Partisanen des Geistes

Die Rückeroberung der Geisteswissenschaften

Von Reinhard BrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Reinhard Brandt

1. Asterix und Obelix und Don Pelayo, oder: "Der Geist kocht alles"

Wir sind friedliche Partisanen, "partigiani" des Geistes, unsere Vorbilder sind in erster Linie die beiden gallischen Helden Asterix und Obelix. Es ist den Kindern, die von ihnen lesen und die sie bewundern, häufig gar nicht bekannt, dass die Fußnoten früherer Aufsätze und Bücher nicht mit arabischen Ziffern durchnumeriert, sondern mit zwei verschiedenen Zeichen versehen wurden; die ersten drei oder vier Fußnoten mit "asterisci", kleinen Sternen, und die dann folgenden mit "obelisci", kleinen Spießen (von griechisch: "obelos", "Spieß"), Obelisken mit einem Querstrich, versehen.

Diese älteste Anmerkungskultur geht, wie der Name zeigt, auf Asterix und Obelix zurück, die gemeinsam gallische Texte mit Anmerkungen herausgaben, im ersten Arbeitsgang Asterix, dann nachfolgend Obelix. Der Zaubertrank ist natürlich eine kindliche Verbildlichung des Geistes unserer Wissenschaft, "spiritus durissima coquit" oder auch, besser, "spiritus omnia coquit", "der Geist kocht das Härteste oder auch: alles" - das war ihre Losung. Sie haben gegen die römische Besatzungsmacht gekämpft, nicht erfolgreich, aber doch mit unvergänglichem Heroismus. Die Besatzungsmächte der heutigen Geisteswissenschaften sind nicht mehr die Römer, Cäsar und seine Nachfolger, sondern die Gleichmacher: die Didaktiker, die Pädagogen und die Egalisierer der Verwaltung.

Der Untertitel spielt an auf die spanische "reconquista", die von einem Winkel in den Pyrenäen in Kantabrien ausging und 1492 mit der Niederlage der Araber endete. Unser Ziel und unsere Mittel sind humaner als die des Don Pelayo und seiner Nachfahren, der "reyes católicos", der "katholischen Könige", und die Rückeroberung sollte, ojalá, nicht fast 800 Jahre dauern. Die Zeit drängt, es muss gehandelt werden, jetzt.

Woher kommen wir, wer sind wir, und wohin gehen wir? Die folgende Antwort auf diese und andere Fragen zerfällt in drei Teile. Zuerst suchen wir, ausgehend von der geheimen Logik in unseren Vorlesungsverzeichnissen, die Geistes- oder Kultur- und Gesellschaftswissenschaften aus ihrer Differenz zur Mathematik und zu den Naturwissenschaften zu bestimmen. Diese Differenz gibt es erst in der Neuzeit, nicht in der Antike und im Mittelalter. Zweitens: Wer sind wir? Nichts, wenn sich die Tendenzen der Zerstörung fortsetzen; aber warum nicht? Warum sollen sich diese Tendenzen nicht in Gottes Namen durchsetzen? Wozu sind wir gut? Zur Selbstbeschäftigung? Auf diese Frage wird eine Antwort gesucht. Und drittens: Wohin gehen wir? Natürlich der Sonne entgegen, der Rettung. In diesem letzten Teil wird über Taktik und Strategie der Rückeroberung beraten.

