Architektur lesen

Zur theoretischen Auseinandersetzung mit dem Werk des niederländischen Architekturbüros MVRDV

Von Jörg SeifertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Seifert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

MVRDV - dieses Kürzel steht für Winy Maas, Jacob van Rijs und Natalie de Vries, Gründer eines der zur Zeit erfolgreichsten global agierenden Architekturbüros in Rotterdam, das bereits für manche kontroverse Debatte gesorgt hat. Grund hierfür sind neben spektakulären Architekturentwürfen wie dem niederländischen Pavillon der Expo 2000 in Hannover vor allem die nicht unumstrittenen Interventionen auf verschiedensten kulturellen und gesellschaftlichen Ebenen - von Medienkunst und Bühnenbild über die Entwicklung von Planungssoftware bis hin zur unkonventionellen Thematisierung von Fragen wie globaler Ressourcenverteilung, Technikfolgen, Bevölkerungswachstum etc.

Mit "Reading MVRDV" ist nun im letzten Jahr eine Publikation erschienen, in der vorwiegend Architekturkritiker, Architekturhistoriker und Philosophen die Projekte und Ansätze des Rotterdamer Büros aus ihrer Sicht interpretieren. Erklärtes Ziel dieses Sammelbandes ist es, vor dem Hintergrund eines konstatierten "shift in the architecture discourse" ein "rereading" dieses Schaffens zu betreiben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit dem Buch ein polyperspektivisches und teilweise recht widersprüchliches Bild gezeichnet wird, das von den Brüchen und Leerstellen lebt und so den Leser fordert. Allerdings verlangt es stellenweise eine recht intensive Auseinandersetzung mit der allgemeinen Weltsicht der insgesamt neun Autoren - zum Teil auf Kosten des eigentlichen Gegenstandes.

Heterogenität ist allerdings nicht nur hinsichtlich der jeweiligen Autorenstandpunkte feststellbar, sondern ebenso in Bezug auf Umfang und Erscheinungsdatum der Beiträge. Diese reichen von knapp drei Seiten bei Stan Allen bis hin zu neunzehn Seiten im Fall von Bart Lootsma, dem mit Abstand längsten Aufsatz des Buches. Etwa die Hälfte der Beiträge sind Nachdrucke aus den Jahren 1997 bis 2002, deren Kombination mit den eigens für dieses Buch geschriebenen Texten aber durchaus erkenntnisfördernd ist. Sie ermöglicht es, das Spektrum an Meinungen nicht nur als "Raumwolke" nebeneinanderstehender Positionen, sondern auch als zeitlichen Prozess zu lesen und somit vielleicht - wenngleich mit aller Vorsicht hinsichtlich der Repräsentativität der abgebildeten Standpunkte - einen gewissen Perspektivwandel auszumachen: Mit zunehmend jüngeren Datum scheint sich die Kritik an Maas und seinem Team zu verstärken, was insofern interessant ist, als sie über Jahre hinweg von letzteren selbst herausgefordert wurde. Dieser Prozess könnte also Anzeichen dafür sein, dass das Konzept der Rotterdamer Provokateure aufgeht.

Eine Stimme vermisst man allerdings in diesem Buch, wenn man die Diskussion der letzten Jahre zu Architektur, Städtebau und speziell der Forschung auf diesem Gebiet mitverfolgt hat: Als Mitautor angekündigt war u. a. auch Sanford Kwinter, Philosoph und Architekturtheoretiker aus Houston, Texas, der sich in der jüngeren Vergangenheit zum schärfsten Kritiker des niederländischen Architektentrios herauskristallisiert hat, nun aber leider doch nicht im Buch vertreten ist. Dies ist bedauerlich, denn es darf vermutet werden, dass ein polemisch kontroverser Essay im Stil eines Sanford Kwinter wesentlich dazu beigetragen hätte, "Meinungen zu aktivieren", wie Maas selbst oft das Ziel seiner Aktivitäten umreißt.

Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass die neun Beiträge in ihrer jetzigen Zusammenstellung nicht hinreichend Potential für eine vielschichtige Debatte beinhalten. Der Einstieg ist dem Architekturkritiker und Leiter des Niederländischen Architekturinstituts in Rotterdam, Aaron Betsky vorbehalten. Dieser stellt in seinem sieben Seiten umfassenden Beitrag einen Bezug zwischen MVRDV und dem mittlerweile zum Kult avancierten Kinofilm "The Matrix" her und spielt damit auf den Umgang der Architekten mit Unmengen von Zahlenmaterial an. Nach der Auffassung von Betsky stellen MVRDV die Frage nach einer angemessenen Architektur für das Informationszeitalter.

