Informationen nachgeht. Dabei kann das "Germanistenlexikon" einen Nutzen entfalten, der über den engeren Bereich der Fach- und Wissenschaftsgeschichte weit hinaus in den Bereich der allgemeinen und der Kulturgeschichte reicht. Ich möchte Ihnen das im folgenden knapp an drei Beispielen zeigen. Dafür wähle ich nicht etwa drei allen bekannte 'Genies' der Germanistik aus, sondern 'nur' sehr kluge Repräsentanten der normalen Wissenschaft.

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Der erste stammt aus dem 19. Jahrhundert, in dem die professionelle Germanistik einsetzte, und hier ist meine Wahl nicht auf eine der Gründerfiguren wie Jacob Grimm, Karl Lachmann oder Johann Andreas Schmeller gefallen, sondern auf einen Germanisten der zweiten Generation - und zwar auf einen Lexikographen, den alle kennen, die sich im Leben je mit dem Mittelhochdeutschen beschäftigen mussten oder durften: auf Matthias Lexer, den Sie auf den Seiten 1080-1082 des "Germanistenlexikons" behandelt finden. Wenn Sie den dort gegebenen Hinweisen nachgehen, werden Sie auf eine - auch unter den sehr spezifischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts - eigentümliche Wissenschaftlerlaufbahn stoßen.

Matthias Lexer wurde am 18. Oktober 1830 in der zum Dorfe Liesing gehörigen Mühle im Lesachthal in Kärnten geboren. Auf Anraten des Pfarrers und mit der Unterstützung eines adligen Gönners konnte er das Gymnasium in Klagenfurt besuchen und begann 1851, nach der Matura, das Studium der Jurisprudenz in Graz. Schon im ersten Semester hörte er jedoch Vorlesungen bei dem frisch berufenen Germanisten Karl Weinhold, der ihn für das Studium der Sprache, der Dialektologie und der Volkskunde begeisterte. Noch während des Studiums begann Lexer mit der Sammlung des Kärntischen Wortschatzes. Nach der ersten Lehramtsprüfung, die er 1855 in Wien ablegte, arbeitete er 14 Monate als Hilfslehrer in Krakau, nach der zweiten Lehramtsprüfung erhielt er auf Fürsprache Karl Weinholds ein Ausbildungsstipendium des k. und k. Unterrichtsminsteriums, mit dessen Hilfe er von 1857 bis 1859 in Berlin studieren konnte - u. a. bei Franz Bopp, Moriz Haupt und Karl Müllenhoff, die auch einen Kontakt zu Jacob Grimm herstellten. Von Berlin nach Graz zurückgekehrt, war Lexer zu nächst arbeitslos und nahm daher notgedrungen eine Stelle bei dem ungarischen Grafen Hunyadi in Ürmény an. Hier erreichte ihn der Ruf der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die ihm eine Mitarbeiterstelle an dem Editionsprojekt der deutschen Städtechroniken anbot. 1860 siedelte Lexer nach Nürnberg um und wurde im selben Jahr von der Universität Erlangen auf Grund des inzwischen fertiggstellten "Kärntischen Wörterbuchs" promoviert, das 1862 in Leipzig erschien. In dessen Vorwort schildert Lexer ausführlich, wie er auf einer vom Unterrichtsministerium finanzierten Wanderung die Sprachproben für sein Wörterbuch sammelte - ich kann Ihnen nur einen kurzen Passus daraus zitieren:

"Meine Wanderung gieng weiter über die Gnesau [...] nach Kleinkirchheim, Milstatt und Spittal [...]. Der wohlbekannte Weg im oberen Drauthale führte mich über Sachsenburg, Greifenburg nach Oberdrauburg, von dort über den Gailberg ins Gailthal nach Kötschach und weiter steil ansteigend ins Lesachthal nach Liesing, meinem Geburtsorte. Die theuere Mutter, die einst den armen Knaben in drei mühevollen Tagreisen auf die Schule nach Klagenfurt gebracht und für denselben mit grosser Geduld und vielen Thränen bei wohlthätigen Bürgern freien Mittagstisch erbeten hatte, war inzwischen ins bessere Jenseits gegangen; ihr ist nun auch der gute Vater nachgefolgt, dessen, sowie der Mutter Antheil an dem gesammelten Wortschatze kein geringer ist - brachte mir doch jeder Brief die lieben Laute der Heimat. Es sei mir daher vergönnt, den theuern Verstorbenen wenigstens hier einen Denkstein der kindlichen Liebe und Dankbarkeit zu setzen!"