2. Die verborgene Vernunft im Vorlesungsverzeichnis.

Faust beginnt seinen Abschied vom Mittelalter mit dem Lamento: "Habe nun ach, Philosophie / Medizin und Juristerei / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert mit heißem Bemühen [...]". Das sind die vier Fakultäten der alteuropäischen Universität, die an vielen Orten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beibehalten wurden: Drei obere Fakultäten in festgelegter Reihenfolge, und dann die Philosophie als untere, einführende Fakultät, ehedem die "artes liberales". An die Stelle traten nach 1945 variable Sektionen oder Fachbereiche oder auch Fakultäten ohne die alte Viererordnung; auf diese Weise konnten die administrativen und wissenschaftlichen Aufgaben leichter gelöst werden als in den häufig zu Mammutgebilden angewachsenen alten Fakultäten. Nun zwingt wenn nicht die Vernunft, so doch spätestens der Druck des Vorlesungsverzeichnisses zu irgendeiner Ordnung unter den fünfzehn oder zwanzig Sektionen. Soll man dem Alphabet folgen? Warum? Soll die Verwaltung würfeln? Die Verwaltung würfelt nicht. Was tun? Man nutzte in dieser Not häufig eine Einteilung, die sich in der Diskussion über den Charakter der unterschiedlichen Wissenschaften der Philosophischen Fakultät im 19. Jahrhundert eingebürgert hatte, der Gliederung in Geistes- oder Kultur- oder Gesellschaftswissenschaften auf der einen Seite und Naturwissenschaften auf der anderen; bei den letzteren konnte auch die Medizin eingemogelt werden, die Betriebs- und Volkswirtschaft ließ sich ebenso wie die Jurisprudenz und Theologie den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zuteilen, zumal diese Ordnung ohne alle Folgen für die Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht der einzelnen Fächer und ihrer Vertreter blieb. Die reine Mathematik, die weder dem einen noch dem anderen Bereich angehört, wurde in die Mitte gestellt.

Die Fächer oder Institute innerhalb dieser drei (als solche nicht gekennzeichneten) Gebiete werden insgesamt durchgehend nummeriert, also rein seriell angeordnet und können anhand der zugehörigen Ziffer problemlos identifiziert werden. So ergeben sich zwei Konzepte mit unterschiedlicher Logik, erstens das (verschwiegene) begriffliche, zweitens das (offen abgezählte) numerische. Natürlich fehlt neben den Geistes- oder Kulturwissenschaften, der Mathematik und den Naturwissenschaften die vierte Disziplin, die über das Ganze und die einzelnen Platzierungen reflektiert, die Philosophie, die Erkenntnis der Erkenntnis. Aber das ist ein anderes Thema, über das in unserem nachnachnatürlichen, postmetaphysischen Zeitalter nicht mehr nachgedacht wird.

Die drei Bereiche der Geisteswissenschaften, der Mathematik und der Naturwissenschaften unterscheiden sich durch ihre Gegenstände und, bei identischen Gegenständen, durch ihre Sichtweise. Während die Objekte der reinen Mathematik nicht raumzeitlicher Natur sind, sondern Kreationen oder Realitäten ohne Welt, beziehen sich Geistes- und Naturwissenschaften auf unsere eine Raumzeitwelt in unterschiedlicher Weise.

Mathematik: Wie immer der Gegenstandsbereich gekennzeichnet und interpretiert wird, Kants Versuch, die Geometrie zur a priori-Wissenschaft der Anschauungsform des Raumes und damit des realen Weltraumes zu machen, ist m. E. gescheitert, desgleichen der Versuch, die Arithmetik a priori auf die Zeitform zu beziehen. Nun zu den Geistes- und Naturwissenschaften.

