Zwischen Anarchie, Autokratie und Ethik der Alterität

Zu Christoph Schmidts Hugo Ball-Studie

Von Michaela WillekeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michaela Willeke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie verhindert man den Umschlag radikaler Anarchie in Selbstbehauptung und Gewalt, den Umschlag radikaler Freiheit in Beliebigkeit und Dezisionismus? Diese Frage bildet den unterschwelligen Leitfaden der Studie von Christoph Schmidt zu Hugo Balls (1886-1927) dadaistischer Ästhetik und seiner daraus entstandenen politisch-theologischen Auffassung. War doch Ball zunächst ein Verfechter der radikal-anarchistischen Avantgardekunst und Freiheit des Künstler-Subjekts, bevor er über die damit verbundene "Suspension" jeglicher Tradition und Normativität zu einer Neubestimmung des Subjekts als eines ethisch-religiösen gelangte.

Diese Entwicklung wird von Christoph Schmidt im Anschluss an Selbstaussagen Hugo Balls als ein "Chiasmus" gedeutet, der vom dionysischen Gott Nietzsches zum mystischen Gott des Pseudo-Dionysios Areopagita verläuft und in der Namenskongruenz "Dionysos" als zweifache Anrufung "DADA" seinen Angelpunkt hat:

"Die Logik dieses Lebenswegs von der radikal-anarchistischen Avantgardekunst zu einer 'mystischen Politik' auf der Grundlage des Katholizismus entspricht einem Chiasmus: es ist der Weg von Nietzsches Gott des dionysischen Seins - jenseits von Gut und Böse - zu Areopagitas Gott des Guten und der Liebe - jenseits des Seins."

Die Umkehrung der Nietzsche'schen "Umkehrung aller Werte" spiegelt sich in der lebensgeschichtlichen Konversion Hugo Balls, insofern dieser erkennt, dass sich das künstlerisch-nietzscheanische Streben nach Souveränität und das sozial-politische Machtstreben im "Willen zur Macht" treffen, und daher ein alternatives künstlerisches Selbstverständnis gefordert ist, das anstelle jener machtvollen Autonomie ein christlich-ethisches und mystisch-asketisches Lebensprogramm setzt. Eng gebunden an Balls Einschätzung der Kunst und des künstlerischen Subjekts sowie der gesellschaftlichen Zeitumstände, wird diese Kernthese im Verlauf der Studie expliziert.

Im Zusammenhang mit der Wende Hugo Balls zum Mystisch-Christlichen gewinnt zunächst u. a. dessen dadaistische Laut-Kunst und -Poesie einen wesentlich religiösen Zug: Das Spiel mit Worten und Lauten dient nicht nur dem poetischen Schaffen als solchem, sondern dem Versuch, die "mystischen Namen der Gottheit als den ekstatischen Ursprung aller Schönheit gleichsam auszubuchstabieren". Lautgedicht und apophatische Annäherung an Gott korrelieren hier miteinander, bevor letztlich die Konvergenz von Kunst und Mystik über die Ästhetik in die Biographie und politische Einstellung Balls hinausgreift.

Diese Bewegung von der Kunst zur Mystik, von der Anarchie zur Ethik, wird von Schmidt in einem weiter ausgreifenden Bogen zugleich als paradigmatischer Prozess der Negation und Rekonstruktion von Subjektivität gelesen, um am Beispiel Balls ein hinter dem postmodern-ästhetischen "Verschwinden des Subjekts" verborgenes Wiederauftauchen des Subjekts nachzuzeichnen. Dieses erneut sich manifestierende Subjekt ist jedoch kein souveränes Subjekt mehr, das sich im Sinne der Hegel'schen Dialektik von Selbstnegation und neuerlicher Selbstbestimmung konstituiert hätte, sondern ein der Nichtidentität weiterhin bewusstes und damit leidsensibles, verletzliches Subjekt. Deshalb rückt, so Schmidt, Balls neugewonnenes politisch-theologisches Selbstverständnis in offenkundige Frontstellung zur herrschafts- und souveränitätsorientierten "Politischen Theologie" eines Carl Schmitt, während sich eine Nähe zur "Neuen Politischen Theologie" zeigt, wie sie in den siebziger Jahren vom katholischen Theologen Johann Baptist Metz begründet worden ist. Hier stehen nämlich - als kritisches Korrektiv jeglicher Selbstbehauptung - das Eingedenken des Leids der Anderen und die messianische Sehnsucht nach Gerechtigkeit für die unschuldig Leidenden im Zentrum.