Anhand ausgewählter Projekte versucht er, Spezifisches herauszustellen, indem er z. B. überzeugend zwischen MVRDV und Zeitgenossen wie den "Blobmeistern" differenziert. Im Gegensatz zu letzteren, die das neue Potential des Computers ausreizen, um nahezu jede Form zu generieren, erlaubt die Manipulierbarkeit der Daten MVRDV, Architektur als eine Form von Forschung aufzufassen. Diese Möglichkeit nutzen die Architekten um Winy Maas dafür, Argumente für öffentliche Meinungsbildungsprozesse zu liefern. Betsky wertet diese Belebung des politischen wie auch des moralischen Diskurses mittels architektonischer Inputs als spezifisches Verdienst von MVRDV.

Mit der "hungry box" und dem "endless interior" benennt er allerdings zwei vermeintlich charakteristische Strategien, die seines Erachtens wiederkehrende Motive sämtlicher Arbeiten seit den frühen neunziger Jahren darstellten. Dieser Ansatz Betskys verweist auf den ästhetischen Diskurs und lässt einen hermeneutischen Deutungsversuch vermuten. Das mag für den Gegenstandbereich der Architektur zunächst einmal naheliegend sein, allerdings werden hier sowohl für Fragen des Entwurfs als auch für Studien und Forschungen grundsätzlich gleiche Motive und Prinzipien angenommen. Für Betsky scheinen die Grenzen zwischen Forschung und Entwurf ebenso verwischt zu sein wie zwischen Abstrakt- und Konkrektheit, zwischen Realem und Digitalem.

Die gesuchten Assoziationen zwischen MVRDV und "The Matrix", auf die Betsky am Schluss seines Beitrags zurückkommt, scheinen aber zu vordergründiger Natur, als dass eine weitere Vertiefung das "rereading" vorantreiben könnte. Offensichtlich dient dieser Vergleich auch lediglich als Aufhänger im feuilletonistischen Sinn. Trotzdem scheint die Verlockung groß, gemäß dem anhaltenden Trend medialer Reflexionen zum Informationszeitalter stark auf die Frage nach dem Verhältnis von Realem und Digitalen bei MVRDV abzuzielen. So kommt die weitaus wichtigere Frage nach dem Verhältnis von "moral and normal", nach dem Verhältnis von Ästhetik und Ethik leider etwas zu kurz.

Der sich anschließende Beitrag von Bart Lootsma stellt nicht nur aufgrund seines Umfangs die intensivste Auseinandersetzung mit dem Gegenstand dar. Es handelt sich hier um eine fundierte und differenzierte Betrachtung der Arbeiten von MVRDV, der zugrundegelegten Prinzipien und Motive wie auch der gesellschaftlichen Hintergründe. Fast zwangsläufig beginnt Lootsma mit einer Betrachtung der sogenannten "Datascapes" - Visualisierungen von Datenmengen, die so charakteristisch für dieses Büro sind. Dabei differenziert er zwischen ihrem Einsatz als Werkzeug im klassischen Designprozess des Architekten, der in den Niederlanden mehr als anderswo von Dialog und Verhandlungen aller Beteiligten geprägt ist, und ihrer Verwendung in größeren Maßstäben.

Anschließend geht er auf die massive Kritik an MVRDVs "Datascapes" ein und verdeutlicht, dass diese zum Großteil auf dem Missverständnis einer definitiven Fehlinterpretation als direkte Entwurfs- und Designvorschläge beruht. Konfusion sei entstanden, weil MVRDV zu den essenziellen Fragen des Modernismus - dem Verhältnis von Architektur, Planung, Politik und alltäglichem Leben - zurückgekehrt seien, als man sich gerade an den Rückzug der Architektur auf inhaltsleere Sprachspielereien gewöhnt hatte. In der Arbeit von MVRDV sieht Lootsma eine Besinnung auf die Tradition von Le Corbusier, Ludwig Hilberseimer und anderen Vertretern der Moderne. Diese begreift er - wie auch an anderer Stelle (Latent Utopias) verdeutlicht - als Plädoyer für die Machbarkeit und Veränderbarkeit bestehender Verhältnisse, als Bekenntnis zum Glauben an die Lösbarkeit von Problemen, das im Gegensatz zu einer lethargisierten Postmoderne das "Prinzip Hoffnung" Ernst Blochs durchscheinen lasse. Den ausgesprochenen Optimismus würdigt Lootsma angesichts der Krise von Sozialstaat und Demokratie als überaus couragierte Haltung. Vorwürfe Sanford Kwinters, MVRDV füge sich der Vorherrschaft des Neoliberalismus, weist er als haltlos zurück, wofür er Projekte wie "Metacity/Datatown" oder "PigCity" heranzieht. Diese sieht er vor allem als didaktische Werkzeuge an, mit denen die Öffentlichkeit zu politischer Partizipation aufgerufen werden soll.