Gegenstand der ersteren sind geist-, also urteilsvermittelte Handlungen und deren Produkte, der Gegenstand der Naturwissenschaften ist dagegen die unvermittelte, materielle oder psychische Natur als solche. Die Objekte können identisch sein: Der Stuhl hier als Kulturprodukt oder als physikalisch bestimmter Körper. Die Gegenstände beider Wissenschaftsformen sind also in Raum und Zeit, aber auf unterschiedliche Weise. Die ersteren in einer, wie es in der Fachterminologie heißt, modalen Form, die zweiten in einer relationalen Form. Die erstere ist im Zeitlichen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geordnet, die zweite nach den Relationen "gleichzeitig" oder "früher-später". Alles menschliche Handeln geschieht aus bestimmten Welt- und Selbsterfahrungen in der Vergangenheit, einer gegenwärtigen Reflexion und einer Zwecksetzung für die Zukunft. Daher sind alle Geistes- und Kulturwissenschaften befasst mit menschlichen Handlungen und Erzeugnissen auf der historischen Zeitachse der jeweiligen Vergangenheit, jeweiligen Gegenwart und jeweiligen Zukunft, alles einmalig und unwiederholbar. Jede menschliche Handlung und ihr Ergebnis hätten zudem anders sein können: Cäsar hätte den Rubikon nicht überschritten, wenn ihm vorher ein Dachziegel auf den Kopf gefallen wäre, ein Gichtanfall ihn gelähmt oder aber ein übler Traum ihm alle Laune verdorben hätte, nach den blamablen Kämpfen gegen die Gallier (s. o.) nach Rom zu gehen und Kaiser zu werden. Da wir keine Erkenntnis des Weltganzen haben, die die drei genannten Hinderungsgründe ausschließen könnte und so das tatsächliche Überschreiten des Rubikon als notwendig erkennen ließe, sind alle geschichtlichen Ereignisse für uns kontingent, jedes Gedicht, jedes philosophische System, jeder Krieg und jeder Friede - ein Meteorit, eine Sintflut, und nichts wäre zustande gekommen.

In früheren Systemen konnte die Kontingenz theologisch aufgehoben werden: vérités de fait sind für Gott vérités nécessaires, seit Kant und Hume m. E. nicht mehr möglich.

Die Naturwissenschaft dagegen beruht auf der neuzeitlichen Entdeckung, dass sich Ereigniszusammenhänge als Typen aus dem singulären, historischen Hier und Jetzt isolieren und rein funktional näher betrachten und bestimmen lassen: Wenn a, dann b, immer bzw. notwendig zugleich bzw. danach. Dieser funktionale Zusammenhang lässt sich durch angewandte Mathematik exakt bestimmen und im Prinzip experimentell überprüfen, d. h. an jedem beliebigen Zeit-Raum-Ort wiederholen. Die beliebige Wiederholbarkeit der Funktionen zwischen Ereignistypen in der relationalen Ordnung markiert den Überschritt von der Naturwissenschaft zur Technik, denn die Technik ist nichts anderes als das nutzvoll eingesetzte Experiment. Zugleich hängt die Wiederholbarkeit an kontingenten Faktoren des realen Geschichtsablaufs - jedes Experiment kann durch ein Erdbeben, einen Gichtanfall oder einen bösen Traum des Experimentators verhindert oder gestört werden.

Alles Geschehen auf der historischen Zeitachse soll dieser Gesetzlichkeit unterworfen sein, sowohl das Überschreiten des Rubikon wie auch der üble Traum, der eben dies verhindert hätte. Die Gegenstände der Naturwissenschaft sind Typen; die Wahrheit der Aussage wird dadurch nicht tangiert, dass jedes faktische Laborexperiment, jede Instanziierung der Typen, durch ein Erdbeben - zufällig - verhindert wird.

Beide Wissenschaften handeln also von der einen Raum-Zeit-Welt, jedoch in verschiedenen Raum-Zeit-Formen. Als Wissenschaften erheben sie beide den Anspruch auf Objektivität und Allgemeinheit, wenn auch in wiederum unterschiedlicher Weise. Gemeinsam ist beiden der Ausschluss des bloß Privaten aus der Erkenntnis, eine unglaubliche Kulturleistung, die schon in Griechenland als die Stiftung einer gemeinsamen Welt vernünftiger Personen entdeckt wurde. Der Kult des existentiellen Verstehens in der von Heidegger und Gadamer entwickelten Hermeneutik ist ein herber Rückfall hinter die Vernunftkultur, die schon von den Vorsokratikern als notwendig für die Anerkennung der Menschen als Menschen erkannt wurde. Geisteswissenschaften suchen als solche kein Verstehen ("Ich verstehe meine Katze so gut, das können Sie gar nicht verstehen"; "Wir haben Hölderlin immer noch nicht verstanden"; etc. etc.), sondern erstens Kennerschaft der jeweiligen Materie und zweitens genaue Kenntnis über den Stand der bisherigen Forschung. Beides ist kontrollierbar, ob es sich um die Fugen Bachs, die neueren Produkte der bildenden Künste in Südamerika oder um die Prosa des Herrn Jourdain handelt. Die Kriterien der Wissenschaftlichkeit in den Naturwissenschaften sind die Kenntnis der einschlägigen angewandten Mathematik und der Experimente. Die Aussagen in den beiden Wissenschaften und sogar in der Mathematik sind nur provisorisch, weil sie prinzipiell bis hin zum Einmaleins kritisierbar sind.