Ungeklärt bleibt aber zunächst für Ball, wie konkret vom ästhetisch-politisch-theologischen Widerstand gegen Staatsgewalt, Kapitalismus und Bürgerlichkeit zu einem konstruktiven, aber gewaltfreien Begriff von Subjektivität zu gelangen wäre, ohne erneut in die Schleife der Selbstbehauptung zu geraten. Wie also "die gefährliche Nähe der ästhetischen Souveränität zur diktatorischen Souveränität" getrennt gehalten werden kann. Die Lösung Balls sieht Schmidt in dessen Einsicht in die Mitschuld des Subjekts an der Dialektik der Gewalt grundgelegt, insofern sich für Ball das Subjekt stets nochmals kritisch gegen sein Selbstbehauptungsstreben zu verhalten hat, um nicht Herrschaft über andere, sondern Nächstenliebe zu üben: "Selbstkritik geht über die unter der Fassade der Selbstvernichtung sich entfaltende Selbstermächtigung hinaus, um diese Selbstvernichtung asketisch im Sinne einer absoluten Negation eines jeden Willens zur Herrschaft über den Anderen umzukehren in den Willen einer Selbsthingabe für den Anderen: in der Nächstenliebe."

Und Schmidt betont weiter: "Gegen die Souveränität, die sich als höchste Seinsmacht konstituiert und den Feind beseitigen will, setzt Ball den absoluten ethischen Ausnahmezustand einer Nächstenliebe, die diesem Souverän im Martyrium widersteht."

In apokalyptisch angeschärfter Form negiert Ball daher die Identifikation von Reich Gottes und Staat, um stattdessen eine Imitatio Dei zu fordern, welche die "Inkarnation" eben nicht - wie bei Carl Schmitt - staatstheoretisch fasst, sondern ethisch-existentiell: als Nachfolge.

Nachdem in der keine dreißig Seiten umfassenden Einleitung der ästhetische, gesellschaftliche, politisch-theologische und philosophische Rahmen der Studie prägnant abgesteckt worden ist, widmen sich die anschließenden Kapitel einer intensiven Auseinandersetzung mit Balls Werk. Nah am Textmaterial wird zunächst nachgezeichnet, wie Hugo Balls radikale Poesie - analog der kabbalistischen und romantischen Tradition - darauf aus ist, das Sprachmaterial in alchemistischer Manier zu zersetzen und auf höherer Ebene neu zusammenzubringen. So finden sich bei Ball z. B. Klanggedichte als poetische "Wolken" oder "schwebende Ansammlungen", die das entsemantisierte Sprachmaterial als reine Musikalität vermitteln und dabei auf die Buchstaben des Alphabets wie unendlich kombinierbare Töne zurückgreifen: "Wolken: elomen elomen lefitalominai / wolminuscaio / baumbala bunga / acycam glastula feirofim flinsi [...]" Sprache wird hier aber nicht nur ästhetisch transformiert, sondern zugleich in kritischer Absicht destruiert, um die Falle der Begrifflichkeit zu umgehen, die "das Individuelle als Exemplar unter ein semantisches Schema subsumiert".

Im weiteren Verlauf analysiert Schmitt zudem die Sprach- und Lautexperimente Balls unter Einbezug möglicher Referenzkontexte, wie z. B. Balls Einschätzung der damaligen geschichtlichen Ereignisse (insbesondere des Ersten Weltkriegs als apokalyptischer Katastrophe und Weltenbrand), die ähnlich dekonstruktiven künstlerischen Arbeiten eines Franz Marc, Pablo Picasso, Paul Klee, Vasilij Kandinsky u. a. oder die verwandten Sprachexperimente anderer Dadaisten (Tzara, Huelsenbeck) sowie schließlich literarische und religiöse Assoziationen (z. B. die Bibel, die romantische Tradition). Insbesondere verweist Schmidt hier nochmals auf die Nähe Balls zur Musik, wie sie in jenen Jahren von Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern u.a. im Hinblick auf eine "Suspension der Tonalität" entwickelt worden ist. Wie vielen künstlerischen, literarischen und musikalischen Ausdrucksformen jener Jahre während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg, liegt nämlich auch Balls künstlerischem Schaffen die Erfahrung einer doppelten Katastrophe zugrunde: So wie die umgebende Welt zerfällt, zersetzt sich auch das zuvor selbstverständliche sprachlich-ästhetische Material. Schmidt deutet dieses doppelte Destruktionsphänomen allerdings dialektisch, insofern bei Ball über die Destruktion der Sprache eine "heilige Sprache" gewonnen werde, die Apokalypse und Hoffnung auf Erlösung miteinander verbinde.