Zugleich erkennt er aber beim Projekt "3D City" grundsätzliche methodologische Probleme hinsichtlich der direkten Übernahme der in den Niederlanden der 1920er Jahre praktizierten statistischen Methoden. "3D City", das Lootsma als zwiespältigen Mix aus utopischer Stadt und Problemlösungsstrategie charakterisiert, zählt sicher nicht zu den bestechendsten Projekten von MVRDV, weshalb seine Kritik hier durchaus berechtigt sein dürfte.

Für Diskussion wird demgegenüber vermutlich seine Beurteilung des "REGIONMAKERs" sorgen, mit dem sich Maas und seine Kollegen intensiv der Frage der globalen Vernetztheit zuwenden. MVRDV versuchen, über die Entwicklung eines Sets von Softwarepaketen Regionen in Abhängigkeit von anderen erfassbar zu machen und durch Veränderungen von Parametern Szenarien zu entwickeln. Im Angesicht der Probleme, die einst der Club of Rome offenlegte, sieht Lootsma hierin zwar einen berechtigten "call for global planning", macht seine Kritik aber an einer derzeit fehlenden globalen Institution fest.

Im Gegensatz zu den Modernisten, deren Visionen stets mit konkreten politischen Konstellationen verbunden waren, werde beim Maasschen "REGIONMAKER" Politik zum bloßen Hintergrundgemurmel degradiert. Abgesehen von einem "naiven Fortschrittsglauben" impliziere dieses Modell - Lootsma spricht von einer Maschine, die finanziert und konstruiert werden muss - die Notwendigkeit zentraler Kontrolle in Gestalt eines Diktators oder einer repräsentativen Demokratie. Selbst einer versuchten Demokratisierung der Gesellschaft stehe das von Antonio Negri und Michael Hard proklamierte neue "Empire" entgegen, das sich aus einer Vielzahl privater Initiativen konstituiere und die repräsentativen Demokratien unterminiere. MVRDV nähmen globale Individualisierungsprozesse, die zur Krise der Demokratien geführt haben, nicht ernst.

Diese Einschätzung, mit der Lootsma auch teilweise die Kritik Kwinters relativiert, überrascht insofern, als der "REGIONMAKER" offensichtlich gerade versucht, auf das von Lootsma mehrfach thematisierte Spannungsfeld zwischen repräsentativen Demokratien, Globalisierung und Individualisierung zu reagieren. Deutlich wird dies u.a. an einem umfangreichen Zitat Lootsmas zu ebendiesem Themenkreis, das in die Herleitung des "REGIONMAKERs" einbezogen wurde (MVDRV: RheinRuhrCity. Die unentdeckte Metropole. The REGIONMAKER, 2002).

Selbstverständlich ist die Frage berechtigt, für welchen "User" der "REGIONMAKER" entwickelt wird, MVRDV geben aber eine Antwort, die man durchaus als Auseinandersetzung mit den von Lootsma, Beck und Giddens ausgemachten globalen Individualisierungstendenzen und dem "Empire" von Negri und Hard verstehen kann. Der "REGIONMAKER" wird - zumindest ist dies erklärter Anspruch seiner Entwickler - nie ein fertiges Produkt sein. Vielmehr soll er durch die Möglichkeit eines individualisierten Inputs vergleichbar mit dem Linux-Betriebssystem durch die Interaktion unterschiedlicher miteinander vernetzter Nutzer ständig angepasst und erweitert werden.