Beide Wissenschaftsformen beziehen sich, wie wir sehen, auf die eine Welt und damit auf dieselben Objekte, jedoch in unterschiedlicher Form. Die eine lässt sich nicht auf die andere reduzieren. Die genaueste chemische Analyse dieser schwarzen Buchstaben, die exakteste Gewichtsbestimmung auf der vorher weißen Seite, die feinste Tomographie der Buchstaben "B-u-c-h-s-t-a-b-e-n" führt niemals, lieber Herr Singer, zutage, was dieses bejahende oder verneinende Urteil besagt. Die Geisteswissenschaften lassen sich nicht in die Naturwissenschaften überführen, aber auch umgekehrt: Mit der Biographie von Newton oder Kant haben wir noch nichts von der Gravitation oder der Transzendentalphilosophie erkannt, wie Wilhelm Dilthey wohl meinte.

Die Geistes- oder Kulturwissenschaften sind nicht auf Naturwissenschaften reduzierbar, der Geist geht nicht auf im Gehirn, sondern ermöglicht umgekehrt erst dessen Begriff (nicht nur Wort!) und die Wissenschaft von ihm. Aber warum sollten sie nicht allein wegen dieser Widerborstigkeit eliminiert werden? Was soll uns Homer, wenn wir in Kürze zum Mars fliegen? Gallische Dörfer lassen sich ohne jede eigene Gefährdung aus zehntausend Meter Höhe einfach ausradieren, ohne peinliche Kommentare und Fußnoten.