Auf eine sehr geschickte und zugleich anrührende Weise verbindet Lexer hier die Wissenschaft mit dem eigenen Leben und dem Dank an die Eltern. Autobiographische Mitteilungen dieser Art sind in wissenschaftlichen Abhandlungen, gar Wörterbüchern des 20. Jahrhunderts kaum noch denkbar. Die Verwissenschaftlichung und Professionalisierung einer Disziplin, die ihren Namen nicht von ungefähr trägt, fordert Opfer: die Wissenschaft und das Leben treten auseinander.

Das nach dem Vorbild des "Bayerischen Wörterbuchs" von Johann Andreas Schmeller konzipierte "Kärntische Wörterbuch" aber wurde zu einem Markstein der Karriere Lexers, der 1863 als Professor nach Freiburg berufen wurde, 1869 nach Würzburg und schließlich 1890 nach München, wo er 1892 starb. In den 23 Würzburger Jahren vollbrachte Lexer seine bleibenden Leistungen. Neben seiner Editionstätigkeit an deutschen Städtechroniken, und der Mitarbeit am Grimm'schen Wörterbuch (7. Band ganz, 11, teilweise) sind dies insbesondere das "Mittelhochdeutsche Handwörterbuch" (3 Bde. 1872-1978), das als Ergänzung zum älteren Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke (1848-1866) konzipiert war und das "Mittelhochdeutsche Taschenwörterbuch", das bis heute ständig aktualisiert wurde und als Standardwerk im vergangenen Jahr die 39. Auflage erreichte. Lexers Leistungen wurden 1885 mit dem Verdienstorden der Bayerischen Krone und 1886 mit dem persönlichen Adel honoriert - so wurde der Müllersohn aus dem Lesachtal zuletzt noch zu jenem Matthias Ritter von Lexer, als den Sie ihn im Germanistenlexikon finden.

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"I had a somewhat unorthodox career", schrieb der 1901 in Stuttgart geborene Bernhard Blume in einem Brief an die Harvard University 1955. Anders als bei Lexer finden sich in Blumes wissenschaftlichen Arbeiten keine autobiographischen Mitteilungen, aber in den letzten 30 Jahren seines Lebens machte sich Blume immer wieder Aufzeichnungen zu einer Autobiographie, die er nie abschloss; Fritz Martini und Egon Schwarz haben sie unter dem sprechenden Titel "Narziß mit Brille" herausgegeben. Die auffällige "autobiographische Gestimmtheit", wie Blume sie bezeichnete - man könnte sie auch autobiographische Rastlosigkeit nennen - hing unmittelbar mit seiner lebenslangen Suche nach einer festen Identität zusammen. Diese Suche hatte ihre Gründe. Sehr anders als Matthias Lexer wollte Blume ein Germanist eigentlich gar nicht werden. Er studierte in Tübingen, München und Berlin Germanistik, absolvierte 1923 das Staatsexamen und anschließend in Stuttgart das Referendariat, aber er empfand sich doch weit eher als Schriftsteller denn als Wissenschaftler. Als Zeitgenosse Ferdinand Bruckners schrieb er unter dem Einfluss Büchners, Wedekinds und Schnitzlers zwischen 1925 und 1935 eine stattliche Anzahl Dramen, und nach dem Urteil Fritz Martinis war er in dieser Zeit ein vielgespielter, wenngleich eigentümlich profilarmer Autor, der von seinen Einkünften gut leben konnte. Seine Frau, Carola Rosenberg, war an der Volkshochschule Stuttgart Leiterin der Frauenabteilung; sie verlor ihre Stellung jedoch unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Blume hatte seit 1931 neben seiner Theatertätigkeit in Stuttgart wieder germanistische Lehrveranstaltungen besucht und promovierte 1935 bei Hermann Pongs mit einer Dissertation über "Das nihilistische Weltbild Arthur Schnitzlers" - einer einfluss- und kenntnisreichen Untersuchung, in der auch heute noch am meisten das Vorwort irritiert, in dem die soldatische Ethik des Nationalsozialismus als Überwindung des Nihilismus gepriesen wird. Da weder Carola Blume als Jüdin noch Bernhard Blume als "nichtarisch Versippter" eine Chance auf eine angemessene Beschäftigung hatten, begab sich Carola Blume 1935 auf eine Sondierungsreise in die USA. Über diese Reise schreibt Blume in seinen autobiographischen Aufzeichnungen:

"Ende November 1935 fuhr sie ab, Anfang Februar 1936 kam sie wieder. Sie brachte folgendes mit: ein Affidavit für die ganze Familie, ein Forschungsstipendium auf ein Jahr für sich, und eine Gastprofessur an einem Mädchencollege in Californien für mich, ebenfalls auf ein Jahr. [...] Am nächsten Tage gingen wir zum amerikanischen Konsulat. Am 30. April 1936 landeten wir in New York."

Dass es alles so einfach nicht war, ist einer anderen Aufzeichnung Blumes zu entnehmen, in der er die Emigration mit dem psychischen Tod vergleicht; er schreibt: "Daß mein Weggang aus Deutschland, die Vernichtung meiner deutschen Existenz, auch einen Tod bedeutete. Aber ich akzeptierte ihn nicht; aber ich stellte ihm nicht etwas primitiv eine neue amerikanische Existenz entgegen, sondern das imaginäre Deutschland, das ich in meinen Vorlesungen aufbaute, es war wirklicher als das präsente Deutschland in den Lautsprechern - dies ersparte mir das Gefühl der Entwurzelung."

Die Blumes waren tüchtig, und sie hatten Glück. Bernhard Blume war, so scheint es, ein eher unpolitischer Mann, der sich in Stuttgart von NS-Lokalgrößen auch nach 1933 hatte unterstützen lassen - er verließ Deutschland aus vielen guten Gründen, aber nicht aus politischer Überzeugung. Noch ein halbes Jahr nach seiner Emigration in die USA schrieb er unter Verweis auf seine guten Beziehungen zu einflussreichen Nationalsozialisten einen empörten Protestbrief gegen seinen Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer, der ihm im September 1936 mitgeteilt wurde - darüber findet sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen nichts. Erst als dieser Protest unbeantwortet blieb, versuchte Blume, so scheint es, einen dicken Strich unter seine Vergangenheit zu ziehen. Dabei hatte er es mit einem doppelten Identitätskonflikt zu tun: er musste sich, um als College-Professor bestehen zu können, vom Künstler zum Bürger, vom unpolitischen NS-Mitläufer zum überzeugten Demokraten wandeln. Bei der Überwindung dieses Konflikts half ihm ein Schriftsteller, der nicht allein für ihn zum Idol des Exils wurde: Thomas Mann. Der Thomas Mann, der Wandlungsprozesse vom Künstler zum Bürger und vom Antidemokraten zum Demokraten selbst in großer Umständlichkeit, Ausführlichkeit und Öffentlichkeit vollzogen hatte und der nach seinem Bekenntnis zum Exil nicht nur in den USA als Repräsentant des anderen, des besseren Deutschland galt. Das Werk Thomas Manns deutete Blume für sich unter der Perspektive des Wandels vom nietzscheanischen Ästhetizismus und Nihilismus des Frühwerks zur Goethe-Nachfolge im reifen Werk. Als wolle er diese riskante Deutung noch unterfüttern, beschäftigte er sich intensiv mit dem Werk Goethes selbst, in dem er, wie er schrieb, "einen Kompaß gefunden hatte, nach dem ich, wie ich hoffte, mein Leben ausrichten konnte". Ebenso sehr wie diese geistesgeschichtlichen Konstruktionen trugen für Blume freilich die Erfordernisse des Unterrichts dazu bei, eine neue Identität zu entwerfen und zu befestigen: die Rekonstruktion des in Deutschland vernichteten oder verlorenen geistigen Erbes war eine Aufgabe, die zugleich einen Neuanfang erforderte und Kontinuität verbürgte. Blume betont vor allem das letztere, wenn er schreibt: "indem ich junge Amerikaner in die deutsche Literatur einführte, konnte ich an einem Erbe festhalten, das ich liebte und mit dem ich vertraut war".