Bereits durch den an Lenins "Schto delat?" angelehnten Titel "What is (really) to be done?" hinterfragt Lootsma implizit den theoretischen Ansatz von Maas. Möglicherweise sieht er in ihm eine der Kräfte, die mit Hilfe der Universalmaschine Computer Leben auf Berechenbarkeit und Denken auf Rechnen zu reduzieren versuchen, um letztlich "Wirklichkeit gleichzusetzen mit der Gesamtheit aller ihrer möglichen Simulationen", was nach Götz Großklaus einen "mentalen Schock" auslösen könnte (Großklaus, Medien-Zeit Medien-Raum). Andererseits wäre es auch denkbar, dass Lootsma die Vorstellung einer "Global-Village-Community" McLuhanscher Natur schlichtweg suspekt erscheint.

Auszuschließen ist allerdings auch nicht, dass sich Lootsma auf eine ältere Version des "REGIOMAKERs" bezieht. Diese Vermutung wird duch die Tatsache bestärkt, dass MVRDV ihre Projekte teilweise präsentieren, bevor sie komplett ausgearbeitet sind. So wurde der "REGIONMAKER" auch zunächst als Regionmixer vorgestellt (vgl. hierzu auch Lootsma, Latent Utopias).

Lootsmas Aufsatz, der den Sammelband wesentlich mitprägt, folgen die drei kurzen Texte von Irénée Scalbert, Jean Attali und Stan Allen, die zusammen nicht einmal zwei Drittel des Lootsmaschen Beitrags einnehmen. Dementsprechend macht auch ein direkter Vergleich dieser Positionen mit denen Lootsmas wenig Sinn. Dennoch lohnt es sich, diese Seiten nicht einfach zu überblättern, denn zumindest Attalis und Allens Part beinhalten äußerst interessante Perspektiven auf die Arbeit von MVRDV.

Demgegenüber ist der Beitrag Irénée Scalberts - ein Nachdruck aus dem "Contemporary Magazine" von Februar 2002 - vom Fatalismus Francis Fukuyamas durchdrungen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch vom "Ende der Geschichte" auszugehen, dürfte zehn Jahre nach Fukuyama, der dieses Schlagwort seinerzeit im Angesicht des Zusammenbruchs des kommunistischen Systems prägte, weder eine neue Sichtweise auf die Architektur allgemein noch auf die Projekte und Entwürfe von Winy Maas bringen.

Wenngleich also die Argumentation, dass Dominanz der Ökonomie das Ende der Geschichte und damit auch der Architektur mit ästhetischem Anspruch bedeute, zu kurz greift, verdeutlicht Scalbert dennoch, dass die Wohnbauten von MVRDV statt des "großen Wurfs" eines Künstlers Ausdruck umfangreicher "frozen negociations" verschiedener am Bau Beteiligter darstellen. Sieht Scalbert also Maas auch als Mitspieler im neoliberalen Spiel an, der sich an den "neoliberalen Dämpfen berauscht" - wie Kwinter dies einmal als polemische Kritik formuliert hatte? Dies ist unwahrscheinlich, denn die Vorgehensweise von MVRDV wird als folgerichtige Reaktion auf die vermeintlichen Zeichen der Zeit dargestellt. Braucht es aber tatsächlich die zum historischen Nullpunkt stilisierte Vorherrschaft der Marktkräfte, um Dialog, Verhandlung und Kooperation mit den Akteuren eines Bauvorhabens zu legitimieren?

Von einer völlig anderen Seite nähert sich der französische Philosoph und Architekturkritiker Jean Attali den Ansätzen von MVRDV. Sein Beitrag ist sehr gut geeignet, diese kritisch zu diskutieren und die Motivationen der Architekten zu hinterfragen. Mit einem Zitat von Marcel Proust einleitend, vergleicht Attali Winy Maas implizit mit einem Militärstrategen und attestiert dem "violently multiplying agent" ein diabolisches Talent, aufgrund dessen es ihm gelänge, Bilder zu produzieren, die zugleich abschreckend und fesselnd seien.

Abgesehen von der Anerkennung Maas'scher Kreativität wechselt die Polemik Attalis von äußerst subtiler Kritik - wenn man beispielsweise die Wortwahl beim Vergleich Maas/Koolhaas betrachtet - bis zu Verrissattitüden hinsichtlich der Publikationen "FARMAX", "Metacity/Datatown" und "Costa Iberica". Diese Rhetorik widerspiegelt die offensichtliche Zwiespältigkeit, mit der Attali der Arbeit von Maas gegenübersteht. Sicherlich ist hierfür nicht unerheblich, dass Attali mehrfach mit Rem Koolhaas zusammengearbeitet hat. Diese Form der Kritik an Maas, die versucht, den ehemaligen "Koolhaas-Schüler" Maas gegenüber seinem "Ex-Meister" abzuwerten, ist - bis hin zu Kwinters Vorwurf der verflachten Kopie - weder neu noch unparteiisch.