3. Die Vernichtung der Geisteswissenschaften - warum nicht?

Das alte Europa wird nicht von außen vernichtet, es gibt keine Hunnenstürme aus Asien und keine Gewalteinfälle von Wilden aus dem Westen. Wir erleben den Prozess der kulturellen Selbstaufhebung Europas ohne jede Intervention von außen. Beschränken wir uns auf die Geisteswissenschaften, obwohl Mathematik und Naturwissenschaften von derselben Krankheit zum Tode erfasst sind: Ein Bremer Mathematiker reist durch verschiedene Länder Südamerikas, um Studierende für sein Institut einzuwerben, ein Chemiker aus Siegen fliegt nach China, um begabte und arbeitsfähige Studenten der Chemie zu gewinnen. Um gute Germanisten und Lateiner in Grönland oder Afrika zu suchen, fehlt schlicht das Geld und die Aussicht auf Erfolg. Wie ist es zu dieser Agonie gekommen? Der seriösen wissenschaftlichen, mit Askese und Begeisterung verbundenen Ausbildung fehlt m. E. eine Schutzmacht. Das war zuerst die Kirche, danach war es der Nationalstaat, der seine Identität besonders durch blühende Gymnasien und Universitäten bestimmte (und sie dadurch auch bis zum Hitlertum pervertieren konnte). Der jetzige Verwaltungsstaat bestimmt sich in seiner Nicht-Identität als Standfläche von Firmen beliebiger Herkunft; die Universitäten zählen nur als Zulieferanten qualifizierter Arbeitskräfte der Unternehmen. Die unter sich konkurrierenden, nur am Eigenwohl interessierten Firmen können und wollen die staatliche Protektion eigenständiger Geistes- und Kulturwissenschaften nicht ersetzen - warum sollten sie? Einige Drittmittel ja, aber eine Garantie ist nicht möglich. Der Erosion von außen korrespondiert eine Zerstörung von innen durch Kollaborateure und arglose Mitläufer. Ein entscheidender Faktor in dieser inneren Erosion ist die Liquidierung der für die Kultur wichtigen Inhalte und ihre Ersetzung durch belanglose, schnell wechselnde Quisquilien. Die Kenntnis der Fremdsprachen nimmt dadurch rapide ab, dass nicht mehr auf dem europäischen gemeinsamen Fundus des Lateinischen aufgebaut werden kann; die Unfähigkeit, Bücher rasch zu lesen und in ihren entscheidenden Passagen zu erfassen, führt zu der perversen Ansammlung von einigen unterstrichenen Zitaten ohne Kenntnis des jeweiligen Werks im ganzen. Die wichtigsten Kollaborateure in der Zerstörung der seriösen, nicht beliebig austauschbaren Inhalte sind die Didaktiker und Pädagogen, die das Terrain unserer Fächer zunehmend besetzen. Das Studium künftiger Gymnasiallehrer wird dadurch ad absurdum geführt, dass sich die Studierenden nicht 8 oder 10 Semester ganz mit der Materie ihrer künftigen Fächer befassen können, sondern durch die Pädagogik semesterlang zwangsrekrutiert werden. Die Universitätspädagogen ihrerseits kennen weder die Inhalte der einzelnen Fächer auf Universitätsniveau noch können sie den praktischen Unterricht am Gymnasium vorwegnehmen; daraus wird man kühn zu schließen wagen: sie vermitteln Nichtigkeiten und sonst nichts. Mit der zunehmenden, von Pädagogen und Gewerkschaften betriebenen Gleichstellung aller Lehrer in der Besoldung (zynischerweise werden die um das gesellschaftliche Wohl so hoch verdienten Koch- und Fahrschullehrer von den Funktionären ausgeklammert!) wird das seit langem betriebene Vernichtungswerk vollendet werden. Statt kompetent zu werden für das globalisierte Weltbürgertum, wird mit der Vortäuschung einer Bildung für alle in Wirklichkeit die Provinzialisierung eines jeden betrieben; so wird die Gleichheit erreicht, die Gleichheit mit beliebigen Entwicklungsländern.