Unter der Überschrift "Die Explosion der Normaluhr" wird zudem expliziert, wie Ball in Anlehnung an Bergsons Zeittheorie und die Psychoanalyse darauf abzielt, wider die einengenden und zuweilen zerstörerischen Kräfte des rationalisierenden und homogenisierenden Intellekts ein "Tiefen-Ich" zu eruieren, das aus dem "symbolischen Zwangssystem der Sprache" bzw. aus jeglichem Ordnungssystem befreit ist. Die sich hierin manifestierende "politisch-emanzipatorische Dimension" bleibt bei Ball allerdings an ein ethisches Moment - den Blick auf den Menschen - gebunden, da Ball um die Gefahr eines ästhetischen Leerlaufs (z.B. im Formalismus der Dada-Rhetorik und radikal abstrakten Kunst) weiß. Seiner Ästhetik bleibt ein kritisch-konstruktives Moment inhärent, das über die Kritik und Destruktion hinaus an einem utopischen Fokus festhält: "Hugo Balls dadaistische Alchemie der Poesie setzt den Dichter in der Tat frei, indem sie ihn zunächst in eine phantastische Zeit verpflanzt, aber er möchte ihn auch aus diesem Paradies befreien, bevor es sich in ein neues Gefängnis verwandelt, das nur noch Zufluchtsort des 'unglücklichen Bewusstseins' ist und zuletzt zum einzigen Wohnort des Dichters wird: das poetische Exil als platonische Höhle."

Balls "Dialektik von Faktizität und Utopie" wird auf den nachfolgenden Seiten nochmals stärker in den Blick genommen: Mit Blick auf ästhetische (Kandinsky, Picasso, Busoni) und anarchistische (Bakunin, Kropotkin, Proudhon) Parallelbeispiele und dann in einer detaillierten Lektüre von Balls Roman "Flametti oder der Dandysmus der Armen" skizziert Schmidt, wie Ball die Gefahr auslotet, dass die "anarchistische Utopie der Freiheit" umschlägt in eine "autokratische Herrschaft", dass sich der Rebell als Diktator, der Himmel auf Erden plötzlich doch als eine weitere Hölle erweist. Am Beispiel von Balls Figur des anarchistischen Künstlergenies Flametti macht Schmidt deutlich:

"Die Ambivalenz von Anarchie und Souveränität, die schon das radikale posttraditionale Genie bestimmt, wiederholt sich in der Zwischenstellung des politischen Agenten zwischen dem Stifter der anarchistischen Pfingstgemeinde und dem Diktator der ihm hörigen Gefolgschaft."

Und schließlich kippt die ehemals in den Bereich des Heiligen gehobene Ästhetik Balls in eine bloße Farce um, welche die "Machtinstinkte des genialen Flametti" als grotesk-nihilistische "Selbstinszenierung der eigenen triebhaften Machtinstinkte" entlarvt.

Daher stellt sich die Frage, wie Ball von dieser Aporie der anarchistischen Utopie schließlich doch zu einem konstruktiven politisch-ethischen Zukunftsentwurf gelangt. Dieses wird in einem weiteren Kapitel als "Balls Weg vom ästhetischen Anarchismus zur politischen Theologie" untersucht, wobei Nietzsche und Bakunin als relevante Bezugspunkte der Reflexion Balls über das ästhetisch-politische Subjekt erneut mit in den Blick kommen. Ball gelangt hier, wie Schmidt aufweist, zu einem differenzierten Begriff Politischer Theologie, der zwischen einer "herrschaftlichen Theologie" und einer politisch engagierten "Theologie der Unterdrückten" unterscheidet und, wie im darauffolgenden Kapitel expliziert, als Basis einer "Syntax der neuen Gottes- und Menschenrechte" dient. Die Transformation des ästhetischen Ideals in eine politische Realität wird von Ball in der Etablierung einer "christlichen Republik" gesehen, die sich - in Nähe und Distanz zu den Ideen eines Thomas Münzer oder Wilhelm Weitling - der Differenz von Ideal und Wirklichkeit, Reich Gottes und dessen wirklicher "Inkarnation" bewusst ist und so vor seinem eigenen Umschlag in ein Terrorregime gefeit sein sollte.