Selbstverständlich stellt Attali eine essentielle Frage im Zusammenhang mit den Megastrukturen MVRDVs: Ist es überhaupt sinnvoll, Verdichtung zu propagieren und großmaßstäblich zu denken, wenn man nachhaltige Problemlösungen anstrebt: "To protect nature, let's be Metabolists!"? Attali neigt offensichtlich dazu, diese Frage grundsätzlich zu verneinen, sonst würde er nicht Projekte wie "Metacity/Datatown" mit einem "Pille-danach-Effekt" konterkarieren. Er scheint jedoch zu übersehen, dass Maas gerade nicht die Risiken des Wachstums herunterspielt und so etwa Investoren mobilisiert - wie Jos Bosman wohl eher rhetorisch fragt. Indem Maas gleichzeitig auch die Konsequenzen einer verdichteten Megastruktur im Hinblick auf natürliche Ressourcen wie Wasser und Sauerstoff aufzeigt, wird klar, dass seine Szenarien - wie schon in "Urban Research: Biopsy and Density" erörtert - eben nur als dialektische Thesen, als Mittel zur Problematisierung, als Initiationsversuch eines möglichst breiten Dialogs dienen. Nicht zuletzt aufgrund des begrenzten Umfangs seines Beitrags bleibt die Kritik Attalis streckenweise kryptisch, was ihr aber gerade deshalb ein gewisses Potential verleiht, weitere Debatten anzuregen.

Dagegen birgt der sich anschließende, sehr kurze, ursprünglich in "Assemblage" veröffentlichte Beitrag von Stan Allen weniger Zündstoff und Diskussionsanstöße. Seine Aufnahme in den vorliegenden Band ist dennoch bereichernd, zeigt sie doch das breite Spektrum an Meinungen über MVRDV auf. Wie kein anderer bringt der Text die Faszination des Autors für die unkonventionelle Arbeitsweise von MVRDV zum Ausdruck. Obwohl der Beitrag auf Dezember 1997 datiert ist, kannte Allen seinerzeit offensichtlich die 1998 erschienene Publikation "FARMAX", aus der er zitiert und in der die zentralen Prinzipien der Methodik von Maas, van Rijs und de Vries erstmals vorgestellt werden. Mag die Begeisterung teilweise auf die Neuartigkeit zu jener Zeit zurückzuführen sein, so wäre es interessant zu wissen, wie Stan Allen heute die Arbeit von Maas und seinen Kollegen beurteilt.

Gerade im Spannungsfeld der Beiträge von Allen und Attali scheint sich der bereits eingangs angesprochene Perspektivwechsel auf MVRDV abzuzeichnen - von der Faszination zur Zunahme kritischer Stimmen, was übrigens auch ein Vergleich des Beitrags von Bart Lootsma mit seinen eigenen Äußerungen an früherer Stelle untermauert. Greifen die Ansätze von MVRDV zu kurz? Fehlt auf Dauer das Innovationspotential, wie Irene Lund in "HUNCH 3" behauptet - eine Kritik, der wiederum Philippe Morel auf seine spezifische Art begegnet? Dies sind grundlegende Fragen, die "Reading MVRDV" provoziert, deren Beantwortung aber, wenn überhaupt, nur vorläufig möglich ist, hängt sie doch ganz wesentlich von der weiteren Arbeit des Rotterdamer Architektenteams ab.

Diesem Trio an auffallend kurzen Statements folgen nun wiederum drei etwas längere Abhandlungen, die in ihrem Umfang in etwa dem "Matrix-Aufsatz" Aaron Betskys entsprechen. Dabei werden im Kontrast der beiden aufeinanderfolgenden Texte von Jos Bosman und Alain Guiheux neue, bisher im Buch noch nicht vertiefte Aspekte fokussiert. Sowohl der niederländische Architekturkritiker Bosman als auch der französische Architekt und Stadtplaner Guiheux - bis 2002 Kurator für Architektur am Centre Pompidou - setzen sich mit möglichen Traditionen von MVRDV sowie der Bedeutung der Form in ihren Projekten auseinander. Interessant hieran ist, dass beide von gegensätzlichen Prämissen ausgehen und folglich auch zu konträren Schlüssen kommen: Während Bosman in seinem erstmals 2000 in "Daidalos" veröffentlichten Aufsatz "Form follows fiction" offensichtlich die Form als Ergebnis eines Prozesses betrachtet, hat sie dagegen laut Guiheux heute als Objekt ihre Relevanz verloren.