Die Vernichtung der eigenständigen Geistes- und Kulturwissenschaften - warum eigentlich nicht? Warum sollen wir nicht auf die Vermittlung von aktuellen Elementarkenntnissen nach Quizmanier, auf linguistische Tifteleien und die Bedürfnisse der Medien zusammenschnurren? Die pochende Frage: Wozu ist alles andere gut? diese Frage ist gut und vernünftig. Alle menschliche Tätigkeit zielt auf etwas, was gut ist oder gut scheint, darüber ist man sich seit Platon und Aristoteles auffällig einig. Man mag nun mit Platon und Aristoteles der Meinung sein, dass Erkenntnis an sich gut ist und nicht als Mittel für etwas anderes; das wird höflich angehört und in der Sache eisern abgelehnt. Die zweite Meinung, Erkenntnis sei Gottesdienst, weil sie die Weisheit Gottes in der Natur- und Menschenwelt lehre, auch von dieser, noch von Robert Boyle und Isaak Newton geteilten Meinung gilt: Angehört und abgelehnt. Die dritte Antwort dagegen trifft auf leuchtende Augen und offene Ohren: Wissenschaft ist gut für die Gesellschaft. Auch die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften? In ihnen reflektiere die Gesellschaft über sich selbst, heißt es, aber wir wiederholen die Frage: Wozu ist diese Selbsterkenntnis gut? Weil das Wissen und Nichtwissen, aus dem heraus im Privaten und in den Institutionen, in Wirtschaft und Politik gehandelt wird, immer schon wissenschaftlich vermittelt und durchleuchtet ist. Ökonomen und Politologen und Juristen haben ein vorzügliches Instrumentarium, mit dem das politische und ökonomische und rechtliche Handeln von Mugabe in Simbabwe oder George W. Bush in den USA analysiert wird. Gibt man dies an einer Stelle zu, folgt alles andere von selbst: Die gesamten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften gehören zu dem längst wissenschaftlich vermittelten und durchleuchteten Ensemble, in dem politisch und ökonomisch gehandelt wird, jedes Feuilleton und jede Fernsehanstalt weiß nur, was es tut, in einer wissenschaftlichen Vermittlung, der Mut der Richter gegen die Rückkehr des Faschismus, der Versuch, die Trennung der Gewalten zu bewahren, sind in einer systematischen und historischen Kenntnis der Sache begründet, die aus den Geistes- und Kulturwissenschaften kommt, der vierten Gewalt im Staat, die von der Beeinflussung durch die anderen Gewalten frei bleiben muss. Aus der inneren Konstitution der traditionellen, geographisch und historisch bedingten Fächer ergibt sich, welche Elemente für sie notwendig und welche hier und jetzt und morgen entbehrlich sind. Es ist unsere eigene Praxis, nicht die der Wirtschaft, das Studium als solches, nicht die Zuliefertätigkeit für die Firmen, die uns bestimmen, wenn sich die Universität nicht selbst aufgeben und zur Fachhochschule regredieren soll. Über ein Universitätsfach hinaus gibt es keine höhere Instanz im Land, insofern ist die Rede von Eliteuniversitäten eine bedenkliche Rückkehr zur Volksdemokratie.

4. Die Rückeroberung der Geisteswissenschaften

Hier ist guter Rat teuer. Was tun? Vielleicht sind zwei Dinge für den Anfang möglich und gar notwendig. Professuren sind mit einem Amtseid verbunden, in dem sich der künftige Beamte explizit oder implizit zum Erhalt und zur Förderung seines Faches in Forschung und Lehre verpflichtet. Dieser Amtseid verbietet die Mitarbeit an der Zerstörung des eigenen Faches durch die Verwaltung. Die unendlichen Fragebögen, mit denen die Verwaltung nach jahrhundertelanger Dienerschaft jetzt endlich die Professoren demütigt und ihrerseits in ihre Knechtschaft bringt, diese alles terrorisierenden Fragebögen sollten, wenn sie zur Fachvernichtung beitragen, jeden Abend unbeantwortet auf Lastwagen geladen und aus allen Landesuniversitäten in Sternkolonnen zum Ministerium zurücktransportiert werden. Damit würde zugleich die sonst verlorene Zeit für die eigene Forschung und für die sorgfältige Vorbereitung der Lehre zurückerobert werden.

Der zweite Vorschlag hat dieselbe rechtliche Grundlage; er besteht in der List, die didaktischen Zwangsveranstaltungen dadurch für den Geist zurückzugewinnen, dass sie sogleich auf Fachinhalte bezogen werden. Die als Fachdidaktik ausgehängte Übung wird dann für das ernsthafte Studium von Shakespearesonetten oder Schriften von James Joyce, von höherer Mathematik und theoretischer Physik umfunktioniert, weil die Befassung mit großer Literatur, mit Mathematik und Physik allemal die beste Didaktik ist: Wer sich mit eigenem Enthusiasmus in der Sache auskennt, kann die Schüler begeistern und damit das höchste Ziel des Unterrichts erreichen.

Das kann nur ein geringer Anfang sein, aber vielleicht beflügelt er die Phantasie, vielleicht kann dann, oh Allah, in Geheimbünden und offenem Widerstand die Rückeroberung der Geisteswissenschaften in noch weniger als 800 Jahren siegreich zu Ende geführt werden.

Vortrag, gehalten an der Ludwig-Maximilians-Universität München am 9. Februar 2004