Die hieraus resultierende "Revision der Idee der civitas Dei" seitens Balls, die auf eine "Revolutionierung" der Gesellschaft wie des Subjekts abzielt, wird schließlich anhand von Balls literarischem Hauptwerk, dem Roman "Tenderenda der Phantast", ausführlich nachgezeichnet. Erneut eng am Text, greift Schmidt eine Vielzahl der zuvor explizierten Aspekte nochmals auf, um diese am Textmaterial zu belegen und die Entwicklung und Intention Hugo Balls als Künstler, politisch-theologischer Intellektueller und Gesellschaftskritiker verdichtet deutlich werden zu lassen.

Vor dieser Folie ist es dann konsequent, dass abschließend ein weiteres Mal auf die anfängliche Nähe zwischen Hugo Ball und Carl Schmitt und die dann einsetzende Kritik Balls an Schmitts "Politischer Theologie" eingegangen wird. Als der Punkt ihrer Gemeinsamkeit und wesentlichsten Differenz erweist sich hier - wie zu erwarten - das Moment der Souveränität:

"Ball hat hier sehr genau gespürt, was ihm selbst als Konsequenz aus der Auseinandersetzung mit dem politisierten Genie früh klar geworden ist: die gefährliche Identifikation von einer partikularen politischen Macht mit einer theologischen Mission bzw. die Theologisierung der bestehenden Machtverhältnisse."

Der Heilige als "radikaler Kritiker der Macht" und der Souverän als "politisches Machtphänomen" werden deshalb von Ball genau auseinandergehalten, um hieraus schließlich eine Ethik der Alterität abzuleiten.

Damit kulminiert bei Hugo Ball, wie Schmidt in der Einleitung angedeutet hatte, das anarchistisch-ästhetische Subjekt in einem ethisch-religiösen Subjekt, das danach trachtet, die zunächst ästhetisch konzipierte Utopie in Anknüpfung an den Katholizismus und die mittelalterliche Mystik real-politisch umzusetzen. Im Rückblick erweist sich Hugo Balls Weg von der radikalen Anarchie - als Avantgardekunst - zu einer christlich-mystischen Politik bzw. "politischen Theologie" als eine Linie, deren philosophische Basis sich paradigmatisch als "Chiasmus" von Nietzsches dionysischem Willen der "Umwertung" und Dionysios Areopagitas apophatischem Gotteskonzept "jenseits des Seins" formiert: Als die "magische Lebenschiffre" des DADA, die sich für Hugo Ball aus der anfänglich radikalemanzipatorischen ästhetischen Subjektivität in ein ethisch-religiöses Subjektsein verwandelt. Aus dem Bruch mit aller Tradition und Konvention entsteht ein neues Selbstbewusstsein, dass schließlich sensibilisiert genug ist, um nicht erneut in autokratische Gewalt umzuschlagen. Und in der mystischen Gebetssprache des Dionysios Areopagita findet Ball ein Äquivalent zu seiner ästhetischen Sprache, die nun nicht mehr (nur) als anarchistisch-mystische Subversion der Ordnung fungiert, sondern als ultimative Form ethisch-ästhetischer und politisch-theologischer Herrschaftskritik:

"Das hymnische Sprechen ist aber in solcher Anrede Gottes zugleich die Anerkennung der höchsten Instanz der politischen Kritik der Verhältnisse dieser Welt, die in der Liebeshandlung allerdings schon den eschatologischen Horizont der wahren - absoluten - Revolution zu erkennen vermag."

Christoph Schmidt gelingt es in seiner Studie zur "Ästhetischen Subjektivität und politischen Theologie bei Hugo Ball", die in der Einleitung aufgezeigten Kontexte und Theoriehorizonte in seiner nah am Textmaterial geführten Analyse stets mitzureflektieren und so das Werk Hugo Balls für einen breiten Interessentenkreis zu erschließen. Die ästhetischen, gesellschaftlich-politischen, religiös-theologischen und zeitgeschichtlichen Koordinaten des Schaffens von Hugo Ball werden thematisiert, miteinander verknüpft und in einer die Studie durchziehenden Kernthese gebündelt, die am Primärmaterial ausführliche Belege findet. Insbesondere aber wird der Leser dafür gewonnen, die Texte von Hugo Ball selbst (erneut) zu lesen und sich ihrer bleibenden künstlerischen, zivilisationskritischen und politisch-theologischen Aktualität zu vergewissern.

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Christoph Schmidt: Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Subjektivität und politische Theologie bei Hugo Ball.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
166 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3895283134

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