Obwohl sich Bosman stärker als Guiheux mit dem diesbezüglich zentralen Text von MVRDV - der kurzen Erklärung zu den "Datascapes" in der Publikation "FARMAX: Excursions on Density" auseinandersetzt und diesen auch zitiert, wirkt seine Abwandlung des allseits bekannten, irrtümlicherweise oft Sullivan zugeschriebenen Zitats "Form follows function" nicht überzeugend hinsichtlich der Intentionen von Maas und seinem Team. Im MVRDV-Text aus "FARMAX" wird deutlich, dass es bei den Forschungsarbeiten dieses Büros nicht um klassische Formfindungsprozesse eines typischen Architektenentwurfs geht. Intuition soll durch Forschung ersetzt werden, indem die Form eine Extrapolation von Gesetzen und Anforderungen unter Maximalbedingungen darstellt. Wie auch schon Betskys Aufsatz andeutet, soll sie als Argument oder Hypothese gültige Normen und Moral hinterfragen. Die Form ist damit weniger Resultat als vielmehr Ausgangspunkt eines Prozesses, eines intendierten politisch-ethischen Dialogs, der die Grenzen des Architekturdiskurses sprengt. Will man die Dimension der Maasschen Forschungsprojekte ergründen, so sollte man nicht die Frage stellen, wem oder was die Form bei MVRDV folgt, sondern richtiger: "What follows form?"

Insofern ist Alain Guiheux mit seinem Aufsatz "Systems" näher am Ball als Bosman. Dabei ist es nicht Guiheux´ Ziel, Architektur etwa aus dem Blickwinkel der Luhmannschen Systemtheorie zu betrachten, wie dies beispielsweise Michael Dürfeld an der UdK Berlin betreibt. Unter "System" versteht Guiheux - im Gegensatz zur repräsentativen - eine aktive Architektur, die auf Effekte jenseits ihrer selbst zielt. Seiner Ansicht nach hat Architektur heute nichts mehr mit Objekt- oder visueller Kunst zu tun.

Architektur, die der Kontemplation diene, sei überholt. Diese These erinnert entfernt an Walter Benjamins vielzitierten Kunstwerkaufsatz, zumal Guiheux auf die zahlreichen Alltagsarchitekturen, aber auch auf das Kino verweist, um - frei nach Benjamin - von der "auratischen" Architektur abzuheben. Im Verlaufe dieser Argumentation verortet er auch Winy Maas im Verhältnis zu Rem Koolhaas - ein Thema, das auch einige andere Autoren des Buches aufgreifen. Jos Bosman verteidigt z. B. Maas gegenüber dem unberechtigten Vorwurf, er hätte schlichtweg einige Ideen von Koolhaas kopiert.

Demgegenüber eröffnet Guiheux eine Opposition, die er am jeweiligen Verhältnis der Architekten zu Form und Objekt festmacht. Koolhaas, der die Architektur um ihrer selbst willen verteidige und für die Bewahrung der visuellen Form als Objekt eintrete, wird dabei - bezeichnenderweise gemeinsam mit Le Corbusier - MVRDV gegenübergestellt. Guiheux konstatiert einen Paradigmenwechsel der Architektur, ähnlich fundamental wie die Differenzierung der Kunst in Prä- und Post-Duchamp. Durch diese Radikalopposition wird MVRDV eine Bedeutung zugeschrieben, die in ihrer Ausschließlichkeit zwar fraglich bleibt, aber ein immenses Diskussionspotential birgt.