Da es mir vor allem darauf ankam, auf die Vielschichtigkeit und Verwickeltheit der mit Blumes Wandlung verbundenen Probleme hinzuweisen, darf ich mich im Bericht über seine glänzende akademische Karriere kurz fassen. 1942 wurde er US-Bürger, von 1945-1956 war er Professor an der Ohio State University in Columbus, von 1956-1966 dann in Harvard, von 1966-71 schließlich an der University of California in San Diego. Seine Lehr- und Forschungsgebiete waren die deutsche Klassik und Romantik und die klassische Moderne. Bernhard Blume war nach dieser erfolgreichen Karriere in den USA auch in Deutschland ein sehr angesehener Germanist, der nebenher für eine Reihe deutschsprachiger Zeitungen schrieb. Er ließ auch jetzt nicht davon ab, sich ein wenig immer noch als Künstler zu fühlen, und über die Zeit des Nationalsozialismus schrieb er, er habe, im Gegensatz zu anderen, "das Dritte Reich weder verdrängt noch verarbeitet; offensichtlich lebt es in mir als unverheilte Wunde fort."

3

Georg Ellinger, der dritte Germanist, dessen Bild ich Ihnen aus den knappen Daten des Lexikons vor Augen führen möchte, war sich selbst vermutlich nicht bedeutend genug und vor allem auch zu schüchtern, um eine Autobiographie zu schreiben. Wie schüchtern er war, geht aus einem Brief hervor, den er am Sonntag, den 28. Juni 1885 an seinen Lehrer Wilhelm Scherer schrieb. Er lautet, ein wenig gekürzt:

"Hochverehrter Herr Professor!

Verzeihen Sie mir, wenn ich mir erlaube, in einer Angelegenheit schriftlich Ihren Rath einzuholen, die ich Ihnen mündlich vorzutragen nicht den Muth hatte. Um es gleich herauszusagen: ich möchte bei Ihnen anfragen, ob Sie es für möglich halten, daß ich mich habilitieren kann. Es würde sich dabei in erster Linie darum handeln, ob ich die dazu nöthige wissenschaftliche Befähigung hätte und das ist der Hauptpunkt, über den ich Sie bitten möchte, mir Ihr offenes Urtheil mitzutheilen. [...]

[...]

Sie werden nun fragen, warum ich Ihnen das nicht Alles persönlich vorgetragen habe. Ich sagte schon: ich habe nicht den Muth dazu gehabt. Ich hatte bei den beiden letzten Besuchen, die ich Ihnen machte, die Absicht, Sie in dieser Angelegenheit um Rath zu fragen, aber Ihre Gegenwart schnürte mir die Kehle zu; ich wagte mich nicht zu äußern, weil ich, offen gestanden, fürchtete, Sie würden mich auslachen und mich fragen, was ich mir da für verrückte Ideen in den Kopf gesetzt hätte. [...]

Schließlich möchte ich Sie bitten, hochverehrter Herr Professor, mich nicht für einen übermüthigen Menschen zu halten, der gern hoch hinaus will. Ich würde den Gedanken, der mir schon am Ende meiner Studienzeit einmal gekommen und den ich damals gründlich niedergekämpft habe, gar nicht wieder aufgenommen haben und ihn solche Macht über mich gewinnen lassen, wenn ich nicht in der letzteren Zeit gesehen hätte, daß einige von meinen entfernteren Bekannten sich habilitirt haben und sich demnächst habilitiren wollen, die ich für rechte Flachköpfe und Renommisten halte.

Ich bin am Ende, hochverehrter Herr Professor, und bitte Sie nochmals, es mir nicht übel zu nehmen, daß ich Sie so in Anspruch nahm. Aber Sie sind mein Lehrer und zwar derjenige Lehrer, der auf die ganze Richtung meines ferneren Lebens bestimmend eingewirkt hat und dem ich mehr verdanke, als allen meinen anderen Lehrern, selbst Droysen eingeschlossen. Aus diesem Grunde habe ich Ihnen ohne jeden Rückhalt meine geheimsten Gedanken auseinandergesetzt und bitte Sie, mir deswegen nicht böse zu sein.

In aufrichtiger Hochachtung

Georg Ellinger."

44 Jahre später nahm Ellinger sich dann die Freiheit, seinem magnum opus, der "Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert", eine persönliche Anmerkung vorauszuschicken; hier schreibt er:

"Der Plan zu dem vorliegenden Buche ist in den Tagen des ersten, heißesten Schmerzes um den Verlust meines geliebten Lehrers und väterlichen Freundes Wilhelm Scherer gefaßt worden. [...] Während eines unserer letzten Gespräche wies Scherer, ähnlich wie er es in bekannt gewordenen Äußerungen getan, auf die Notwendigkeit einer Erforschung der neulateinischen Poesie des 16. Jahrhunderts hin. [....] ,Aber ich fürchte', fuhr er nach einer kurzen Pause fort, ,es wird niemand die Entsagung aufbringen, die ungeheure Masse dieser Lyriker, Epiker und Didaktiker durchzuarbeiten.' Diese Worte schossen mir in den ersten Tagen nach seinem Heimgang durch den Sinn, und ich glaubte, eine über die allgemeinen geistigen Anregungen hinausgehende dauernde Verbindung mit dem teuren Toten dadurch am besten aufrechterhalten zu können, daß ich mich der Aufgabe zu unterziehen beschloß, deren Schwierigkeiten er für fast un überwindbar erklärt hatte. [...]

Infolgedessen drängte sich mir schon frühzeitig die Überzeugung auf, daß nur jahr zehntelange Arbeit auf diesem unbeackerten Boden zum Ziele führen konnte, zumal ein mühevolles, aber mit hingebender Freudigkeit versehenes Schulamt mir nur wenige Mußestunden zu wissenschaftlicher Tätigkeit übrig ließ, und ich auch den Blick auf das Ganze meiner Wissenschaft nicht verlieren mochte. Zwar war ich schon anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts über die Grundzüge der Entwicklung nicht mehr im Unklaren, aber die völlige Durchdringung des ungeheuren Stoffgebiets nahm noch lange Zeit in Anspruch."

Zwischen dem Keimentschluss zu seinem Werk und dem Erscheinen des ersten Bandes der "Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert" lagen mehr als 40 Jahre. Ob Wilhelm Scherer Ellinger eine wissenschaftliche Laufbahn empfohlen hat oder nicht, ist nicht bekannt. Aber selbst diese Empfehlung hätte ihm wenig genützt: Scherer starb knapp ein Jahr später und der mittellose Ellinger hätte, obwohl er getauft war, schon wegen des akademischen Antisemitismus kaum eine Chance auf eine akademische Karriere gehabt. Ellinger arbeitete bis zu seiner - wegen eines Augenleidens - frühzeitigen Pensionierung 1919 als Gymnasiallehrer in Berlin, zuletzt am Sophien-Realgymnasium; 1906 wurde ihm der Professorentitel verliehen.