Beim Lesen von Guiheux´ Beitrag drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass der Text nicht ausschließlich dem "rereading" von MVRDV dient, sondern zugleich auch der Inauguration seines "post-theoretic-approach", der System und Repräsentation, Effekt und Form, Aktion und Objekt als Schwarzweißkategorien gegenüberstellt. Als Reaktion auf formale architektonische Kapriolen infolge der Konjunktur postmoderner Philosophie in Architektenkreisen durchaus verständlich, besteht allerdings bei einem solchen Ansatz, der bestrebt ist, jegliche Theorie aus der Architektur zu verbannen, die Gefahr, das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Bevor nun Winy Maas in gewohnt knapper Manier zum Schlusswort des Buches ansetzt, folgt den beiden Texten von Bosman und Guiheux mit "We are all experts now" ein letzter Beitrag, verfasst von Philippe Morel, einem Studenten der Ècole d´Architecture de Paris-Belleville und erstmals 2002 in "Art Press" abgedruckt. Dieser Text, vermutlich nahezu zeitgleich entstanden mit den eigens für "Reading MVRDV" verfassten Aufsätzen, zeugt von einer positiven Resonanz auf den Diskussionsgegenstand, der schon fast an Stan Allens Artikel, den ältesten der neun im Buch versammelten Beiträge, erinnert. Somit relativiert sich am Ende des kleinen Sammelbandes wiederum die eingangs der Rezension aufgestellte Hypothese einer mit zunehmend jüngerem Datum wachsenden Kritik an Maas und seinen Kollegen.

Mit einem erfrischenden Maß an Freiheit macht sich Morel an seine Interpretation von MVRDV. Hinsichtlich ihres Umgangs mit Daten wirkt die Argumentation allerdings unschlüssig. Die These, MVRDV unternähmen angeblich nichts mit den verwendeten Daten, außer der Veranschaulichung ihrer alltäglichen Omnipräsenz, stellt einen interessanten Ansatz dar, der allerdings nicht haltbar ist. Indem Morel wenige Seiten später Maas zitiert, der in seinen Szenarien eine Form des Studiums von Statistiken sieht, widerlegt Morel selbst seine vorherige Aussage vom "Ausstellen" des Datenüberflusses. Schließlich setzen der Entwurf von Szenarien und die Konstruktion von Gedankenexperimenten einen äußerst kreativen Umgang mit Daten und Statistiken voraus, um aus diesen Ausgangsmaterialien überzeugende Argumente und Thesen formen zu können. Diese Kreativität würdigt Morel auch wiederum und wertet die Arbeiten von MVRDV ferner als "rejecting specialization".

Damit verdeutlicht sein streckenweise provokativer Beitrag einen weiteren wesentlichen Aspekt der Projekte von MVRDV, der wiederholt für frischen Wind in den Segeln der Kritiker gesorgt hat: Zielgruppe ist oft nicht nur die Fachwelt, sondern auch die interessierte Öffentlichkeit. In diesem Zusammenhang wurde bereits mehrfach der Vorwurf mangelnder Tiefe der Studien und Szenarien laut - so zum Beispiel auch bei MVRDVs Part in "Stadtland Schweiz", zeitgleich erschienen mit "Reading MVRDV". Zugespitzt hat diese Form der Kritik Sanford Kwinter, der auf dem Urban Research Symposium in Wien die durchaus berechtigte Frage aufwarf, ob Architekten generell in der Lage seien, Wissen zu produzieren und Erkenntnisse zu gewinnen.

Bereits durch den Titel: "We are all experts now" spielt Morels Beitrag auf die geschilderte Problematik an. Bezeichnend ist dabei, dass diese Zeile zwar ebensogut Kwinters Feder entstammen könnte, der in "Mutations" ganz ähnlich argumentiert, Morel aber gerade in den "Datascapes" einen wesentlichen Bestandteil der Bestrebungen MVRDVs sieht, "structures that make up our society" herauszulösen. Dies wiederum ist für Kwinter die heute einzige Forschungslegitimation.

Die von MVRDV gewählte Methode, Plakativität als Kommunikationswerkzeug zu benutzen, macht Verkürzungen und Übersteigerungen unumgänglich. Folgt man der These von Roland Simon-Schaefer, wonach ein dialektischer Erkenntnisprozess immer diskursiv und die intendierte Einseitigkeit dialektischer Thesen notwendige Bedingung ist, dann kann man bei Maas, der sich in einem Interview ("DU", Dezember 2003) zur dialektischen Arbeitsweise bekannt hat, durchaus von einem Erkenntnisprozess sprechen. Zu klären wäre allerdings, inwiefern es ihm gelingt, einen derart offenen Diskurs zu instrumentalisieren, um zu einer Synthese im Sinne des klassischen Fichteschen Dreischritts zu gelangen.