Georg Ellinger ist eine der letzten Verkörperungen jenes in der Forschung aktiven und literarisch produktiven Typus des gelehrten Schulmanns, der im Laufe des 20. Jahrhunderts ausgestorben ist. Der Umfang seiner - neben dem Schulamt betriebenen - wissenschaftlichen Arbeit ist kaum zu ermessen. Er begann in den neunziger Jahren mit einer ganzen Serie von Editionen neulateinischer Lyriker, er veröffentlichte kommentierte Ausgaben der Werke von Angelus Silesius, Friedrich Rückert und E. T. A. Hoffmann, er betreute drei Bände der Goethe-Ausgabe in der Reihe von "Meyers Klassikern"; er publizierte Monographien über Macchiavelli, Melanchthon, Angelus Silesius und E. T. A. Hoffmann, auf dessen musikalisches Werk er erstmals einging, er veröffentlichte zahlreiche Aufsätze in den einschlägigen historischen und literaturwissenschaftlichen Fachzeitschriften und eine kaum übersehbare Menge von Rezensionen. Überdies war er Mitbegründer und bis 1938 eines der aktivsten Mitglieder der 1888 gegründeten "Gesellschaft für deutsche Literatur" in Berlin, die sich der Förderung der neueren deutschen Literaturwissenschaft verschrieben hatte und regelmäßig wissenschaftliche Vorträge veranstaltete.

Der erste Band seines Hauptwerks erschien fünf Jahre nach Ellingers Pensionierung, bis 1933 konnten noch der zweite und die erste Hälfte des dritten Bandes erscheinen. Der Konzeption des Werks und seinen der Goethezeit verpflichteten Beurteilungsnormen ist die Herkunft aus dem 19. Jahrhundert anzusehen; sie zogen häufig die Kritik auf sich. Deren schärfste stammt aus der Feder Walter Benjamins. Er fasste seine "Gelehrte Registratur" überschriebene Kurzrezension am 23. Juli 1933 - das Datum ist hier nicht unwichtig - in dem Satz zusammen: "So bleibt der wissenschaftliche Ertrag der fleißigen, gewiß auf umfangreiche Quellenstudien gestützten Arbeit unbeträchtlich und nur das melancholische Gefühl, so zwecklos einen großen Aufwand vertan zu sehen." Mit diesem in seiner unbekümmerten Erbarmungslosigkeit auffälligen Urteil blieb Benjamin jedoch isoliert. Richard Alewyn schrieb 1931 in einer Rezension des ersten Bandes:

"[...] das Werk, das hier in der Stille eines geduldigen Gelehrtendaseins herange wach sen ist, trifft offen gestanden die Literaturwissenschaft völlig unvorbereitet. [...]

Völlig unverdient sozusagen fällt uns also hier eine schon durch ihren Umfang imponierende zusammenfassende Darstellung dieses Gebiets in den Schoß, für das kaum die üblichen Vorarbeiten vorliegen, ja für das die Probleme kaum formuliert sind."

Zwar kritisierte auch Alewyn, dass Ellinger "seinem Stoff keineswegs voraussetzungslos gegenüber" tritt, "um ihn einfach nach seiner geistigen Beschaffenheit zu befragen, wie wir Jüngeren es gewohnt sind" (im übrigen eine sehr kecke Selbsteinschätzung!), doch er findet im Gegensatz zu Benjamin ein angemessenes Maß der Kritik, wenn er abschließend schreibt:

"Diese Fragen nach der dichterischen Struktur der neulateinischen Dichtung und nach ihrer stilistischen Gestalt sowohl im Verhältnis zur alten römischen Dichtung als auch innerhalb ihrer einzelnen Phasen und Gestalten werden die künftige Forschung wohl besonders beschäftigen müssen, nachdem durch Ellingers Werk dafür die Grundlage geschaffen worden ist. Es ist wohl selten in der Wissenschaftsgeschichte, daß der selbe Gelehrte für ein Gebiet, das fast den Umfang einer selbständigen Disziplin besitzt, sowohl als Forscher fast die gesamte Vorarbeit aus eigenen Kräften leistet, für die eine ganze Bibliothek aus Dissertationen hätte aufgeboten werden müssen, als auch als Darsteller selbst in solchem Umfang die erschöpfende und wohl für alle Zeiten grundlegende Zusammenfassung beschert, ein Werk, das nicht nur als physische Leistung imponierend, nicht nur als die gesegnete Ernte eines mühevollen Gelehrtendaseins ehrwürdig, sondern auch als Schöpfung unseres Danks und unsrer Bewunderung gewiß ist. Wir hoffen, den Verfasser bald zu dem glücklichen Abschluß beglückwünschen zu dürfen."