Umso überraschter stellt man allerdings auf den letzten, Winy Maas vorbehaltenen Seiten des Buches fest, dass dieser hier "scheinbar richtungslose urbane Analysen" anspricht, welche Anfang des neuen Millenniums "als Forschung ausgegeben" worden seien. Ob Maas damit seine eigene, vorsichtige Verabschiedung vom Forschungsbegriff vorzubereiten sucht, weil er etwa nach Kwinters harscher Kritik in Wien kalte Füße bekommen hat oder ob dieser Satz als Seitenhieb auf Rem Koolhaas gedacht ist, der als erster umfangreiche urbane Analysen erstellte und zu diesem Zweck beispielsweise wochenlang Lagos mit dem Präsidentenhubschrauber überflog, darüber ließe sich vortrefflich spekulieren.

Im Übrigen legt der Maassche Text - streckenweise eine Aneinanderreihung von Grundsatzfragen - ein lebendiges Zeugnis vom umtriebigen Geist seines Autors ab. Der letzte Abschnitt "Devices", in dem auch die angesprochenen Analysen thematisiert werden, stellt eine nahezu wörtliche Übernahme aus dem "REGIONMAKER" dar. Möglicherweise könnten diese Sätze eine Zäsur in der Arbeitsweise, den Zielen und Motiven von MVRDV markieren, zumal sich wiederum Teile des "REGIONMAKERs" wie ein Manifest für das "Dritte Maschinenzeitalter" lesen. Ein abschließendes Urteil darüber, ob der "REGIONMAKER" letztlich leisten kann, was seine Entwickler erwarten, oder ob er zumindest der Regionalplanung ein brauchbares Werkzeug liefert, scheint derzeit verfrüht. Vielmehr sollte Winy Maas ein Aufschub zur Legitimierung seines Systems eingestanden werden. Somit bleibt mit Spannung abzuwarten, in welche Richtung sich der "REGIONMAKER" wie auch das Büro MVRDV insgesamt weiterentwickeln werden.

Graphisch kommt der konsequent türkisblau gehaltene Band relativ zurückhaltend daher. Dies mag zwar dem Lesen zuträglich sein, dürfte aber im Fall einer ersten Begegnung mit den Ideen und Bauten von MVRDV nicht befriedigen. Jeweils die linke der knapp 150 Seiten zeigt eine monochrome Abbildung realisierter Projekte und Studien. Eine Verknüpfung von Text und Bild erscheint zwar grundsätzlich sinnvoll, allerdings wird hier ein assoziativer Bilddiskurs geführt, der leider nicht weit über eine klassisch-architektonische Werkschau hinausgeht.

Von den insgesamt gut 60 Abbildungen und Grafiken thematisiert lediglich ein zu vernachlässigender Bruchteil die sonst von Maas & Co. bekannt provokativen Auseinandersetzungen mit Fragen hoher sozialer Relevanz. Dies enttäuscht insofern, als die eigenen Publikationen - wie z. B. "Metacity/Datatown" - einem logischen Bilddiskurs folgen und "Reading MVRDV" demgegenüber eine Chance verspielt. Auswahl und Zusammenstellung der Bilder werden leider nicht dem im Vorwort formulieren Anspruch gerecht, ein "rereading" unter dem Blickwinkel eines ausgemachten "call for a more social concious discourse within architecture" jenseits der spektakulären Bilder der MVRDV-Architektur zu betreiben.

Anstelle der zahlreichen, teilweise redundanten Fotografien von Einzelgebäuden wären in diesem Kontext Visualisierungen und Extrapolationen, wie man sie eben aus "Metacity/Datatown" kennt, weitaus aussagekräftiger gewesen. Eine umfangreichere Darstellung der Potentiale der Software "Functionmixer" und "REGIONMAKER" vermisst man ebenso wie zumindest einen Beleg für die vielversprechend klingenden, an anderer Stelle erwähnten Projekte "Climatizer" und "Ecologizer".

Auch wenn sich für den fachfremden Leser die zusätzliche Konsultation der hinsichtlich bildlicher Darstellungen weitaus großzügigeren Primärliteratur empfiehlt, war es sicher Programm der Herausgeber, den Schwerpunkt von "Reading MVRDV", auf die neun bzw. zehn Texte zu legen. Diese zeichnen - wie bereits eingangs erwähnt - in ihrer Summe ein facettenreiches, polyperspektivisches, nicht widerspruchsfreies Bild, wodurch es zweifelsohne gelingt, den Leser zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den Ideen, Projekten und umgesetzten Entwürfen von Maas, van Rijs und de Vries anzuregen.

Titelbild

Véronique Patteeuw (Hg.): Reading MVRDV.
NAI Publishers, Rotterdam 2003.
152 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 9056622870

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