Zu diesem Glückwunsch kam es nicht und wird es niemals kommen. Der erste Teil des dritten, von Walter Benjamin verrissenen, Bandes der "Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands" konnte unter großen finanziellen Schwierigkeiten vom Verlag de Gruyter noch im April 1933 herausgebracht werden. Weitere Bände konnten aus politischen Gründen nicht erscheinen, aber Ellinger suchte das Projekt gleichwohl zu vollenden. Am 20. April 1934 schloss er das Manuskript des Bandes 3.2 ab, der mit einer Übersicht über die neulateinische Lyrik in den französischsprachigen Regionen einsetzte. Aus Ellingers Korrespondenz ist zu entnehmen, dass er danach noch ein umfangreiches Manuskript fertigstellte, das vermutlich die Anmerkungen zu den ersten beiden Bänden enthielt. Zwei Exemplare dieses Manuskripts stellte er her: eines übergab er dem Verlag, das andere der ihm befreundeten Prinzessin Sibylle zu Schönaich-Carolath auf Schloss Mellendorf in Niederschlesien. Das erste Exemplar wurde bei einem Bombenangriff in Berlin vernichtet, das zweite bei einem Brand am 10. Mai 1945, der das Schloss bis auf die Grundmauern zerstörte.

Georg Ellinger erlebte die Vernichtung seines Werks nicht mehr, er wählte am 9. November 1939 den Freitod. Der Tod seiner Schwester und das Verbot, die Räume der Preußischen Staatsbibliothek zu betreten, in denen er sein Lebenswerk erarbeitet hatte, waren die entscheidenden Gründe zu diesem Schritt. In der Forschung hat sich die Rede von einem "tragischen Tod" Ellingers durchgesetzt. Er selbst hinterließ eine Erklärung, in der es heißt:

"Ich gehe freiwillig in den Tod, weil mir fast alles genommen worden ist, was den Inhalt meines Lebens gebildet und mir das Leben lebenswert gemacht hat. [...]. Er [der Tod] wird mir durch die Verhältnisse aufgezwungen, und ich kann daher nur zum kleinsten Teil für ihn verantwortlich gemacht werden. Infolgedessen darf ich mich der Gnade des Lenkers unserer Schicksale anvertrauen.

Ungeachtet alles dessen, was in den letzten Jahren geschehen ist, sterbe ich mit dem heißesten Wunsch für das Glück und die Wohlfahrt Deutschlands."

Es geht mir nicht darum, mit dieses Sätzen eines Toten Betroffenheit auszulösen - zur Betrachtung und Verarbeitung unserer Vergangenheit bedürfen wir der unerschrockenen Nüchternheit weit mehr als einer gefühlskorrekten Betroffenheit. Wohl aber halte ich es für angemessen, wenn die gegenwärtigen Debatten über das "Germanistenlexikon" und die Klagen einiger von ihm Betroffenen vor dem Hintergrund von Schicksalen wie denen Georg Ellingers betrachtet werden. Sie sind zahlreich.

Worum es mir aber eigentlich ging, war, Ihnen an drei kappen Beispielen zu zeigen, dass das "Internationale Germanistenlexikon" in der Tat ein "Unendliches" enthält, "eingefangen in einem Fachwerk endlicher Formeln", wie Theodor Litt formulierte - und dass es den Lesern mit einer Fülle von Hinweisen auf Quellen ermöglicht, sich von Leben, Arbeit und Leistung der Germanisten und ihrer Wissenschaft ein anschauliches Bild zu machen.

Titelbild

Christoph König (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. Drei Bände.
De Gruyter, Berlin 2002.
2500 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110154854

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